Am 30. Juni fand die traditionelle Sommer-Matinée der Deutschen Marcel Proust Gesellschaft in Köln statt. In diesem Jahr im Mittelpunkt: die Präsentation des ersten von Proust ausgefüllten Fragebogens in der Bibliotheca Proustiana.
Ein Beitrag von Maximilian Gilleßen
Die Abstraktion, die Abwesenheit jeglicher Metapher ist hier so weit getrieben wie nur möglich, der Unterschied zwischen oben und unten, Türen und Fenstern aufgehoben, die Geometrie der Proportionen von kompromissloser Strenge: Ein Grundmaß von 48 mal 48 Zentimetern liegt allen Formen dieses Hauses zugrunde, kehrt als ein Teil oder ein Vielfaches in seinen Bestandteilen wieder. „Casa senza qualità“, „Haus ohne Eigenschaften“ nannte es sein Erbauer, der Kölner Architekt Oswald M. Ungers, der in ihm zusammen mit seiner Frau von 1997 bis zu seinem Tod im Jahr 2007 wohnte. Wer sich dem vollständig weiß verputzten Gebäude nähert, wird vielleicht nicht umsonst an ein leeres Blatt Papier, an eine monochrome Leinwand denken.
Aber nicht nur der konzeptuelle Aspekt des Hauses verleiht ihm eine besondere Nähe zur Literatur. Eine Halle, in der Ungers seine umfangreiche Sammlung von Werken zur Architekturtheorie aufbewahrte, bildet sein Zentrum; alle anderen Räume und Elemente, Küche und Bad, Wohnung und Schlafzimmer, Treppe und Aufzug, wurden an die Ränder der Bibliothek ausgelagert. Dieses Haus, das alle praktischen Zwecke und Bedürfnisse der Autorität der Schrift unterordnet, hat der Kölner Sammler, Publizist und Urologe Reiner Speck im Jahr 2011 erworben, um in ihm zwei seiner bedeutendsten Büchersammlungen aufzustellen: die Bibliotheca Petrarchesca und die Bibliotheca Proustiana.
In der Zentralhalle des „Hauses ohne Eigenschaften“, die eine wandfüllende Photographie aus Andreas Gurskys Robert-Musil-Serie schmückt, reihen sich die Werke Petrarcas, des italienischen Humanisten und Bibliophilen, in den von Ungers gestalteten schwarzen Bücherschränken aneinander, kostbare Erstdrucke und illuminierte Handschriften, von denen eine Auswahl in einem Seitenraum in herausziehbaren Vitrinenschubladen genauer studiert werden kann. Die erste Etage ist ganz dem Werk Marcel Prousts gewidmet, die verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen von À la recherche du temps perdu nehmen fast eine ganze Wand ein. Zahlreiche Briefe und Manuskripte des französischen Romanciers, selbst eine seiner Haarlocken, befinden sich in Specks Besitz. Nun verlangt jede wahre Begeisterung, jede wahre Leidenschaft danach, mit anderen geteilt zu werden, und so gründete Reiner Speck am 18. November 1982, dem sechzigsten Todestag des Autors, gemeinsam mit anderen Proustianern und der verlegerischen Unterstützung Siegfried Unselds die Deutsche Marcel Proust Gesellschaft in Köln.
Diese mehr als 450 Mitglieder zählende literarische Gesellschaft hat die deutsche Proust-Rezeption seitdem maßgeblich beeinflusst und durch zahllose Publikationen, Konferenzen, Lesungen und Konzerte zur Bekanntheit seines oftmals als schwierig verrufenen Werkes beigetragen. Zu den von der Gesellschaft organisierten Veranstaltungen gehört auch eine mittlerweile traditionsreiche Sommer-Matinée, die dieses Jahr am 30. Juni in der „Casa senza qualità“ stattfand. Anlass zum Feiern gab es genug: Die Verleihung des prestigeträchtigen Prix Goncourt an Marcel Proust jährt sich am 10. Dezember zum einhundertsten Mal; außerdem erschien 1919 À l’ombre des jeunes filles en fleurs, der zweite Band der Recherche, sowie eine Sammlung kürzerer Arbeiten unter dem Titel Pastiches et Mélanges. Zu diesem Centenaire kam noch eine aktuelle Begebenheit hinzu: 2018 hatte der Pariser Antiquar Laurent Coulet einen von Marcel Proust ausgefüllten Fragebogen, dessen Echtheit vom französischen Proust-Spezialisten Jean-Yves Tadié bestätigt wurde, auf dem Salon International du Livre Rare im Grand Palais angeboten. Nachdem bereits ein anonymer russischer Sammler sein Kaufinteresse bekundet hatte, aber nicht zahlte, erwarb Reiner Speck den Fragebogen. Dieses winzige, fast unscheinbare achtseitige Heft konnten die Teilnehmer der Matinée nun zum ersten Mal überhaupt begutachten. Es ist Teil einer fast hundert Exponate umfassenden Ausstellung in der Bibliotheca Proustiana, die unter dem Titel Le Questionnaire de Proust den kulturhistorischen Kontext dieses einmaligen Dokuments und seine Bezüge zu Prousts Werk erkundet.
