„Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne. Polnische und deutschsprachige Autoren im Vergleich“ – so lautet der Titel der Doktorarbeit, die Agnieszka Hudzik zurzeit für den Druck vorbereitet. Die Verfasserin ist Alumna der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Potsdam. Noch vor der Veröffentlichung sprachen wir mit ihr über ihr Buch.

Interview von Dennis Schep

Wovon handelt deine Studie?

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Beobachtung, dass man die Prosa der Moderne häufig als einen Wendepunkt in der Literaturgeschichte betrachtet. Erich Auerbach etwa betont in seiner Abhandlung Mimesis das ungeheure Tempo der Veränderungen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen und mit denen sich die Schriftsteller konfrontiert sahen. Von der Zerrissenheit des Subjekts und dessen gestörter Weltwahrnehmung zu erzählen, erfordert Auerbach zufolge eine Abkehr von den narrativen Schemata der „klassischen“, realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts und die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln. Auch György Lukács hebt den bahnbrechenden Charakter der modernen Kunst hervor und benutzt dabei mit Bezug auf Bertolt Brecht die Kategorie des „radikal Neuen“. Ähnlich bezeichnet Bernd Witte die Prosa der Moderne in Anlehnung an Walter Benjamin als „radikales Schreiben“ und setzt sie dem realistischen Roman entgegen. Kurzum, da steckt ein bisschen viel Diskontinuitätspathos drin…

Mein Ziel war es daher, über die Prosa der Moderne anders als anhand der Vorstellung von einem radikalen Bruch zu erzählen. Dieser tradierte Gesamtentwurf, die Große Erzählung der Literaturgeschichte, lässt sich nämlich leicht relativieren und besitzt für die analytische Arbeit an den Texten letztlich wenig Erklärungswert, weshalb er, wie ich meine, durch einen zusätzlichen Interpretationsrahmen ergänzt werden kann oder sogar muss. Statt einer Fortschreibung von Narrativen des Umbruchs als Kennzeichen der Moderne – und damit auch der Prosa der Moderne – möchte ich in mikroliterarisch-komparatistischen Untersuchungen zeigen, dass es viele Facetten, Beobachtungsweisen und Erfahrungsformen sind, in denen sich die komplexen Veränderungen niedergeschlagen haben. Unter dem Leitbegriff der Verführung soll ein weites Spektrum ästhetiktheoretischer, sprach- und erkenntniskritischer, psychologischer, phänomenologischer und poetologischer Aspekte des modernen Erzählens entfaltet werden.

Warum ausgerechnet Verführung?

Zum einen ist es auffällig, dass die modernen Prosaschriftsteller diese Kategorie in ihren literarischen Texten und theoretischen Überlegungen nutzten, um die Finessen ihrer Auffassungen von der Kunst, vom Subjekt oder von der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Zum anderen gilt die Verführung als eine in der Ästhetik fest verankerte Kategorie, insbesondere seit ihrer Neudefinition in der Romantik vor allem durch Kierkegaard. Sie erlebte in den 1970er Jahren eine Wiederentdeckung in verschiedenen Disziplinen: in der Soziologie bei Barthes, Luhmann, Bourdieu und Baudrillard, in der Psychoanalyse z.B. bei Laplanche, in poststrukturalistischen Theorien vor allem bei Derrida und in der Literaturwissenschaft bei Felman und de Man. In diesem Zusammenhang war es für meine Überlegungen entscheidend, dass die Verführung vor allem bei Paul de Man bereits zur Beschreibung der Prosa der Moderne angewandt wurde. Die beiden Aspekte – also zum einen das Thema der Verführung in den modernen Prosawerken selbst, zum anderen die Anwendung der Kategorie Verführung zur Auslegung des modernen Erzählens – versuche ich miteinander zu verbinden.

Mit welchen Texten befasst du dich?

