80 Jahre nach der Gründung des DDR-Schriftstellerverbands und 35 Jahre nach seiner Auflösung wurden im Berliner Haus der Poesie die Möglichkeiten von Literatur damals und heute besprochen. Das hätte das Potenzial gehabt, Literatur als Epochenspiegel zu denken – führte aber hauptsächlich zu unverhofft aufschlussreichen Diskursschleifen.

Von Lukas Zittlau

Ein weißes Loch klafft in der schwarz-rot-goldenen Fläche, die das Logo der staatlichen Bundestiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bildet. Es symbolisiert – so eine erste Annahme – die Beseitigung der Embleme des einstigen sogenannten Arbeiter- und Bauerstaats DDR, und damit das „Zusammenwachsen“ dessen, was nach einem berühmten Diktum Willy Brandts „zusammengehört“. West- und Ostdeutschland sollten nach der Wende 1989/90 zu dem verschmelzen, was man sich seinerzeit unter einem modernen europäischen Staat vorstellte. Gleichzeitig aber, und das wäre meines Erachtens die deutlich interessantere Komponente der Grafik, verweist eine weiße Fläche – noch mehr ein weißes Loch – auch immer auf ein unbekanntes, ein noch zu entdeckendes, vielleicht sogar ein einstmals bekanntes, inzwischen aber vergessenes oder verdrängtes Element.

Logo der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur © Bundesstiftung Aufarbeitung / Wikimedia Commons

Ein weißes Loch kann so unterschiedlichste Konnotationen annehmen und Funktionen erfüllen: Es kann Neugier wecken, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen, sich ungekannten Fragen zu stellen; es kann auffordern, sich auf neue Zusammenhänge, Kontexte und Perspektiven einzulassen und den Horizont zu erweitern. Gleichzeitig kann es aber auch Angst erzeugen, einen horror vacui hervorrufen, die Betrachtenden vor einer Leere erschaudern lassen, die sie infolgedessen zu meiden versuchen.

Ein damit eng verbundenes Phänomen hat Mitte der 1960er-Jahre der unorthodox marxistische Philosoph Wolfgang Heise beschrieben: Im Rückgriff auf Carl Sternheims satirisches Stück Die Hose von 1911 sprach er von „Löchern in der Existenz“. Sie seien „im Grunde die typische Form“, „in der die Illusion von der schön geordneten Welt zerbricht“ – wobei Heise die Zeit vor 1933 im Sinn hatte. Weil der Bruch der Moderne die Menschen zwang, „diesen Löchern nachzudenken“, habe unter den Intellektuellen der Zwischenkriegszeit eine eilfertige, kaum bremsbare Kulturproduktion eingesetzt, die es zugleich nicht geschafft habe, die aufgerissenen Löcher für die Bevölkerungsmehrheit zu stopfen. Infolgedessen sei sie in immer luftigere Höhen aufgestiegen und habe sich darüber mehr und mehr von den materiellen Problematiken der Menschen entfernt. Heise fasste das als „illusionäre“ Versuche einer Krisenüberwindung, die letztlich ihren nicht unerheblichen Anteil an der Machtergreifung der Nazis getragen hätten.

Das Loch im Logo der staatlichen Aufarbeitungsstiftung müsste insofern, betrachtet man es unter diesen Vorzeichen, auch heute wieder dazu ermutigen, den zerbrochenen Welten der letzten dreißig Jahre (ost-)deutscher Zeitgeschichte in ihren realen Verwerfungen nachzuforschen – auch hinsichtlich der im nächsten Jahr anstehenden Landtagswahlen, die drohen, uns alle mit einem „blauen Wunder“ zu konfrontieren.

Nicht zuletzt vor diesem politischen Hintergrund hatten die Deutsche Gesellschaft e.V., die Bundesstiftung Aufarbeitung und die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) am 14. Oktober 2025 ins Haus für Poesie geladen. Beim Literaturabend „Stimmen der Zeit“ sollte, so der Untertitel, das Thema „Literatur und Politik im geteilten und vereinten Deutschland“ verhandelt werden. Konkreter Anlass waren zwei Jahrestage: Vor 75 Jahren, 1950, wurde der DDR-Schriftstellerverband gegründet – und mit der Wiedervereinigung vor nun 35 Jahren wieder aufgelöst. Auch hier: eine Leerstelle, ein Loch, das zum Weiterdenken einlädt.