Der Eröffnung der Ausstellung gingen drei Vorträge voran. Der Romanist, Librettologe und Offenbach-Spezialist Albert Gier eröffnete die Matinée passenderweise mit einem Vortrag über die „Begrüßungsrituale in der Recherche“. Anhand zahlreicher Beispiele zeigte er Prousts feine Beobachtungsgabe für diese Kulturtechnik der Annäherung, die soziale Rangunterschiede definiert und gleichermaßen zur Herstellung von Kontakt wie zu seiner Verweigerung dient. Wie jeder Kommunikationsakt kann die Annäherung gelingen oder scheitern. So missdeutet der junge Marcel die ihm obszön erscheinende Geste Gilbertes, die ihn zu einem erotischen Spiel einlädt, als Abweisung. Sein Onkel wiederum fasst das Ausbleiben eines Grußes, den Marcel unterlässt, weil er ihm zu konventionell erscheint, als Beleidigung auf und bricht mit der Familie. Verkompliziert wird die Begrüßung da, wo sie einem festen Protokoll gehorcht, bei dessen Befolgung es, je nach Situation und Adressaten, zwischen Geist und Buchstaben zu unterscheiden gilt. Das muss etwa ein bayerischer Musiker erfahren, der darauf besteht, sich von der Herzogin von Guermantes ihrem Gatten vorstellen zu lassen, der auf dieses Ansinnen eines Fremden mit einem „so jähen und so heftigen Gruß“ reagiert, „daß der Künstler zitternd zurückwich und sich dabei vornüberbeugte, um nicht einen furchtbaren Stoß mit dem Kopf in den Magen zu erhalten.“[1] Ähnlich ergeht es Marcel, der der Herzogin von Guermantes, die ihn durch einen Gruß im Theater dazu berechtigt hat, sie zu grüßen, auf ihrem täglichen Spaziergang aufzulauern beginnt, um immer wieder in den Genuss dieser Geste zu kommen, die ihm bald schon verweigert wird.
In seinem Festvortrag „Proust 1919“ ging Luzius Keller, Emeritus der Universität Zürich, Herausgeber der Frankfurter Proust-Ausgabe sowie der Proust-Enzyklopädie, der Bedeutung dieses Jahres für das Leben und Werk des Autors nach. Prousts Gesundheit wurde zu dieser Zeit immer fragiler. Abgesehen von einer schmerzhaften Laryngitis stellt sich bei ihm eine zunehmende Sehschwäche ein, die er gerne als Vorwand benutzt, um Briefe nicht beantworten zu müssen. Zu diesen gesundheitlichen Problemen kommen finanzielle hinzu. Prousts Vermögen ist aufgezehrt, er muss seine alte Wohnung am Boulevard Haussmann verlassen und befürchtet, Mietrückstände zahlen zu müssen, die die frühere Besitzerin des Hauses, seine Tante, während des Krieges nicht eingetrieben hatte. Trotz dieser Sorgen zeigt Proust ein reges Interesse an den Debatten seiner Zeit. Auch wenn er nicht mehr, wie zu Kriegszeiten, täglich mehrere Zeitungen liest, ist er doch über die aktuellen politischen Diskussionen bestens informiert. Einem seiner engsten Freunde der letzten Jahre, dem amerikanischen Juristen und Diplomaten Walter Berry, unterbreitet er den – glücklicherweise nicht verwirklichten – Vorschlag, alle Vermeers in Leipzig und Wien als Reparationszahlung an den Louvre zu übergeben.