Die Formulierung „Prosa der Moderne“ verstehe ich in einem weiteren Sinne, nicht als terminus technicus für eine fest umrissene Epochenbezeichnung. Innerhalb der polnischen und deutschsprachigen Literatur wählte ich drei repräsentative Beispiele aus: Robert Musil (1880–1942), Bruno Schulz (1892–1942) und Witold Gombrowicz (1904–1969). Im Zentrum meines Interesses stehen der 1911 erschienene Erzählungsband Vereinigungen von Musil, Schulz’ Erzählung Der Komet aus den 1930er Jahren und der 1960 veröffentlichte Roman Pornographie von Gombrowicz, der notabene in der ersten Übersetzung ins Deutsche den Titel Verführung erhielt. Mit dieser Auswahl versuche ich, das ebenso breite wie vielfältige Spektrum der Moderne in Umrissen abzustecken.

Das multikulturelle Galizien prägte die Vorstellungskraft von Bruno Schulz. Sein Haus in Drohobytsch in der heutigen Ukraine. Foto: Agnieszka Hudzik

Die Hauptachse der Arbeit bildet die Beschäftigung mit den genannten Werken, die stets in komparatistischer Perspektive untersucht werden. Ich nehme Bezug auf das Gesamtwerk der genannten Autoren und ziehe zur Analyse auch Werke ihrer Zeitgenossen heran, u.a. Texte von Hermann Broch, M. Blecher, Franz Kafka, Gertrud Kolmar, Leo Perutz oder Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy. Dass hier viele SchriftstellerInnen vertreten sind, die mit der Topographie Mitteleuropas verbunden sind – einem maßgeblich von der Habsburgermonarchie geformten Kulturraum –, ist kein Zufall. Milan Kundera etwa wiederholt in mehreren seiner Essays die These, dass das Charakteristische der Prosa der Moderne – des modernen Romans – eng mit eben diesem Raum zusammenhängt.

Der Roman Pornographie erschien 1960, als Gombrowicz im Exil in Argentinien lebte. Sein Wohnhaus in Buenos Aires. Foto: Agnieszka Hudzik

Der Fokus auf polnisch- und deutschsprachige Werke verstellt jedoch nicht den Blick auf Vertreter der außereuropäischen Modernen wie z.B. Mário de Andrade. Außerdem führe ich literarische Werke aus anderen Epochen zum Vergleich an, etwa Lev Tolstoj, Nikolaj Leskov, Anton Čechov oder – ein Blick in die Gegenwart – Maxim Biller. Darüber hinaus suche ich in den Werken stets auch nach Verweisen auf Texte aus den Bereichen der Philosophie, Ästhetik, Wissenschaftstheorie, Ethnologie oder Kunstgeschichte, die ihrerseits ein neues Licht auf die analysierte Prosa werfen können. All diese literarischen und theoretischen Bezüge ermöglichen mir, die interpretative und heuristische Leistung der Kategorie der Verführung zu überprüfen.

Was bedeutet eigentlich Verführung? Wie sieht deine methodologische Herangehensweise aus?

In meiner Studie handelt es sich nicht darum, den Begriff Verführung endgültig zu definieren; das müsste reduktiv und doktrinär erscheinen. Vielmehr versuche ich, möglichst viele Schattierungen dieser Kategorie zu berücksichtigen und diese dann, bereichert um neue Perspektiven, bei der Interpretation der ausgewählten literarischen Texte anzuwenden. Die Verführung gilt dabei als Hilfsmittel für eine „Sondierung“ moderner Prosawerke – als Fluchtpunkt, der verschiedene literarische Strategien und Tendenzen bündeln sowie verborgene Bedeutungen und Verbindungen sichtbar machen kann. Insofern verstehe ich Verführung als einen nur schwach determinierten Begriff und als methodisch flexibles Interpretationsinstrument.