So direkt wurde das in der Veranstaltungsankündigung freilich nicht gefasst: Hier ging es in erster Linie um die Ambivalenzen von Literatur innerhalb einer Diktatur, in der sie einerseits zu Legitimationszwecken instrumentalisiert werde, andererseits aber auch zur Destabilisierung herrschender Narrative beitragen könne. – „In Demokratien hingegen wird die Literatur oft zur Stimme gesellschaftlicher Debatten“, postulierte der Veranstaltungsflyer sodann überzeugt; und setzte gleich warnend hinzu: „Doch wie unabhängig kann und will Literatur sein?“.

ADN-ZB-Senft-21.9.1989. Berlin: Schriftstellerlesung. Zu einer Lesung anläßlich des 40. Jahrestages der DDR-Gründung hatte der Schriftstellerverband in das Maxim-Groki-Theater eingeladen. © Bundesarchiv / Wikimedia Commons

Begrüßung und Einführung hoben das komplexe Wechselverhältnis von Politik und Literatur im Kontext der deutschen Zeitgeschichte hervor: Robert Grünbaum, stellvertretender Direktor der Bundesstiftung Aufarbeitung, eröffnete die Veranstaltung, indem er an die widerstreitenden Motivationen der frühen DDR-Schriftstellerinnen und Schriftsteller erinnerte, die einerseits nach der Erfahrung des Nationalsozialismus glaubten, mit ihrem Einsatz für den sozialistischen Staat einem humanistischen Ideal zu dienen, gleichzeitig jedoch die ersten Erfahrungen mit der literarischen Unfreiheit machten. Literatur und Aufarbeitung hätten gemeinsam, sich nicht mit einfachen Antworten zufriedenzugeben. Pauline Stolte von der ALG erinnerte ihrerseits daran, dass Literatur stets Resonanzraum, Spiegel und Korrektiv gesellschaftlicher Zustände sei und über Anpassung, Selbstbehauptung und Widerspruch Auskunft geben könne. Literatur diene dabei als „Form demokratischer Praxis“.

Es folgte ein einführender Vortrag von Jürgen Brokoff, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität, der unter dem Motto „Grenzgänge der Poesie“ stand und „eine historische Spurensuche“ über „Literatur und Politik in Deutschland“ unternahm. Er hob die Notwendigkeit hervor, den oft vergessenen Umstand zu berücksichtigen, dass es in der Zeitgeschichte seit 1949 „drei Deutschlands“ gegeben habe: die DDR, die BRD und das wiedervereinigte Deutschland. Dass dabei die Beziehungen von Literatur und Politik in den ersten beiden Staaten, der BRD und der DDR, trotz der Systemkonfrontation teils Gleichzeitigkeiten aufwiesen, verdeutlichte Brokoff anhand der parallelen Ausprägungen von Bitterfelder Weg auf der einen und dem Dortmunder „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ auf der anderen Seite der Mauer. Als das dominierende Thema im heutigen Deutschland, 35 Jahre nach der Vereinigung, bestimmte er im Anschluss die gesellschaftliche Polarisierung. Dabei legte er einmal mehr nahe, die vieldiskutierte These Steffen Maus zu bedenken, derzufolge die von Medien und Öffentlichkeit konstatierte gesellschaftliche Spaltung in den unmittelbaren Lebensverhältnissen keineswegs als so unerbittlich erlebt werde, wie allzu oft suggeriert würde.

Auf diesen theoretischen Teil des Abends folgten zwei Podiumsgespräche, unterbrochen von einer Pause und einer sogenannten literarischen Intervention. Im ersten Teil, der mit dem Thema „Literarisches Leben in der DDR“ dem 75. Geburtstag des DDR-Schriftstellerverbands Tribut zollte, unterhielten sich gewissermaßen die Veteranen: die Schriftstellerin Katja Lange-Müller und der Verleger und Verlagshistoriker Christoph Links mit der Herausgeberin der Uwe Johnson-Werkausgabe, Katja Leuchtenberger. Die Themen Zensur und Arbeitsbehinderung durch die repressiven staatlichen Organe waren dabei das übergreifende Thema – nicht zu Unrecht freilich, aber auch nicht sonderlich überraschend. Spannend wurde es bei einer nur indirekt besprochenen Dissonanz zwischen Katja Lange-Müller und Katja Leuchtenberger: Während die jüngere Wissenschaftlerin immer wieder auf einen „Pendelschlag“ zwischen dogmatischen und vergleichsweise liberaleren Kulturpolitikphasen verwies, bemerkte Lange-Müller trocken, sie als Insiderin habe von diesen sogenannten „Tauwetter- oder Packeisphasen“ meist „nüscht mitjekriegt“.

