Im April führten wir ein Gespräch mit Lehrenden der Berliner Universitäten über die Herausforderungen des Corona-Semesters. Doch auch für die Studierenden hat sich seitdem eine völlig neue Situation ergeben. Wo Lehre dauerhaft ohne direkte Begegnung auskommen muss, verändert sich das Verhältnis der Studierenden zu ihrer Community, zum Lesen und zum wissenschaftlichen Diskurs. Dabei verschiebt sich auch das Gewicht von sozialen Verpflichtungen, Lohnarbeit oder Care-Arbeit im studentischen Leben.
Im öffentlichen Diskurs scheinen direkte Wortbeiträge aus Studierendensicht eher unterrepräsentiert. In ihrem Gastbeitrag legen Katharina Richter und Christoph Jakubowsky, beide Studierende der Humboldt-Universität zu Berlin, ihre persönliche Perspektive auf Studium und Lehre in der Corona-Pandemie dar. Der Beitrag versteht sich als Anregung zu einer Diskussion der aktuellen Lage aus Sicht der Studierenden.
Bericht von Katharina Richter und Christoph Jakubowsky
Die folgenden Zeilen sollen einen kleinen Einblick aus Studierendenperspektive in das literaturwissenschaftliche Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin in Corona-Zeiten geben. Wir sind Studierende in den Masterstudiengängen „Europäische Literaturen“ beziehungsweise „Deutsche Literatur“. Christoph, im zweiten Mastersemester „Europäische Literaturen“, bereitet die Seminare des kommenden Semesters vor. Katharina, Studentin im vierten Mastersemester „Deutsche Literatur“, nähert sich schon dem Ende ihrer Uni-Zeit und schreibt die letzten Hausarbeiten. Während Christoph daher im Sommer die digitale Lehre aus erster Hand kennenlernte, versuchte Katharina, in Zeiten geschlossener Bibliotheken ihren Recherchearbeiten nachzugehen.
Wie viele andere geisteswissenschaftliche Studiengänge lebt auch das literaturwissenschaftliche Studium von Seminaren. Das Lehrformat fördert und fordert wie kaum ein anderes Dialog und Diskussion zwischen Lehrenden und Studierenden. Was geschieht, wenn man dieses Format, wie seit dem Sommersemester 2020 allenthalben der Fall, in den digitalen Raum verlegt? Einige der Lehrenden in den literaturwissenschaftlichen Fächern an der HU Berlin entschieden sich für ein synchrones digitales Lehrformat: das inzwischen allseits bekannte, wöchentlich stattfindende Zoom-Meeting. Andere setzten auf Selbststudium in Kombination mit unregelmäßigen Videokonferenzen, Gruppenarbeiten oder Forumsdiskussionen auf Online-Plattformen wie Moodle oder Blackboard.
Nach anfänglicher Skepsis wurde schnell klar, dass wöchentliche Zoom-Konferenzen einen brauchbaren Ersatz für Seminare in Präsenz bieten. Nicht nur hielten Server und Internetverbindungen den neuen Belastungen nach anfänglichen Problemen stand, auch die Dialogstruktur des Seminars ließ sich erstaunlich gut ins Digitale übertragen. Natürlich verlief manche Diskussion schleppender als im Seminarraum, spontane Widerreden waren selten möglich und in größeren Gruppen wurde das Gespräch zuweilen unzusammenhängend oder konzentrierte sich auf einige wenige Studierende. Doch diese Phänomene sind uns auch aus Präsenzseminaren durchaus bekannt. Als großer Vorteil der synchronen Digitallehre erwies sich hingegen, dass Lehrende und Studierende auf die gewohnten Arbeitsroutinen und Praktiken des Seminars zurückgreifen können: auf vorbereitende Lektüre, Impulsreferate, personalisierte Wissensvermittlung durch die Lehrenden, gemeinsame Textarbeit und Diskussion. Der wöchentliche Seminartermin rhythmisierte das Studieren auf vertraute Weise. Dass sich diese zentralen Praktiken des literaturwissenschaftlichen Seminars mithilfe von synchronen Lehrformaten durchaus auch im digitalen Raum verwirklichen lassen, scheint in der aktuellen Situation wichtiger zu sein als die Frage der Präsenz im Raum. Das gilt umso mehr, da viele der Schwierigkeiten, die in synchroner Digitallehre auftreten, näher betrachtet nicht neu sind, sondern Varianten von Problemen darstellen, mit denen auch die Präsenzlehre umgehen muss.
Anders sah es bei asynchronen Formaten aus. Hier war Selbststudium gefordert, dessen Früchte in wöchentlich anzufertigenden Forumsbeiträgen verschriftlicht werden sollten, aus denen längere schriftliche Ausarbeitungen oder Gruppenreferate in unregelmäßig stattfindenden Zoom-Sitzungen hervorgingen. Ein Vorzug dieser Formate war es, eigenen Interessen im Rahmen der Vorgaben mit größerer Freiheit nachgehen zu können. Zum Teil war es so möglich, bereits während des Semesters eigene Projekte zu verfolgen und erste Ergebnisse zu präsentieren, wofür sonst meist erst in der Semesterpause Zeit bleibt.
