Mosse-Lecture: Marietta Auer
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch nicht lebensfähig. Über das Individuelle hinaus sind Entscheidungen kommunikative Akte, die kulturellen, institutionellen und politischen Regeln folgen. Diese Regeln legen fest, was überhaupt als Entscheidung gilt, wie darüber gesprochen wird und vor allem: wer unter welchen Bedingungen entscheiden kann. Entscheidungen sind also weder nur alltäglich, noch ist selbstverständlich, dass Menschen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind das Resultat ihrer sozialen Hervorbringung und damit eine Form gesellschaftlichen Handelns, die sich historisch verändert und das Selbstverständnis moderner Gemeinwesen als »Entscheidungsgesellschaften« (Uwe Schimank) grundlegend bestimmt.
Allerdings begegnen Entscheidungen immer wieder dem Problem ihrer Begründung angesichts begrenzter Ressourcen auf der einen und einer (quantitativen) Zunahme von Entscheidungsprozessen im Zuge einer »reflexiven Modernisierung« (Ulrich Beck) auf der anderen Seite. Entscheidungen lassen sich als ein Abwägen von Handlungsmöglichkeiten verstehen, das hilft, angesichts einer Vielzahl möglicher Ausgänge ein Ende zu bestimmen und zu begründen. Was damit in den Blick gerät, ist neben der Ereignishaftigkeit des Dezisionismus vor allem die zeitliche Dimension von Entscheidungsprozessen. Gerade die andauernden politischen Krisen der Gegenwart zeigen eine Dramatisierung solcher Entscheidungsprozesse, deren Ausgang nicht ›gewiss‹ sein kann und in der die Langsamkeit demokratischer Verfahren zunehmend auf die Forderung entschiedenen Handelns trifft.
Im Sommersemester 2024 erkunden die Mosse Lectures Entscheidungen als kulturelle, soziale und politische Praxis: Unter welchen Bedingungen wird entschieden und was muss vorausgesetzt sein, damit wir eine Entscheidung als solche wahrnehmen und benennen können? Wie wurden Entscheidungen kulturell gerahmt und metaphorisiert, welche Mythen und Erzählungen machen Akteure zu ›Entscheidern‹ und Institutionen zu Orten der Entscheidung? Welche Rolle spielt der Zufall in Entscheidungsprozessen? Wie verändern sich Entscheidungen in ihren Bedingungen und Grenzen, wenn sie zunehmend an digitale Technologien delegiert werden? Und wie lässt sich schließlich die Verweigerung von Entscheidung als entschiedener Protest und politischer Widerstand begreifen?
Marietta Auer
Aporien moderner Entscheidungsfreiheit: Liberales Paradoxon und digital konditioniertes Subjekt
mit Michael Kämper-van den Boogaart
Donnerstag, den 20. Juni 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Der Vortrag beleuchtet das Drama des kollektiven Entscheidens in den liberalen Demokratien des Westens aus zwei Blickrichtungen. Zum einen ist seit einiger Zeit vermehrt zu beobachten, dass sich über grundlegende Fragen des Zusammenlebens kein Konsens über gemeinsame Werte und Interessen mehr erzielen lässt. Dabei handelt es sich nicht um ein neues Phänomen, sondern um das klassische „liberale Paradoxon“: Liberale Demokratien besitzen keine übergeordnete Entscheidungsregel, um einen Konsens über den Gegenstand des politischen Konsenses herzustellen. Probleme der Art „Wieviel Freiheit den Freiheitsfeinden?“ prägen daher nicht zufällig den öffentlichen Diskurs. Zum anderen erfahren gerade diese fundamentalen Entscheidungsprobleme der liberalen Demokratien in den Echokammern des Internets eine fatale Selbstverstärkung. Kollektive Entscheidungsprozesse kranken heute nicht mehr nur an der Inkommensurabilität individueller Selbstentwürfe, sondern vielmehr an der digitalen Konditionierung des öffentlichen Diskurses, der seine Funktion als Forum kollektiver Rationalität nicht mehr erfüllen kann. Digital konditionierte Subjekte tragen dazu bei, die Institutionen der liberalen Gesellschaft zu untergraben und die Sprengkraft des liberalen Paradoxons zu potenzieren.
MARIETTA AUER: Rechtswissenschaftlerin, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie; von 2013–2020 Professorin für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Auer war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und erhielt 2022 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft; ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Privatrecht und den multidisziplinären Grundlagen des Rechts, in der soziologischen und philosophischen Ideengeschichte des Privatrechts, der Privatrechtstheorie und der Rechtsdogmatik des bürgerlichen Rechts; zuletzt erschien der Band »Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie«.
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Zeit
20. Juni 2024 19:15 - 20:45(GMT+01:00)