An der Recherche, deren ursprünglich auf drei Bände angelegter Plan durch den Krieg und die wechselvolle Beziehung zu seinem Chauffeur Alfred Agostinelli eine beträchtliche Erweiterung erfahren hat, arbeitet Proust unermüdlich weiter. Nachdem Du côté de chez Swann, der erste Band der Recherche, 1913 bei Grasset auf Kosten des Autors veröffentlicht wurde, erscheint der zweite Band nun bei Gallimard in der Reihe der Nouvelle Revue française, deren Lektürekommitee Prousts erstes Manuskript einst – und bekanntlich zum baldigen Bedauern André Gides – abgelehnt hatte. Prousts Freude bleibt nicht ungetrübt: Die Erstausgabe von À l’ombre des jeunes filles en fleurs ist in einer viel zu kleinen Schrift gesetzt, wie er Gaston Gallimard mehr als einmal klagen wird. Das wichtigste Ereignis dieses Jahres ist jedoch die Verleihung des Prix Goncourt. Prousts Werk, das in der Presse gerne als das eines hypersensiblen Dandys dargestellt wird, setzt sich bei der zehnköpfigen Jury mit einer Stimme gegen Les croix de bois, einen in der Öffentlichkeit als Sieger gehandelten Kriegsroman von Roland Dorgèles durch. Sein Verleger Albin Michel ist darüber so erbost, dass er das Buch mit einer Banderole versieht, auf der in großer Schrift „Prix Goncourt“ steht und klein darunter „4 voix sur 10“. Auch in den Zeitungen findet diese Entscheidung nicht nur Zustimmung: Aus dem rechten Lager wirft man der Jury vor, die Erinnerungen eines müßigen Bonvivants denen eines kampferprobten Soldaten vorgezogen zu haben; die linke Presse dagegen stößt sich vor allem an der Rolle des Jurymitgliedes Léon Daudet, eines Mitbegründers der Action française, der sich für den zweiten Band der Recherche eingesetzt hatte. Wenn die Verleihung des Prix Goncourt für Proust selbst nicht ohne Anfeindungen und gesundheitliche Belastungen ablief, so hat sie doch seinem Werk eine anhaltende Aufmerksamkeit verschafft und aus dem Jahr 1919 ein Schlüsseljahr der Proust-Rezeption gemacht.
In seinem Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung Le Questionnaire de Proust führte Reiner Speck in die Geschichte der Proustschen Fragebögen und ihre vielfältigen Bezüge zur Kultur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts ein. Mit der Entdeckung eines dritten, nun in der Bibliotheca Proustiana befindlichen Fragebogens müsse die bisherige Chronologie revidiert werden. Als der erste von Proust ausgefüllte Fragebogen galt bislang ein englisches Heft mit dem Titel „Confessions. An Album to Record Thoughts, Feelings, &c.“, das einer seiner Spielkameradinnen auf den Champs-Elysées, Antoinette Faure, der Tochter des künftigen Präsidenten Frankreichs, Félix Faure, gehörte. Datiert hat der damals sechzehnjährige Proust diesen Fragebogen auf den 4. September 1887. Von den vierundzwanzig in englischer Sprache formulierten Fragen hat er nur neunzehn beantwortet (so etwa nicht die nach seinem Lieblingsgetränk, seinen Lieblingsnamen oder danach, welche historische Gestalt er am wenigsten schätze). Auf die vorletzte Frage, „For what fault have you most toleration?“ gibt er dagegen die Antwort: „Pour la vie privée des génies.“
Dieser Fragebogen wurde 1924, zwei Jahre also nach dem Tode Prousts, vom Arzt und Psychoanalytiker André Berge, dem Sohn von Antoinette Faure, auf dem Dachboden des Familienhauses in Le Havre wiederentdeckt. Noch im Dezember desselben Jahres veröffentlichte er den Fragebogen unter dem Titel „Autour d’une trouvaille“ in der gemeinsam mit seinem Bruder François geleiteten Zeitschrift Les Cahiers du mois. Prousts Antworten stießen jedoch zunächst nur auf das Interesse eines – damals noch kleinen – Kreises von Freunden und Bewunderern. Dies änderte sich, als André Maurois den Fragebogen 1949 in seiner Biographie À la recherche de Marcel Proust abdruckte und ihm sogar noch einen zweiten folgen ließ. Dieser zweite Fragebogen trägt den Titel „Les Confidences de Salon“ und wurde früheren Angaben zufolge zwischen 1889 und 1890, als Proust seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger absolvierte, bzw. nach neueren Forschungen zwischen 1893 und 1894 ausgefüllt. Dieser vom Autor mit dem Zusatz „Marcel Proust par lui-même“ überschriebene Fragebogen war lange Zeit im Besitz von Edward Waterman, einem New Yorker Börsenmakler mit frankophilen Neigungen, der sich 1933 von Salvador Dalí porträtieren ließ. Den Fragebogen hatte er 1936 beim Pariser Antiquar Pierre Bères erworben.
