Mosse-Lecture: Steffen Mau
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch
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Vom Alltag bis zum ›Lebensweg‹: Entscheidungen sind Einschnitte in der Zeit, die regelmäßig zu Wendepunkten für das individuelle Leben werden. Ohne Entscheidungen ist der Mensch nicht lebensfähig. Über das Individuelle hinaus sind Entscheidungen kommunikative Akte, die kulturellen, institutionellen und politischen Regeln folgen. Diese Regeln legen fest, was überhaupt als Entscheidung gilt, wie darüber gesprochen wird und vor allem: wer unter welchen Bedingungen entscheiden kann. Entscheidungen sind also weder nur alltäglich, noch ist selbstverständlich, dass Menschen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind das Resultat ihrer sozialen Hervorbringung und damit eine Form gesellschaftlichen Handelns, die sich historisch verändert und das Selbstverständnis moderner Gemeinwesen als »Entscheidungsgesellschaften« (Uwe Schimank) grundlegend bestimmt.
Allerdings begegnen Entscheidungen immer wieder dem Problem ihrer Begründung angesichts begrenzter Ressourcen auf der einen und einer (quantitativen) Zunahme von Entscheidungsprozessen im Zuge einer »reflexiven Modernisierung« (Ulrich Beck) auf der anderen Seite. Entscheidungen lassen sich als ein Abwägen von Handlungsmöglichkeiten verstehen, das hilft, angesichts einer Vielzahl möglicher Ausgänge ein Ende zu bestimmen und zu begründen. Was damit in den Blick gerät, ist neben der Ereignishaftigkeit des Dezisionismus vor allem die zeitliche Dimension von Entscheidungsprozessen. Gerade die andauernden politischen Krisen der Gegenwart zeigen eine Dramatisierung solcher Entscheidungsprozesse, deren Ausgang nicht ›gewiss‹ sein kann und in der die Langsamkeit demokratischer Verfahren zunehmend auf die Forderung entschiedenen Handelns trifft.
Im Sommersemester 2024 erkunden die Mosse Lectures Entscheidungen als kulturelle, soziale und politische Praxis: Unter welchen Bedingungen wird entschieden und was muss vorausgesetzt sein, damit wir eine Entscheidung als solche wahrnehmen und benennen können? Wie wurden Entscheidungen kulturell gerahmt und metaphorisiert, welche Mythen und Erzählungen machen Akteure zu ›Entscheidern‹ und Institutionen zu Orten der Entscheidung? Welche Rolle spielt der Zufall in Entscheidungsprozessen? Wie verändern sich Entscheidungen in ihren Bedingungen und Grenzen, wenn sie zunehmend an digitale Technologien delegiert werden? Und wie lässt sich schließlich die Verweigerung von Entscheidung als entschiedener Protest und politischer Widerstand begreifen?
Steffen Mau
Keine Zeit. Zum Verhältnis von politischen Entscheidungen und sozialem Wandel
mit Ulrike Vedder
Donnerstag, den 04. Juli 2024 | 19.15 Uhr | Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin
Die Organisation und Bewältigung beschleunigten sozialen Wandels setzen Gesellschaften unter Stress. Anders als in relativ statischen Gesellschaften mit etablierten Arrangements und Befriedungsformeln, brechen in Wandlungsgesellschaften viele Konflikte auf. Zugleich steht die Politik unter Zugzwang, schnell Entscheidungen zu treffen und Weichenstellungen vorzunehmen, will sie nicht vom Lauf der Dinge überrollt werden. Der Vortrag thematisiert das Verhältnis von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Er diskutiert die Probleme früher wie auch verschleppter Entscheidungen und die unterschiedliche Taktung von Gesellschaft und Politik. An den Beispielen der ostdeutschen Transformation ab 1989 und der sozialökologischen Transformation werden die Voraussetzungen, die Begleiterscheinungen und die langfristigen Folgen von politischen Entscheidungen verdeutlicht.
STEFFEN MAU: Soziologe, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin; er war 2022/23 Mitglied in der Arbeitsgruppe »Zukunft der Arbeit« an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie in der Jury für den Standortwettbewerb für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation und erhielt 2021 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft; er forscht u.a. zur sozialen Ungleichheit, zur Transnationalisierung, zur europäischen Migration und Integration, zur politischen Soziologie, zur Soziologie der Grenze und der Digitalisierung; zuletzt erschien (gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser) der Band »Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft«.
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Zeit
4. Juli 2024 19:15 - 20:45(GMT+02:00)