Am 1. April 2017 nimmt das DFG-Graduiertenkollegs 2190 “Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen” seine Arbeit an der Humboldt-Universität auf. Ein Interview mit dem Sprecher des Graduiertenkollegs, Prof. Dr. Joseph Vogl.

Interview von Dennis Schep

Können Sie kurz schildern, womit das Kolleg sich beschäftigen wird?

Der Ausgangspunkt des Forschungsprojekts “Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen” besteht zunächst in der Annahme, dass kleine Formen, die genremäßig wenig fixiert sind, einen großen Anteil an der Verfertigung, Zirkulation und Organisation von Wissen haben, oft aber unter der Beobachtungsschwelle bleiben. Damit hängt – und das wäre ein zweiter Punkt – zusammen, dass der Bezug dieser Formen zu unmittelbaren Praxiskontexten oder Gebrauchsroutinen sehr stark ist; dass sie sich weitgehend durch bestimmte praxeologische Perspektiven definieren, unter anderem in Zusammenhang mit bestimmten Medienformaten, und zwar vom medizinischen Aphorismus in der Antike bis zu Fragen von sozialen Netzwerken und Twitter in der gegenwärtigen Kommunikation.

Ein weiterer Aspekt, der eine Rolle spielt, ist das Verhältnis von bestimmten kleinen Formen unterschiedlicher Art – auf literaturwissenschaftlichem Gebiet wäre etwa an Anekdoten, Essays, Tagebuchnotizen, aber auch an Novellen und Kurzgeschichten zu denken – zu großen Formen – wie beispielsweise dem Roman. Welches Spannungsverhältnis gibt es, und welche Funktion haben die kleinen Formen in Absetzung, Abgrenzung oder Opposition zu solchen großen Formen? Dazu gehört auch die Frage, inwieweit mit kleinen Formen bestimmte Sammelaktivitäten verbunden sind. Kleine Formen treten nie im Singular auf, sondern im Plural; der Aphorismus steht nicht allein, sondern in einer Serie von Aphorismen. Auch Gutachten, Exposés, tabellarische Lebensläufe tauchen in Serien auf. Kleine Formen existieren in Text-Populationen.

Zwei Punkte möchte ich vielleicht noch anfügen. Das eine ist, dass sogenannte kleine Formen, die für sich nicht stark definiert sind, einen sehr intensiven Bezug zur Temporalität haben und unter anderem auch Aktualitätsverhältnisse definieren. Das sieht man am deutlichsten natürlich seit dem Aufkommen des Zeitungswesens, im Feuilleton, im Nachrichtenwesen – bis eben zum gegenwärtigen Aktualitätszwang.

Ein anderer Aspekt, der methodisch für uns wichtig ist, sind ‚paper technologies‘ oder ‚little tools of knowledge‘, die in unterschiedlichsten Wissensgebieten wesentlich an der Verfertigung und Verwaltung von Wissen beteiligt sind. Man kann da an Commonplacebooks, Notizbücher, Sudelbücher, Fragebögen, Experimentalaufzeichnungen etc. denken. Diese Fragen wurde in den letzten Jahren im Umkreis der Wissenschaftsgeschichte schon genauer bearbeitet, haben aber innerhalb der Geisteswissenschaften nur vereinzelt Beachtung gefunden, und gerade das ist für uns ein wichtiger Gegenstand: die Frage der Erhebung, der Formierung, der Zirkulation von Wissen auf dem Gebiet der Humanities.

Presse und Feuilleton spielen also eine wichtige Rolle. Hat das Wuchern der kleinen Formen damit einen historischen Index?

Natürlich, und diese historische Dimension wird ganz unmittelbar durch Medien, Praktiken und Institutionen definiert. Die Presse des neunzehnten Jahrhunderts etwa hat nicht nur eine Reihe neuer kleiner Formen, sondern auch die Verkleinerung von Formen hervorgebracht, etwa im Fortsetzungsroman. Oder die pädagogische Praxis: Welche Rolle spielen Textsammlungen und Textauszüge im Unterricht? Welche Bedeutung haben Lebensläufe im Bewerbungsverfahren? Und schließlich: Welche Position übernehmen solche Formen in der Institutionalisierung von Wissen? Denken Sie etwa an die Produktion von Protokollen, Exposés und Gutachten im Wissenschaftsbetrieb.

Auf der Website ist die Rede von Wissensverwaltung und Aufmerksamkeitssteuerung. Werden diese Themen vielleicht gerade relevant, wenn es ein Zuviel an Wissen gibt?

Lassen Sie es mich so sagen: Kleine Formen besetzen dort eine besonders kritische Position, wo einerseits die Organisation von Wissen, andererseits die Steuerung von Öffentlichkeiten auf dem Spiel steht. Und immer geht es dabei um die Bewältigung von Redundanz. Wissensexplosionen waren stets mit Filterungsprozessen verbunden und haben unter dem Druck der Kanonisierung neue Formate und Symbiosen erzeugt: etwa die Sammlung von kleinen Formen in Gestalt von Artikeln in der großen Form der Enzyklopädie. Und wenn heute Politik dem Takt von Kurznachrichten, Tweets und ‚breaking news’ folgt, so geht es um die Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit angesichts von Überschuss und Redundanz – nur das Grelle, Kurze und Krasse hat unter aktuellen Medienbedingungen eine Chance.

Bei Lyotard gibt es die Definition der Postmoderne als Ungläubigkeit gegenüber Meta-Narrativen. Abgesehen davon, ob “postmodern” ein gewinnbringender Term ist oder nicht – werden die kleine Formen vielleicht virulent, wenn die Metanarrative ihre Glaubwürdigkeit verlieren?