Der Specksche Fragebogen, „Mes confidences“, ist von Prousts Hand auf den 25. Juni 1887 datiert, wurde also zwei Wochen vor seinem sechzehnten Geburtstag ausgefüllt, womit es sich um den frühesten uns überlieferten Fragebogen handelt. „Der letzte wird der erste sein“, erklärte Reiner Speck mit sichtlicher Zufriedenheit. Zudem hat Proust allein diesen Fragebogen vollständig ausgefüllt und auf dem Deckblatt als Geburtsort Auteuil angegeben, das schon damals eine Gemeinde von Paris war. Wer will, mag hierin einen ersten Hinweis auf Prousts spätere Beschwörung von Kindheitsorten sehen. Speck zumindest ist sich gewiss: Dieser erste Fragebogen enthalte „die Recherche in nuce“.
Entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist Proust nicht der Verfasser der in den Fragebögen gestellten Fragen, die in Deutschland vor allem durch das frühere FAZ-Magazin bekannt geworden sind. Er hat sie lediglich beantwortet und sich damit an einem Gesellschaftsspiel, einem „jeu à la mode“ beteiligt, das zunächst in England aufgekommen war und bald auch in Frankreich seine Anhänger fand. Karl Marx, Émile Zola oder Stéphane Mallarmé haben solche Fragebögen, die zumeist Bestandteil eines Poesiealbums waren, beantwortet, ebenso Mark Twain oder Lev Tolstoi. Jean-Paul Sartre schildert einen solchen, in rotes Leder eingebundenen Fragebogen aus seiner Kindheit in Die Wörter. Nach der Publikation der beiden ersten Proust-Fragebögen durch André Maurois fanden die Fragen in mal mehr oder weniger modifizierter Form Eingang in diverse Zeitungen und Magazine. Prousts Name verlieh diesem zwischen Geständnis und Gesellschaftsspiel oszillierenden Format, an dem sich Schriftsteller und andere Prominente beteiligten, eine besondere kulturelle Weihe. Auch dieser journalistischen Aneignung des Proust-Fragebogens geht die Kölner Ausstellung anhand oft überraschender Exponate nach, etwa einem Fragebogen aus Vanity Fair von 2004, in dem Donald Trump auf die Frage, was er gerne an sich ändern würde, zur Antwort gibt: „My hair!“ Und mit der ihm eigenen Ironie antwortete Hans Blumenberg, der den Fragebogen 1982 für das FAZ-Magazin ausfüllte, auf die Frage, wer sein Lieblingsschriftsteller sei: „Proust – als er gerade nicht diesen Fragebogen beantwortete.“
Die Ausstellung Le Questionnaire de Proust ist bis zum 5. Januar 2020 in der Bibliotheca Proustiana Reiner Speck zu sehen. Kämpchenweg 58, 50993 Köln-Müngersdorf. Öffnungszeiten: Samstag und Sonntag 11 bis 13 Uhr oder nach Vereinbarung (info@dmpg.de). Ein Katalog ist in Vorbereitung.
Das nächste Symposion der Deutschen Marcel Proust Gesellschaft findet unter dem Titel „Proust und das Judentum“ vom 28. bis 30. November im Literaturhaus in der Fasanenstraße in Berlin statt.
Weitere Informationen unter: https://www.marcel-proust-gesellschaft.de/
Maximilian Gilleßen studierte Philosophie in Berlin und Paris. Er ist Mitglied der Friedrich Schlegel Graduiertenschule und arbeitet an einer Dissertation über den französischen Autor Raymond Roussel.
[1] Marcel Proust: Sodom und Gomorra, übersetzt von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1964, S. 122.