‚wunder‘ in Serie
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Workshop organisiert vom SFB-Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“ Auch wenn beim wunder im
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Workshop organisiert vom SFB-Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“
Auch wenn beim wunder im theologischen Sinne das Eingreifen Gottes und damit ein unvordenklicher Vorgang im Zentrum steht, handelt es sich doch nicht um einen Einzelfall. Legendarisches Erzählen zeigt das deutlich. Bei Wundern der Natur, die sich nicht unmittelbar auf das Handeln Gottes zurückführen lassen, tritt die Bedeutung des Plurals umso mehr hervor. Denn seit dem Hochmittelalter ist die Mehrzahl für Naturwunder (mirabilia) in epistemologischer Hinsicht konstitutiv: Sie müssen einer Gruppe entsprechender Phänomene zugeordnet werden können, um als Gegenstände des Wissens erfasst zu werden. So versteht beispielsweise Thomas von Cantimpré in De natura rerum nicht singuläre Wesen als Mirabilien, sondern Exemplare bestimmter menschenähnlicher Spezies, der so genannten Wundervölker. Mit dieser Bestimmung wird eine grundlegende Spannung des Wunderbaren vermittelt: zwischen dem singulären Phänomen und der Reihe, der es zugeordnet wird.
Was in epistemologischer Perspektive für Mirabilien im Hochmittelalter konstitutiv wird, stellt in ästhetischer Perspektive eine Herausforderung dar. Im frühen 13. Jahrhundert geht Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia unter anderem auf die Potenziale der Darstellung von Mirabilien ein. Gervasius konstatiert, dass mit wunder-Erzählungen der Anspruch verbunden ist, Neues zu schildern, und markiert das Wunderbare damit als Spielfeld ästhetischer Innovationen. So kommt in den Blick, dass Darstellung und Wahrnehmung von wundern stets an Traditionszusammenhänge und damit an andere wunder gebunden sind: Mirabiliendarstellungen werden als serielles Phänomen kenntlich. Drohender Gleichförmigkeit und Vertrautheit müssen Schilderungen des Wunderbaren mit dem Eindruck des Neuen begegnen. Mit Hilfe welcher Verfahren der erreicht werden kann, lässt Gervasius offen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage nach der impliziten Ästhetik sprachlicher Darstellungen von ‚Wundern‘ im Modus der Serie, die auf diesem Workshop anhand von Fallstudien näher untersucht werden soll. Elemente des Wunderbaren im Plural können dabei sowohl als Phänomene der Retextualisierung als auch als Serien innerhalb von Einzeltexten in den Blick kommen. In Einzeltexten können Mirabilien in syntagmatischer Nachbarschaft verbunden oder unverbunden nebeneinanderstehen und spezifische Kontiguitätsbeziehungen eingehen. Zudem können sie in ausgedehnten Erzählzusammenhängen paradigmatische Reihen mit je eigenen Bedeutungsdimensionen ausbilden. Im Sinne von Gervasius’ Forderung nach der Innovativität von Mirabiliendarstellungen stellt sich die Frage, ob diesen wunder-Reihen Figuren der Steigerung und Überbietung eigen sind oder ob der Eindruck des Neuen auch durch andere Formen der Differenzierung hervorgebracht werden kann. Außerdem ist zu fragen, ob identifizierbare Instanzen im Text eine jeweilige Serie herstellen und ob Verfahren der Zusammenstellung in der erzählten Welt Ansatzpunkte für die poetologische Reflexion bieten. In epistemologischer Perspektive sind schließlich die Auswirkungen der Akkumulation auf die Klassifikation von Mirabilien von Interesse: Führen sie zur Verähnlichung oder zu Differenzierungen und womöglich zu weiteren epistemischen Gruppen?
Zum Ende der Arbeit des Teilprojekts B02 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 980 richtet der Workshop den Fokus auf Vielzahl und Fülle des Wunderbaren sowie auf ästhetische und epistemische Implikationen des für das Wunderbare grundlegenden Darstellungsmodus der Serie. Der Blick auf sprachliche Verfahren der Akkumulation von wundern eröffnet überdies weiterführende kulturhistorische Perspektiven: Die Untersuchung von wundern in Serie kann auch Anhaltspunkte bieten für die Analyse nicht-textueller Praktiken des Sammelns in Mittelalter und Frühen Neuzeit.
Programm
Donnerstag, 14.03.2024
14 Uhr
Jutta Eming, Tilo Renz
Begrüßung und EinführungModeration: Jutta Eming (Berlin)
14:15
Livia Cárdenas (Berlin)
Konkurrierende Heilige. Narrative und visuelle Spiegelungen Nürnberger und Bamberger Reliquien im Spätmittelalter
15:15
Nina Nowakowski (Mainz)
Akkumulierendes Variieren. Heilskombinatorik in Marienmirakeln
16:15 PauseModeration: Judith Klinger (Potsdam)
16:45
Falk Quenstedt (Greifswald)
Simultanität des Seriellen: Der Trierer Hexentanzplatz in Thomas Sigfrids Traktat von 1593
17:45
Susanne Reichlin (München)
Serielle Vulnerabilität von Marienpildern im Nürnberger Marienbuch
19:15 Abendessen
Freitag, 15.03.2024
Moderation: Hartmut Bleumer (Göttingen)
9:00
Daniela Fuhrmann (Zürich)
Eine Frage der Perspektive. Zur Relevanz von Beobachtung in geistlichen und weltlichen Wunderserien
10:00 Pause
10:30
Tilo Renz (Berlin)
Akkumulation und Kombination. Zum Wunderbaren im Alexanderroman
11:30
Justin Vollmann (Jena)
Ach herre got der guote, muoz ich aber an die vart? Helden unter Wiederholungszwang in heroischen, höfischen und schwankhaften Kontexten
12:30 Pause (Imbiss)Moderation: Uta Störmer-Caysa (Mainz)
14:00
Fabian David Scheidel (Köln)
Merveilles quis, maiz nes’ trovai. Mittelalterlicher Mediävalismus und Retrofiktion als Nullpunkt des ‚Mittel-Alters‘
15:00
Katharina Philipowski (Potsdam)
Arkanisierung, Aufschub und Bestätigung im Erzählen vom Gral
16:00
Schlussrunde
Freie Universität Berlin
Villa des SFB Episteme in Bewegung
Schwendenerstraße 8
14195 Berlin-Dahlem
Weitere Informationen
Konzeption: PD Dr. Tilo Renz (t.renz@fu-berlin.de)
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Zeit
14. März 2024 14:00 - 15. März 2024 17:00(GMT+02:00)