Mosse-Lectures: Hans Ulrich Gumbrecht
Details
– mit Jonas Lüscher Wenn wir uns mit dem Begriff der „Präsenz“ auf jene unaufhebbare körperlich-räumliche Dimension beziehen, mit der Menschen – neben dem Impuls
Details
– mit Jonas Lüscher
Wenn wir uns mit dem Begriff der „Präsenz“ auf jene unaufhebbare körperlich-räumliche Dimension beziehen, mit der Menschen – neben dem Impuls der Sinnzuschreibung – auf alle Gegenstände ihres Bewusstsein reagieren, dann hat die Pandemie-Gegenwart einen mit der frühen Neuzeit einsetzenden Prozess der Präsenz-Abnahme zu einem kaum noch unterbietbaren Minimum gebracht. Und wir überleben erstaunlich gut zwischen elektronischen Gestellen, die Raum und Körper einklammern, so gut, dass man sich ab und an nostalgische Erinnerungen an Präsenz leisten kann. Doch dies ist gerade nicht jene Präsenz, welche Bewohner des fortgeschrittenen einundzwanzigsten Jahrhunderts existentiell brauchen. Wie ließe sich dagegen eine Präsenz beschreiben und heraufbeschwören, die der Sehnsucht entgegenkäme, uns in einer als Komplexität ohne Verbindlichkeiten erlebten Gegenwart an etwas festhalten zu können?
Hans Ulrich Gumbrecht ist ein deutsch-amerikanischer Literaturwissenschaftler, Romanist und Publizist, der bis zu seiner Emeritierung 2018 den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University innehatte; seine Forschungsinteressen liegen u.a. in Gegenwartskonstruktionen und Fragen der Präsenz, in diesem Zuge entstanden u.a. die Publikationen Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz (2004), Präsenz (2012) und Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen (mit René Scheu, 2020); für sein Werk erhielt Gumbrecht zahlreiche Ehrendoktorwürden und den Kulturpreis der Stadt Würzburg.
Jonas Lüscher ist ein schweizerisch-deutscher Autor und Essayist; 2013 literarisches Debut mit der mehrfach ausgezeichneten Novelle Frühling der Barbaren; 2017 erschien sein erster Roman Kraft, für den er den Schweizer Buchpreis erhielt; Lüscher war zunächst als Lehrer in Bern und anschließend als Dramaturg in der deutschen Filmindustrie tätig; später Beschäftigung an mehreren Hochschulen; sein literarisches Schreiben ist geprägt von Fragen nach der Bedeutung des Erzählens für die Wirklichkeits- und Gegenwartskonstitution; zuletzt erschien u.a. Ins Erzählen flüchten (2020).
Semesterthema: Theater der Gegenwart
Was Gegenwart ist und wie sie sich zeigt, wird spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Den gemeinsamen Hintergrund moderner Gegenwartsreflexionen bildet die widersprüchliche Erfahrung einer angesichts zunehmender Beschleunigungs- und Innovationsprozesse „schrumpfenden Gegenwart“ (Hermann Lübbe), die zugleich „breiter“ (Hans Ulrich Gumbrecht) erscheint, insofern eben jene (digitalen) Innovationen, aber auch veränderte theoretische Perspektiven auf Geschichte die Simultanität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen führen. Die Ambivalenz einer schwindenden und zugleich sich ausdehnenden Gegenwart lässt sich auch für den räumlichen Bedeutungshorizont des Gegenwartsbegriffs festhalten. Gerade die Jahre 2020 und 2021 haben deutlich gemacht, dass wir in einer Zeit des eklatanten Anwesenheitsschwundes leben, wobei sich die Präsenz von Personen, Räumen und Gegenständen scheinbar nur mit einem Klick herstellen lässt. Mehr denn je hat sich Gegenwart darüber hinaus als etwas erwiesen, das nicht einfach da ist, sondern im Rahmen medialer, politischer, kultureller und sozialer Praktiken hergestellt und organisiert wird. Die Mosse Lectures wollen jene Performanz des Gegenwärtigen, aber auch gegenwärtige Performanzen genauer in den Blick nehmen: Welches sind die Schauplätze, an denen Aktualität und Präsenz zur Aufführung gelangen? Neben hochgradig performativen Settings wie dem Parlament, dem Gerichtssaal und dem Theaterraum selbst sind hier auch weniger offenkundige Bühnen, Transitzonen und digitale Kommunikationsräume angesprochen, in denen ganz neue Fragen und Formen der (flüchtigen) Anwesenheit aufgerufen werden. Während sich viele Theater bemühen, die Krisen der Gegenwart und ihre Akteure auf ihre großen und kleinen Bühnen zu holen, wird die Straße als politische Bühne wiederentdeckt und fusioniert die Performance mit den sozialen Netzwerken. Im Hinblick auf diese Vielfalt theatralischer Räume und theatralischer Praktiken erkunden die Mosse Lectures im WS 2021/22 die Selbstinszenierung der Gegenwart.
Die Mosse Lectures werden im Senatssaal der HU, Unter den Linden 6, stattfinden. Es gelten die 2-G-Regel sowie die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske. Zusätzlich werden die Lectures als Livestream hier zu verfolgen sein. Zur Teilnahme an den Präsenz-Veranstaltungen bitten wir um Anmeldung per Mail: info@mosse-lectures.de.
Mehr anzeigen
Zeit
27. Januar 2022 19:15 - 20:45(GMT+01:00)