• Beitrags-Kategorie:Drei Sätze

In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.

Es war Nacht, als Ihr Brief kam, ich hatte mich gerade aufgehängt, konnte nur morgens den Baum nicht wiederfinden.
Else Lasker-Schüler: Mein Herz (1912)

Else Lasker-Schüler braucht keine drei Sätze, um einen Gedanken zu formulieren, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Es ist aber auch nicht der Einzige, der bleibt: „Ich, ich, ich, ich kann mich kaum mehr berühren vor Süße“ ist ein weiteres Beispiel. Beide Sätze verknüpft nicht nur, dass sie aus dem gleichen Text stammen, sondern auch eine spezifische Inszenierung des Ich oder des Erzähl-Ich. Wenn es sich im ersten Zitat nicht finden kann und im zweiten mehrfach auftritt, hat es sich in beiden Zitaten vermehrfacht und dezentriert. Dabei scheint Lasker-Schülers Briefroman zugleich enorm egozentrisch zu sein, zumindest wurde ihm das immer wieder attestiert.

Und tatsächlich müsste das Ich doch eigentlich das zentrierteste der Pronomen sein, da es ohne Gegenüber, ohne Neben und ohne jede Begleitung auftauchen kann. Doch, so Ingeborg Bachmann, einmal schriftlich, mündlich, gestisch veräußert, „entgleitet“ das Ich den Sprechenden und verbleibt „ohne Gewähr!“. Was also ist das Ich? „Myriaden von Partikeln, die ‚Ich‘ ausmachen, und zugleich scheint es, als wäre Ich ein Nichts“, so schreibt Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen. Ich, so könnte man meinen, ist dasjenige, was diese Partikel zusammenhält, doch einmal ausgesprochen, zerfallen sie wieder. Das heißt, die Partikel haften weder ohne das Ich noch haften sie für das Ich.

Claudia Rankine formuliert es ähnlich:

Sometimes ‘I’ is supposed to hold what is not there until it is. Then what is comes apart the closer you are to it. / This makes the first person a symbol for something. / The pronoun barely holding the person together. / Someone claimed we should use our skin as wallpaper knowing we couldn’t win. / You said ‘I’ has so much power; it’s insane. / And you would look past me, all gloved up, in a big coat, with fancy fur around the collar, and record a self saying, you should be scared, the first person can’t pull you together.

C. Rankine: Citizen. An American Lyric (2015). S. 71

Als ob sie darauf antwortet, bezweifelt auch Sarah Berger in ihrem Band bitte öffnet den Vorhang, dass das Ich hält, was es zu versprechen scheint: „Zusammenreißen ist ein brutales Wort. Die Gewalt, derer es bedarf, ein zerrissenes Ich zusammen zu halten.“

Die Texte sind ebenso Ich-zentriert, wie das Ich dezentriert ist. Die Literaturwissenschaft ist diesem präsenten Ich der Gegenwart mit dem Begriff der Autofiktion begegnet. Bergers Texte werden häufig mit diesem Label versehen und auch Lasker-Schülers Mein Herz könnte man als solche bezeichnen. Bereits der Untertitel stellt mit der Bezeichnung ‚Liebesroman‘ die fiktionale Seite aus, verspricht aber gleichsam, dass er eine Begegnung mit wirklich lebenden Menschen ist. Er spielt mit historischen Referenzen und Figuren, aber auch mit leeren Verweisen, die immer wieder die Fiktionalität des Textes reflektieren. Wegen ihrer Ichzentriertheit wurde die Autofiktion narzisstisch, selbstbezogen und egoistisch genannt.

Doch das Ich, das man bei Lasker-Schüler, Rankine oder Berger findet, ist kein selbstzentriertes, sondern im Gegenteil eines, das sich ganz klar als historisches in seiner Zeit verortet, sich als vernetztes erkennt und sich immer wieder in seiner Partikularität und Dezentriertheit begegnet. Es steht mit sich selbst, anderen Ichs und Pronomen in enger Verknüpfung, auch wenn die Art der Beziehung gern verundeutlicht wird. Im zweiten Satz von Lasker-Schüler – „Ich, ich, ich, ich kann mich kaum mehr berühren vor Süße“ – ist das besonders auffällig, denn er wirft einige Fragen auf: Sind es vier Ichs, die hier sprechen? Sind es nicht markierte Zitate? Kommen hier nacheinander vier Ichs auf die Szene des Textes und schreiben je ein Ich? Oder stottert hier ein Ich? Wenn es ein stotterndes Ich ist, wie lässt es sich dann erklären, dass sich die Ichs „kaum […] berühren“ können? Die unmögliche Berührung verweist doch auf eine Distanz zwischen ihnen, welche die Ich-Hier-Jetzt-Trias torpediert. Da sie jedoch auch nicht als ein Wir sprechen – es heißt „Ich, ich, ich, ich kann“, nicht „können“ –, sind die Ichs hier zugleich Singular und Plural.

Wenn Lasker-Schüler schreibt „Es war Nacht, als Ihr Brief kam, ich hatte mich gerade aufgehängt, konnte nur morgens den Baum nicht wiederfinden“ deutet sich an, dass das Ich sich finden muss, um auf den in der Nacht eingetroffenen Brief zu antworten. Das Schreiben setzt die Zusammenkunft verschiedener Ichs voraus, die sich exzentrisch aufeinander beziehen. Das Ich der Gegenwartsliteratur, durch Lasker-Schüler gelesen, ist nicht unbedingt narzisstisch und egozentrisch, es ist als Sujet kleiner Erzählungen nicht nur der Gegenentwurf zu der mit der Postmoderne verabschiedeten großen Erzählungen.1 Wenn das Ich der Gegenwartsliteratur nicht immer ein Ich ist, ermöglicht es, über das Ich als Singuläres und egozentrisches hinauszublicken und es in der Verknüpfung von Ichs, Sprache, Erzählung in den Blick zu nehmen. Mit Lasker-Schüler könnte man diese Zusammenkünfte als „rostige Gefüge“, wie es in Mein Herz heißt, bezeichnen. Die Ichs befänden sich dann in auffallend prozesshaften Anordnungen mit sich und ihrer Umgebung, da sie zugleich durch Korrosion und Kristallisation gekennzeichnet wären, sich durch ein gleichzeitiges Zusammen- und Zersetzen auszeichnen würden. Das „rostige Gefüge“ kontrastiert damit die Vorstellung der Geschlossenheit oder Ganzheit, es begreift sich mit sich und anderen/anderem in einem Gefüge, in dem es sich (be)schreibt – falls es sich (wieder)findet.

Nina Tolksdorf ist mit einem Projekt zu Konzepten digitaler Autor*innenschaft Postdoc am Exzellenzcluster Temporal Communities an der Freien Universität Berlin. 2020 ist die aus ihrer an der Johns Hopkins University verfassten Dissertation hervorgegangene Monografie Performativität und Rhetorik der Redlichkeit. Nietzsche – Kleist – Kafka – Lasker-Schüler erschienen.

1 Daniel Schreiber: Gegenwartsliteratur. Ich will Ich. ZeitOnline, 15.10.2019

Bild: Manuskript Dostoevskijs (Die Dämonen), © wikimedia commons