Zumindest erzeugt die Beobachtung kleiner Formen ein gewisses Misstrauen gegenüber Groß- und Metanarrativen und vielleicht sogar gegenüber der Haltbarkeit schematischer Unterscheidungen wie ‚Moderne’ und ‚Postmoderne’. Und tatsächlich lässt sich immer wieder beobachten, wie kleine Formen zuweilen eine gewisse Schärfe im Sturz großer Formate gewinnen. So hatte Kleist etwa seine Anekdoten oder Novellen gesetzt: kurze Punkterzählungen und die Aktivierung von Begebenheiten, an denen die Sinnzusammenhänge historischer Großerzählungen kollabieren. Für eine Theorie oder Poetik kleiner Formen wären solche Momente von Sturz und Fall ein wichtiger Aspekt.

Sind große Formen jetzt dabei zu verschwinden, oder von kleinen Formen verdrängt zu werden?

Nicht unbedingt, aber es ist natürlich richtig, dass so etwas wie der Roman eigentlich durch unsere literarische Landschaft zieht wie ein Mammut oder wie ein Dinosaurier; wie etwas, das sich überlebt hat und doch irgendwie weiter existiert. Zugleich aber wird dadurch eine höhere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, inwieweit große Erzählmuster – und da ist der Roman, wenn man so will, ein Exemplar mit fast ewigem Leben – bevölkert sind von kleinen Formen. Der Roman sichert sein trotziges Überleben nicht zuletzt durch seine Fähigkeit, kleine Formen, Miniaturen, Intarsien zu integrieren, im Grunde hat ihn das stets begleitet – die Flöhe und Parasiten im dicken Pelz. Und oft ist es gerade der Austausch von kleiner und großer Form, der einige Wirksamkeit verspricht – etwa die Verwandlung vom Blog zum Buch wie bei Herrndorf oder Goetz.

Jetzt sprechen wir über Literatur. Das Kolleg soll aber auch Wissenschaft und Populärkultur behandeln…

Im Grunde verfolgen wir drei wesentliche Arbeitsfelder: erstens, die kleinen Prosaformen in der Literatur, die ich bereits erwähnte. Zweitens in der Wissenschaft, wo sich kleine Formen durch konkrete Anwendungsgebiete definieren: Protokolle, Notizen, Untersuchungsberichte, Gutachten, Rezensionen, Pasquillen… Und drittens, die Populärkultur, wo sich verschiedene Perspektiven ergeben: seien es ‚Volkskulturen’ an der Schwelle zu Schriftlichkeit und die Zirkulation von kleinen oder einfachen Formen wie Märchen oder Legenden; sei es die Popularisierung von Wissenschaften in spezifischen Kleinformen, vom populären wissenschaftlichen Vortrag bis zum Wissenschaftsjournalismus; schließlich der Zusammenhang von Kleinformen und modernen Massenmedien.

Spielt das auch eine Rolle für die Zusammensetzung des Kollegs?

Was uns besonders interessiert, für den Start dieses Graduiertenkollegs, ist die Versammlung von Kompetenzen, auch auf der Ebene der Doktorandinnen und Doktoranden, die wenn möglich einen weiten historischen Rahmen abstecken, der bei uns von der Antike bis zur Gegenwart reichen soll und auch Leute integriert, die in den jüngsten Technologien bewandert sind. Wir wollen aber auch ein breites fachliches Spektrum repräsentieren, das von der Wissenschaftsgeschichte über die Medienwissenschaft bis hin zu den Philologien und dort zu Fragen der Didaktik und Pädagogik reicht. Dabei schließen wir Selbstbeobachtung nicht aus und wollen der Tatsache Rechnung tragen, dass elementare Prozeduren der Ausbildung von der Schule bis zur Promotion nicht funktionieren ohne Versiertheit in diesen kleinen Formen. Die Übung in kleinen Formen ist unser Alltagsgeschäft.

Ist das auch ein institutionskritisches Anliegen? Man hört ja immer, dass Professoren die Hälfte der Zeit mit Gutachten beschäftigt sind.

Natürlich. Jede Beobachtung einer Institution bringt die Identifikation ihrer kritischen und prekären Momente mit sich. Und so gibt es auch biographische Rückkopplungen bei diesem Projekt, insofern der Großteil unserer Tätigkeit eben in der Artistik im Umgang mit kleinen Formen besteht; vom Empfehlungsbrief über das Gutachten bis zur Projektskizze. Das betrifft inzwischen 50 bis 60% von dem, was wir schreiben. Warum also nicht über das Schreiben von Gutachten schreiben. Eine kleine Rache am überhitzten Betrieb.

Die Wissenschaftler kommen kaum noch dazu, Bücher zu schreiben…

Das sagt man, und das stimmt. Dinge wie Bücherschreiben sind Privatsache oder das Privileg derjenigen, die sich Drittmittelzeit kaufen. Und das entspricht der allgemeinen Tendenz: Herkommend von den Naturwissenschaften wird der Artikel, wenn möglich peer-reviewed, zur Königsdisziplin; kleine Formen mit viel Evaluierungsaufwand. Auch die Geisteswissenschaften hyperventilieren und sind inzwischen recht kurzatmig geworden.

Sehnen Sie danach, wieder an großen Formen zu arbeiten?

Meine Sehnsüchte verrate ich nicht. Aber wie viele andere meiner Kolleginnen und Kollegen wünschte ich mir etwas mehr Gelegenheit zur Konzentration, man könnte das auch Bedenkzeit nennen. Das Diktat der Kurzfristigkeit wurde wohl ausgedacht, um vertiefte Analysen zu verhindern.