Für bittere Lacher sorgte zum Ende hin auch Christoph Links, der, frei von Illusionen, bemerkte, dass die Friedliche Revolution eben „nicht vom Schriftstellerverband ausgelöst worden“ sei: Die Abschaffung der Zensur, so eine zeithistorische Studie, habe, rein quantitativ gesehen, unter allen Forderungen der Demonstration am 4. November 1989 lediglich auf dem 28. Platz gestanden.

Lukas Zittlau Stimmen der Zeit DDR Bundesstiftung Aufarbeitung

Sodann folgte die bereits angesprochene literarische Intervention, die die Schriftstellerin Paula Fürstenberg beisteuerte: Die 36-Jährige, die nach ihrem Debüt Familie der geflügelten Tiger im letzten Jahr den Roman Weltalltage veröffentlicht hat, schreibt derzeit an einem Essayband, in dessen Kontext auch die Lesung stand. Der Satz „Wir brauchen die Einheit nicht“ lieferte das Motto ihres Textes. In sieben Punkten, gefolgt von vier Zugaben, kritisierte sie darin die mit den Begriffen „Einheit“ und „Wiedervereinigung“ verbundenen Konzepte einer einigen deutschen Nation, die, ihr zufolge, in „Einheitstaumel“ und „Einheitssprache“ vor allem auch Konzepte ethnischer Homogenität vermittelten. Statt des Begriffs „Wiedervereinigung“, der an das der Teilung vorausgegangene Dritte Reich gemahne, plädierte sie für eine „Nie-wieder!-Vereinigung“ – was sie als Verweis auf die Anti-AfD-Demonstrationen Anfang 2024 verstand, deren zentrale Botschaft der Slogan „Nie wieder ist jetzt!“ war.

Beim Gedenken an den 3. Oktober 1990, so Fürstenberg, müsse man vor allem um eine verpasste Chance trauern: „Wir hätten es Einigung, Vereinigung oder Neuvereinigung nennen können, aber wir nannten es Wiedervereinigung“. Fürstenbergs „literarische Intervention“ legte dabei das Gewicht deutlicher auf das Interventionistische als auf das Literarische. Entschiedene Indikativkonstruktionen prägten den Ton: „… deshalb entscheide ich“, oder: „ich bin anderer Meinung“. Der Entschiedenheit gegenüber standen aber interessanterweise Metaphern der Sprachlosigkeit: „es verschlägt mir die Sprache“ und „uns fehlen die Worte“. Auch hier fiel also auf: Der Bruch in der Wirklichkeit erzeugt Löcher, diesmal in der Sprache. Fürstenbergs Resümee: Es brauche „neue Narrative“, um die „Vereinigung antifaschistisch und pluralistisch erinnern“ und weiterdenken zu können. Wie aber könnten diese aussehen?

Das Motiv der Sprachlosigkeit zog sich schließlich auch durch den dritten Teil der Veranstaltung, der – ironischerweise – unter dem Titel „mit Worten wirken“ stand. Mit Paula Fürstenberg diskutierten die Herausgeberin der Literaturzeitschrift edit, Linn Penelope Rieger, und der Schriftsteller Senthuran Varatharajah, der sich zu Beginn dem bisher viel verwendeten Narrativ einer politischen Literatur geschickt entzog: Viel interessanter als politische Statements oder ökonomisch begründete Forderungen der Verlage nach autosoziobiografischen Texten sei doch die Aussage, „ich arbeite an Sprache, mit Sprache“. Seiner durchaus provokanten Ansicht, es sei „gut so“, dass Literaturschaffende nicht mehr die Machtstellung im gesellschaftlichen Diskurs hätten, die sie einst hatten, wurde jedoch in der Folge kaum widersprochen. Stattdessen ging es jeweils kurz um die Rolle der Literaturproduzent:innen in der Gesellschaft, um Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie und um die Ost-/West-Teilung 35 Jahre nach 1990.

Podiumsgespräch Stimmen der Zeit © Lukas Zittlau
Podiumsdiskussion mit Paula Fürstenberg, Linn Penelope Rieger und Senthuran Varatharajah, moderiert von Cosima Schmitt © Lukas Zittlau

Was dabei auffiel, war, dass die Diskutant:innen bei all diesen Themen zumeist relativ einhelliger Meinung waren. Dabei hätte es ohne Zweifel Anlass zur Kontroverse gegeben: Denn zwischen dem affirmierten Bedeutungsverlust literarischer Arbeit und der vorangegangenen literarischen Intervention bestand, so mochte man meinen, doch durchaus erhebliche theoretische Spannung. Wenn Rieger überdies proklamierte, dass sie den Essay für das aktuell wichtigste Genre halte, weil er nur Fragen stelle, keine Antworten liefere, so hätte man das durchaus auch auf Fürstenbergs essayistischen Text beziehen können, der – gerade umgekehrt – kaum Fragen gestellt, dafür aber umso mehr Antworten geliefert hatte. Und als Fürstenberg auf die Frage der Moderatorin nach einer Positionierung als politische Schriftstellerin in der Gesellschaft erwiderte, sie wolle sich da nicht auf Begriffe oder Definitionen festlegen, so war darin zumindest eine partielle Dissonanz zu ihrem vorangegangenen markigen Beitrag zu vermerken.