Andererseits sorgte der asynchrone Modus naturgemäß dafür, dass sich die Gelegenheiten verringerten, von den Lehrenden und den Mitstudierenden zu lernen. Zudem war der Arbeitsaufwand, den schriftliche Ausarbeitungen und Gruppenarbeiten produzierten, oft etwas zu hoch angesetzt und überstieg leicht das Pensum, das sonst für die wöchentliche Seminarvorbereitung anfällt. Schließlich waren asynchrone Seminare meist nur für diejenigen Studierenden attraktiv, die im zugehörigen Modul noch Leistungspunkte erwerben mussten. Wo es wenig Aussicht gab, vom Wissen der Professorinnen und dem Austausch mit den Kommilitonen zu profitieren, blieben meist diejenigen fern, die nicht auf Leistungspunkte aus waren, sondern aus purer wissenschaftlicher Neugierde an den Seminaren teilnehmen wollten oder sich Hoffnung machten, in bisher fremde Wissensgebiete hineinzuschnuppern. Dieselben Formate, die punktuell mehr Freiheit im Studium bescherten, drängten zugleich mit neuer Vehemenz zur ökonomischen, punktesammlerischen Seminarauswahl.
Auch jenseits der Lehrveranstaltungen hat die Umstellung auf Digitallehre den Studienalltag und seine Arbeitsroutinen verändert. Wir mussten beide im Laufe des Semesters feststellen, dass unser Zuhause bisher nicht auf stundenlanges Arbeiten am Schreibtisch ausgelegt war. Das viele Sitzen vor dem Computer führte zu Rückenschmerzen und Verspannungen. Christoph kaufte sich Mitte des Semesters einen Schreibtischstuhl und Katharina versuchte mit Yoga gegenzusteuern. Auch mental war es nicht leicht, stets mit sich und dem Computer allein im Zimmer zu sitzen. Uns fehlte die Uni als Begegnungsort, als Ort, an dem man mit seinen Interessen unter Seinesgleichen in Austausch kommt und immer wieder inspiriert wird. Nicht zuletzt fiel mit der coronabedingten Schließung der Berliner Bibliotheken ein wichtiger Arbeitsort für viele Studierende weg, an dem oft nicht nur konzentrierter gearbeitet werden kann als im WG-Zimmer, sondern der auch die entscheidenden Materialien für das literaturwissenschaftliche Arbeiten bereithält: historisch-kritische Ausgaben literarischer Texte, Sondersammlungen mit Handschriften und Drucken und natürlich Forschungsliteratur. Wir beide waren daher gezwungen, die Arbeit an Hausarbeiten zeitweise zu unterbrechen. Später, nach der teilweisen Öffnung der Bibliotheken, erlebten wir Recherche unter Zeitverzögerung, da alle Titel erst bestellt werden mussten, und schleppten schwere Bücherstapel zwischen Wohnung und Bibliothek hin und her.
Erleichtert wurde das literaturwissenschaftliche Studium gleichwohl dadurch, dass sich im Zusammenhang mit den Bibliotheksschließungen das Angebot von digital abrufbarer literaturwissenschaftlicher Forschungsliteratur schlagartig vervielfachte. Hier sollte in Zukunft angeknüpft werden. Denn nun landen Forschungsbeiträge in wenigen Minuten auf dem eigenen Rechner, die sonst mühsam in den Regalreihen der Bibliotheken gesucht werden müssen und die häufig bereits ausgeliehen, verschollen oder nach der Ausleihe bald wieder von anderen vorgemerkt sind. Auch die räumliche Mobilität während des Semesters, die die Digitallehre erlaubt, haben wir zu schätzen gelernt. Wo es die Pandemie-Bestimmungen zulassen, ist es jetzt auch möglich, an Seminarsitzungen teilzunehmen, ohne zu bestimmten Zeiten in Berlin zu sein. Schließlich haben wir im Digitalen viel dazugelernt: Der Umgang mit Moodle oder Zoom ist kompetenter und kreativer geworden. Wir greifen auch für die Zusammenarbeit mit anderen Studierenden mit größerer Selbstverständlichkeit auf digitale Tools zurück. Und auch unser Lesen hat sich verändert: Weil die Uni-Drucker pandemiebedingt nicht zur Verfügung standen, mussten wir lernen, wie man selbst längere, komplexe literarische Texte auch am Computerbildschirm mit der nötigen Aufmerksamkeit lesen kann. Um unsere Lektüren zu strukturieren, verwenden wir neben dem Bleistift nun häufiger auch digitale Markierungs- und Kommentarfunktionen.
Die Bibliotheken bieten mittlerweile wieder Arbeitsplätze an und haben die Ausleihe vereinfacht. Die Arbeit an Haus- und Abschlussarbeiten ist so wieder leichter möglich. Hier und da scheint die Normalität des Studienalltags auf. Nichtsdestoweniger wird nun auch das Wintersemester im Zeichen digitaler Lehre stehen. Die sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät der HU Berlin werden fast ausschließlich digital unterrichten. Das ist keine euphorisch stimmende Aussicht. Aber klar ist auch, dass der Schatz an Erfahrungen aus dem vergangenen Semester den Lehrenden, aber auch uns Studierenden dabei helfen kann und wird, manche Nachteile der Digitallehre abzumildern und manche Vorteile stärker als bisher auszunutzen.
Katharina Richter studiert im Master „Deutsche Literatur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Bachelor in Germanistik und Philosophie absolvierte sie an der Universität Mannheim. Seit 2019 ist sie studentische Hilfskraft am DFG-Graduiertenkolleg „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“ und Teil der Redaktion des Kolleg-Podcasts microform.
Christoph Jakubowsky ist Masterstudent im M.A. „Europäische Literaturen“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor hat er in Leipzig und Cambridge Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Seit 2019 ist er studentische Hilfskraft am DFG-Graduiertenkolleg „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“.
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