Schulz schuf auch ein graphisches Werk. Ein Glasklischeedruck aus dem Zyklus Das Götzenbuch. Bruno Schulz, Xięga bałwochwalcza I, ca. 1920–1922. © Public Domain Marked

Was die Arbeitsmethode anbetrifft, so kann man sie zum einen mithilfe der Konzeption der „Familienähnlichkeit“ von Ludwig Wittgenstein beschreiben. In diesem Sinne betrachte ich auch die Kategorie der Verführung als ein Cluster oder Netzwerk verwandter Bezeichnungen und Phänomene. Dazu zähle ich unter anderem die Ekstase, das Spannungsverhältnis zwischen Sympathie und Antipathie, die Dialektik der Nähe und Distanz sowie Dynamiken der Partizipation und Separation oder Attraktion und Repulsion. All diese Begriffe weisen gewisse Überschneidungen auf, die ich unter der Kategorie der Verführung zu subsumieren versuche. Zum anderen weist meine theoretische Ausrichtung in Richtung des „metaphorisch-rhetorischen“ Denkens nach Hans Blumenberg und der damit verbundenen Konzeption der Unbegrifflichkeit. Entsprechend möchte ich die Verführung als eine nicht abgeschlossene Kategorie auffassen, die sich an die analysierten literarischen Texte anpasst.

Welche Fragen stellst du bei der Analyse der Texte?

Bei den Lektüren sub specie seductionis, die auf die exemplarische Beschreibung einiger Grundantriebe und Grundwirkungen der Prosa der Moderne abzielen, widme ich mich vor allem zwei Problemfeldern.

Das erste betrifft die in den Werken literarisch verfasste Epistemologie und Anthropologie. Wie und mit welchen Mitteln werden das moderne Subjekt und dessen Verhältnis zur Welt dargestellt und welches Verständnis von Wissen und Sprache resultiert daraus? In diesem Zusammenhang betrachte ich die Verführung als erkenntnistheoretische Metapher und als konstitutives Element des Menschenbildes.

Der zweite Aspekt bezieht sich auf die in der modernen Prosa postulierte Beschaffenheit der Welt und die Merkmale des beschriebenen Seins. Zur Bezeichnung dieses Themenkreises ist der von Gianni Vattimo entliehene Begriff der „schwachen Ontologie“ hilfreich, mit dem schon vorab angedeutet wird, dass es sich hier nicht um Metaphysik im strengen Sinne handelt. Die in den Werken geschilderte Wirklichkeit wird vom literarischen Subjekt weder als stabil noch als emotional neutral empfunden. Vielmehr fühlt sich das Subjekt von ihr „verführt“ – hingerissen, angezogen oder abgestoßen. Deshalb setze ich mich mit folgenden Fragen auseinander: Welche Eigenschaften hat das in der Prosa beschriebene Sein? Nach welchen Prinzipien und Gesetzlichkeiten werden die Verhältnisse in der Welt organisiert? Was für ein Verständnis von Sinn verbirgt sich dahinter?

Die beiden Problemkomplexe können sich gegenseitig ergänzen und überschneiden. Auf beiden Ebenen greift die Kategorie der Verführung, die hier – so die Leitthese meiner Studie – als heuristisches Werkzeug der Analyse moderner Prosawerke dienen soll. Die Studie besteht aus zwei Hauptteilen mit Textanalysen, die thematisch den beiden Problemfeldern entsprechen.

Zu welchen Ergebnissen kommst du?

Verführung nimmt in den Werken von Musil, Schulz und Gombrowicz besondere Formen als literarische Strategie oder als Modus der Selbst- und Weltwahrnehmung des Subjekts an und unterstützt die Analyse der epistemologischen, anthropologischen und ontologischen Textdimensionen. So entstehen eine neue theoretische Qualität und Grundrisse einer Philosophie der Verführung, die sich als Vorschlag für eine Theorie der Prosa der Moderne im Allgemeinen betrachten lassen.

