Mosse Lectures: Hartmut Böhme
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mit Ulrike Vedder Ausgehend von Francisco Goyas Capriccios zum »Schlaf der Vernunft« werden wesentliche Zustände sowie Grenzphänomene des Schlafes untersucht. Nach einer überblicksförmigen Sicherung der
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mit Ulrike Vedder
Ausgehend von Francisco Goyas Capriccios zum »Schlaf der Vernunft« werden wesentliche Zustände sowie Grenzphänomene des Schlafes untersucht. Nach einer überblicksförmigen Sicherung der wesentlichen Phänomene des Schlafes werden die semantischen Felder skizziert, die dazu geführt haben, dass Erscheinungsweisen und Praktiken des Schlafes metaphorisch gedeutet wurden. Dadurch wurden z.B. Müdigkeit, Schlaf, Schlafwandeln, Traum und Erwachen, die eigentlich leibliche und phantasmatische Zustände oder Vorgänge sind, zu ›Quellgebieten‹ von Metaphern: diese fügten den politischen Zuständen oder Handlungen kulturellen ›Sinn‹ hinzu. So wurden dem politischen System Bedeutungsebenen implantiert, welche die Begrenzung des Politischen auf das Bewusste und Diskursive als definierende Merkmale der Politik infragestellen oder gar aufheben. Halluzinatorische oder somnambule Kollektiv-Zustände gehören demnach ebenso zum Politischen wie traumartige Illusionen oder eine erschöpfende Fatigue von je einzelnen Subjekten. Aber auch politische Aufbruchsbewegungen können als ‚Erwachen‘ aus einem allgemeinen Zustand des Dämmerns und des Unbewussten gedeutet werden. Im 20. Jahrhundert wurden die pharmazeutischen und toxischen Mittel entscheidend, die sämtliche Ebenen und Grenzzustände des Schlafes in ein ‚Regime‘ verwandeln. Hat diese ‚Verkünstlichung‘ des Schlafes und des Wachens auch eine regulative, womöglich anästhetisierende und manipulative Kraft im Politischen entwickelt? – Naturwissenschaftliche Perspektiven auf den Schlaf werden hier nicht zum Thema. Vielmehr werden Spuren der Sprache und der kulturellen Imagologie verfolgt, welche unsere Sicht auf die Politik erweitern können.
HARTMUT BÖHME: Literatur- und Kulturwissenschaftler, bis zu seiner Emeritierung Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; Böhme war Leiter verschiedener Forschungs-Projekte – unter anderem des Sonderforschungsbereichs Transformationen der Antike, des Graduiertenkollegs Codierungen der Gewalt im medialen Wandel; Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in den USA und in Japan sowie Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar und am kulturwissenschaftlichen Institut Essen; zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehört neben der Kulturtheorie und der Literaturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert die Kulturgeschichte seit der Antike, die Theorie und Geschichte des Fetischismus, die Wissenschafts- und Bildgeschichte und die historische Anthropologie und Psychohistorie.
Mosse Lectures Wintersemester 2023/24: Sleep Modes. Über Wachen und Schlafen
Mit verlässlicher Regelmäßigkeit nimmt der Mensch sich raus aus der Welt; ein Drittel seines Lebens verbringt er schlafend. Während dieser Zeit sind wir wie „ungeboren“, schreibt Sigmund Freud einmal. „Jedes Erwachen ist dann wie eine erneute Geburt.“ Und umgekehrt, so ließe sich hinzufügen: Mit jeder Geburt beginnt eine lebenslange Beziehung zu Schlaf und Erwachen. Dass diese Beziehung aber weder nur „natürlich“ noch komplikationsfrei verläuft, sondern aufs Engste an die Schlafkulturen ihrer jeweiligen Zeit gebunden ist, offenbart ein Blick in die Geschichte des Schlafs. Wie schon Kinder an einen alltagstauglichen Schlafrhythmus herangeführt werden, was man sich unter einem guten bzw. gesunden Schlaf vorstellt, wie mit Schlafstörungen umgegangen und Schlaf medizinisch überwacht und gefördert wird, unterliegt historisch veränderlichen Vorzeichen.
Spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert rückte der Schlaf in den Fokus der kollektiven Aufmerksamkeit: Infolge einer Reihe gesellschaftlicher Umbrüche, unter anderem die Mechanisierung der Arbeit und die Erfindung des elektrischen Lichts, wurde die Einteilung in Tagwerk und Nachtruhe prinzipiell obsolet – gearbeitet werden konnte nun theoretisch zu jeder Zeit. Schlaf erschien vor diesem Hintergrund als eine befragenswerte Notwendigkeit, die es zu verstehen, beforschen, optimieren oder auch zu überwinden galt. Die in dieser Zeit von Unternehmern, Ärzten und Schlafforschern angestoßene Vermessung und Ökonomisierung des Schlafs (Hannah Ahlheim) setzt sich bis heute fort, wobei sie zunehmend zu einer Selbsttechnik avanciert ist: Mithilfe spezieller Apps können wir den Rhythmus und die Qualität unseres Schlafs präzise überwachen; online abrufbare Schlafmeditationen sollen uns beim Einschlafen helfen; gegen nächtliche Unruhe stehen Arzneimittel und Schlaftherapien bereit.
Im Wintersemester 2023/24 möchten die Mosse Lectures die ökonomische, kulturelle und politische Bedeutung des Schlafs und seiner Gegenspielerin, der Schlaflosigkeit erkunden: Woher rührt die ungebrochene Faszination am Schlaf und welche Herausforderungen sind nach wie vor mit seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Erkundung verbunden? Wie wurde Schlaf politisch metaphorisiert und welche Rolle spielt er für Erzählungen individueller und politischer Handlungsversäumnisse? Unter welchen Umständen kann Schlaf wiederum zu einem emanzipativen Akt des Widerstands gegenüber den Anforderungen einer Gesellschaft werden, die auf größtmögliche Leistungsbereitschaft und Effizienz ausgerichtet ist?
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Zeit
11. Januar 2024 19:15 - 20:45(GMT+02:00)