Mosse-Lecture: Dieter Thomä
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch nicht lebensfähig. Über das Individuelle hinaus sind Entscheidungen kommunikative Akte, die kulturellen, institutionellen und politischen Regeln folgen. Diese Regeln legen fest, was überhaupt als Entscheidung gilt, wie darüber gesprochen wird und vor allem: wer unter welchen Bedingungen entscheiden kann. Entscheidungen sind also weder nur alltäglich, noch ist selbstverständlich, dass Menschen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind das Resultat ihrer sozialen Hervorbringung und damit eine Form gesellschaftlichen Handelns, die sich historisch verändert und das Selbstverständnis moderner Gemeinwesen als »Entscheidungsgesellschaften« (Uwe Schimank) grundlegend bestimmt.
Allerdings begegnen Entscheidungen immer wieder dem Problem ihrer Begründung angesichts begrenzter Ressourcen auf der einen und einer (quantitativen) Zunahme von Entscheidungsprozessen im Zuge einer »reflexiven Modernisierung« (Ulrich Beck) auf der anderen Seite. Entscheidungen lassen sich als ein Abwägen von Handlungsmöglichkeiten verstehen, das hilft, angesichts einer Vielzahl möglicher Ausgänge ein Ende zu bestimmen und zu begründen. Was damit in den Blick gerät, ist neben der Ereignishaftigkeit des Dezisionismus vor allem die zeitliche Dimension von Entscheidungsprozessen. Gerade die andauernden politischen Krisen der Gegenwart zeigen eine Dramatisierung solcher Entscheidungsprozesse, deren Ausgang nicht ›gewiss‹ sein kann und in der die Langsamkeit demokratischer Verfahren zunehmend auf die Forderung entschiedenen Handelns trifft.
Im Sommersemester 2024 erkunden die Mosse Lectures Entscheidungen als kulturelle, soziale und politische Praxis: Unter welchen Bedingungen wird entschieden und was muss vorausgesetzt sein, damit wir eine Entscheidung als solche wahrnehmen und benennen können? Wie wurden Entscheidungen kulturell gerahmt und metaphorisiert, welche Mythen und Erzählungen machen Akteure zu ›Entscheidern‹ und Institutionen zu Orten der Entscheidung? Welche Rolle spielt der Zufall in Entscheidungsprozessen? Wie verändern sich Entscheidungen in ihren Bedingungen und Grenzen, wenn sie zunehmend an digitale Technologien delegiert werden? Und wie lässt sich schließlich die Verweigerung von Entscheidung als entschiedener Protest und politischer Widerstand begreifen?
Dieter Thomä
Ich war’s! Keiner ist es gewesen! Zur Dramatisierung und Entdramatisierung von Entscheidungen
mit Ethel Matala de Mazza
Donnerstag, den 23. Mai 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Zu beobachten sind derzeit zwei gegenläufige Bewegungen: Einerseits kommt es zu einer Dramatisierung der Selbstverantwortung und der Wahlfreiheit der Individuen. Andererseits wird der Entscheidungsspielraum der Individuen eingeschnürt – unter Verweis auf Strukturen und Prozesse, die dem Zugriff entzogen sind. Das heißt: Neben den Ichzwang tritt der Sachzwang, neben die Ermächtigung die Entmachtung. Diese zeitdiagnostischen Beobachtungen finden ihre Entsprechung in systematischen Befunden aus Handlungstheorie und Sozialphilosophie. Zur Dramatisierung von Entscheidungen gehören gewisse Theorien individueller Freiheit und Entbettung, zu deren Entdramatisierung Theorien des Determinismus und der Einbettung des Individuums. Dieser Vortrag skizziert eine Kritik an jener Doppelung in zeitdiagnostischer wie auch in systematischer Hinsicht und entwickelt ein Handlungs- und Entscheidungsmodell, das von Narratologie und Genealogie inspiriert ist.
DIETER THOMÄ: Philosoph, bis 2023 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen; seit 2003 ist er Mitherausgeber der Reihe »Zur Einführung« des Junius Verlages; Thomä war Fellow u.a. am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Institute for Advanced Study in Princeton sowie Gastprofessor an der Brown und an der Yale University; seine Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialphilosophie, Ethik, Kulturphilosophie, politische Philosophie und Phänomenologie sowie – in all diesen Bereichen – die sokratische Frage, »wie zu leben sei«; Dieter Thomä ist Autor zahlreicher Monographien, die in mehrere Sprachen übersetzt worden sind.
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Zeit
23. Mai 2024 19:15 - 20:45(GMT+01:00)