Gombrowicz’ Einreisekarte nach Argentinien. Museo de la Inmigración y Centro de Arte Contemporáneo, Buenos Aires. Foto: Agnieszka Hudzik

Die Schriftsteller greifen in ihren Texten das Thema der Verführung auf verschiedenen Ebenen auf. Eine der Qualitäten, die sie dieser Kategorie zuschreiben, ist die Reziprozität. Sie stellen die Verführung als einen wechselseitigen Prozess dar und hinterfragen dadurch konventionelle Einteilungen wie etwa die in Subjekt und Objekt oder in Aktivität und Passivität. Ein weiteres Merkmal, das aus dieser Auflösung von Dichotomien resultiert, ist die Tatsache, dass in diesen Werken die Subjekte stets in ihre eigenen Strategien verwickelt sind. Sie verführen die anderen und werden zugleich selbst von ihnen verführt. Darüber hinaus bezieht sich das verführerische Spiel in den Texten nicht ausschließlich auf Beziehungen zwischen Menschen. Die Verführung hat auch viel mit der Umgebung, mit ihrer Atmosphäre zu tun. Auffällig ist auch, dass die Verführungskraft mit der Hermetik zusammenhängt – die Autoren beziehen sich auf hermetische Sprache, naturmagisches Denken und frühmoderne Vorstellungen von attrahierenden und repulsiven Kräften, um die Durchquerungen alter und neuer Wissenspraktiken als Interpretationen des menschlichen Seins zu zeigen.

Nicht über etwas sprechen, sondern sich davon verführen lassen und ein Teil davon werden – dieser Satz drückt das Erzählprinzip der Texte von Musil, Schulz und Gombrowicz aus. In ihren Werken polemisieren sie auf der Metaebene gegen objektivistische Konzeptionen der Erkenntnis unterschiedlicher philosophischer Provenienz: gegen den positivistischen Objektivismus, gegen einen metaphysischen Erkenntnisbegriff oder gegen phänomenologische Reduktion. Sie sehen keine Möglichkeit dafür, dass das Subjekt eine unantastbare Position gegenüber dem Objekt einnimmt. Eine solche Distanzierung halten sie für Fiktion und Utopie – oder, wie man heute sagen würde, für einen überholten Diskurs. Deshalb entwerfen sie in ihren Werken alternative Beziehungen zwischen ihren Figuren und der Wirklichkeit, die an ein verführerisches Spiel erinnern.

Musils Geburtshaus in Klagenfurt, heute das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Foto: Agnieszka Hudzik

Welche weiteren Forschungen könnten deiner Arbeit folgen?

Ausgehend von der Prosa der Moderne wäre es lohnenswert zu untersuchen, wie dieser literarisch imaginierte Typus der anderen Relation in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um eine aus der Literatur abgeleitete Auffassung von Theorie, die man als Herausforderung für die Wirklichkeit, als Partizipieren, Handeln und als Eingreifen in die Welt und in symbolische Universen sowie als performative Antwort auf sie begreifen kann. Damit ist eine besondere, nicht epistemologische, sondern praktische und handelnde Haltung gemeint, der das „Eintauchen“ in den Forschungsgegenstand, das mimetische Vermögen des Subjekts und seine Lust am Selbstverlust zugrunde liegen. Das zu performierende Objekt wird nachgeahmt, wiederholt und dadurch transformiert – genauso wie das schaffende Ich. Die Reversibilität dieser Relation bringt meines Erachtens der Begriff der Verführung auf den Punkt. Der erkenntnistheoretische Rahmen, den man den Werken von Musil, Schulz und Gombrowicz entnehmen kann, scheint auf methodologische Reflexion vieler geisteswissenschaftlicher Disziplinen des 20. Jahrhunderts zu verweisen und ist mit solchen analytischen Strategien kompatibel wie Theodor W. Adornos Konstellationen, Jacques Derridas Herangehensweise an Phänomene wie Stil und Ton, Aby Warburgs Methode des Mnemosyne-Atlas’ oder dem Konzept der dichten Beschreibung von Clifford Geertz.