Diese kaum ausformulierten, fast möchte man sagen: unterschlagenen Bruchlinien zwischen den Positionen – und teils in den Positionen selbst – schufen nach meinem Eindruck eine eher lauwarme Diskussionsatmosphäre, die Zweifel in mir säte, ob die Verschränkung von Literatur, Politik und DDR-Aufarbeitung an diesem Abend wirklich erkenntnisfördernd gewirkt hatte. Zwar scheint es auch mir dringend geboten, sich gemeinsam und einhellig gegen die Gefahr von rechts auszusprechen und sich ihr solidarisch entgegenzustellen. Freilich ist es außerdem zu begrüßen, wenn Literatinnen und Literaten sich dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust ihres Wirkens auch mit Humor und Selbstironie stellen. Und natürlich ist es ihr gutes Recht, sich einer definierten Rollenzuschreibung zu entziehen. Doch wenn diese Einhelligkeit, Selbstironie und Rollenfluidität gegenüber dem produktiven Disput, der ernsthaften Selbstbefragung und Auseinandersetzung mit den Gegenständen so immens überwiegen, wie sie es hier nach meinem Eindruck taten – ja, dann müsste man sich doch fragen, welche Relevanz Literatur überhaupt noch hat, oder haben will? Zu welchem Zweck schreibt man dann noch? Und wen will man erreichen? Ist nicht sogar der Anspruch einer Verbindung von ironischer Selbst-Entkategorisierung und gesellschaftspolitischem Selbstauftrag von vornherein schwierig bis illusionär? Die schlichte, humorvoll vorgebrachte Desillusionierung über die eigene Sprach- und Wirkungslosigkeit scheint mir zumindest nicht das ideale Mittel zu sein, gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft anzugehen; geschweige denn, um dessen Akteur:innen, wenigstens aber deren Anhänger:innen für einen demokratischen Diskurs zurückzugewinnen. Im Gegenteil: Die meinungsstarke Sprachlosigkeit, die hier stets umkreist, aber kaum mit Inhalt gefüllt wurde, gemahnte vielmehr an jene eingangs angesprochene „illusionäre Krisenüberwindung“, die sich heute offenbar im Kreis um Aufmerksamkeitsökonomien und vermeintlich neue Narrative dreht. Aber ist das wirklich alles, was die Literatur derzeit zu leisten vermag?

Sicher nicht. Auch deshalb wäre aus der Konstellation des Abends ohne Zweifel mehr zu machen gewesen. Eine Konfrontation der jungen mit der älteren Schriftstellergeneration etwa hätte unter Umständen das Potenzial gehabt, gegenseitig auf blinde Flecken hinzuweisen. Junge literarische Stimmen hätten den tradierten Perspektiven der Älteren neue Blickwinkel zur Seite stellen, vergessene und verdrängte Konfliktkonstellationen aus der Versenkung holen und sie gegen aktuelle Diskurshoheiten in Stellung bringen können. Sie könnten aus den historischen Widersprüchen schöpfen, um damit heutige politische Alternativlosigkeiten zu demaskieren. Das jedoch würde Klarheit über den eigenen nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch poetologischen Standpunkt erfordern. Solange aber die Literatur und ihr Betrieb diese Fragen nicht mit Konzentration und ehrlicher, illusionsfreier Selbstbeobachtung zu verhandeln bereit sind, solange können auch das schönste neue Narrativ und die bestorganisierte Aufmerksamkeitsökonomie nichts an ihrer gesellschaftlichen Irrelevanz ändern. Die Löcher im gesellschaftlichen Diskurs haben indessen Zeit, sich weiter zu vertiefen.


Lukas Zittlau hat in Marburg, Rom und Berlin Politik-, Kultur- und Literaturwissenschaft studiert. Er promoviert an der HU Berlin zu den Spannungsfeldern in der intellektuellen Biografie Wolfgang Heises (1925–1987).