Im interdisziplinären Forschungsprojekt „PathoGraphics“ untersuchen Wissenschaftlerinnen die Darstellung von physischen und psychischen Grenzerfahrungen in Literatur und Comics

Ein Beitrag von Nora Lessing

Die Diagnose Hirntumor war Ausgangspunkt für Wolfgang Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“, Daniela Schreiter vermittelt in ihrem Comicbuch „Schattenspringer“ die Welt aus der Perspektive einer Autistin, und der Theatermacher Christoph Schlingensief machte Leid, Angst und Hoffnung mit der Veröffentlichung seines Krebstagebuchs „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ zu zentralen Themen seines Spätwerks.

Inwiefern das Zeigen der eigenen Verletzlichkeit – der Wunde, wie Schlingensief es nannte – von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ist und je nach Medium unterschiedlich dargestellt wird, wollen Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin, und ihr Team im Forschungsprojekt „PathoGraphics“ untersuchen.

In dem von der Einstein-Stiftung geförderten und an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien angesiedelten Projekt werden literarische Texte und Comics, die sich aus autobiografischer oder fiktionaler Perspektive mit Krankheit und Behinderung auseinandersetzen, untersucht. Dabei wollen die Wissenschaftlerinnen unter anderem herausfinden, mithilfe welcher narrativen und visuellen Strategien diese Themen dargestellt und für die Leserschaft nachvollziehbar gemacht werden.

„Die Anstandsdame – Chaperone“ nennt die kanadische Künstlerin Stef Lenk ihr Bild, bei dem der Schatten kritisch auf das tanzende Skelett schaut. Die Künstlerin zeichnet sowohl Comics wie auch medizinische Illustrationen. Bildquelle: Stef Lenk

„Uns interessiert, wie solch heikle und emotional bewegende Erfahrungen – etwa lebensverändernde Erkrankungen, chronisches Leiden oder Sterben – in literarischen Texten und Comics reflektiert und ästhetisch umgesetzt werden“, erklärt Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Hierfür analysiert das interdisziplinäre PathoGraphics-Team Publikationen besonders aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum.

Zusätzliche Expertise erhalten die Forscherinnen durch Professorin Susan Merrill Squier von der US-amerikanischen Penn State University, die als Einstein Visiting Fellow regelmäßig an die Freie Universität Berlin kommt. Die Literaturwissenschaftlerin forscht unter anderem im Bereich der Gender Studies und hat in den vergangenen Jahren zu dem neuen Feld der „Graphic Medicine“ – der grafischen Darstellung von Krankengeschichten, ärztlichem Handeln oder medizinischer Forschung – einige grundlegende Veröffentlichungen verfasst.

Der Umgang mit Tod und Krankheit in künstlerischen Werken ist kulturspezifisch

„Eine unserer Thesen ist, dass der kulturspezifische gesellschaftliche Umgang mit Krankheit und Tod in künstlerischen Werken erkennbar ist“, sagt Krüger-Fürhoff. Als Beispiel nennt sie die unterschiedliche Darstellung von Parkinsonkranken in deutschen und US-amerikanischen Werken – einmal als heroischer Einzelkämpfer, einmal als sozial eingebettete Figur.

Ziel des Projektes sei insofern auch der interkulturelle Vergleich von Krankheitsdiskursen. Zudem kann Literatur, durch Texte wie durch Bilder, die die Innenperspektive von Betroffenen vermitteln, das Einfühlungsvermögen von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Menschen stärken, die im Gesundheitsbereich arbeiten.

Dem interdisziplinären Team geht es also auch darum, die Grenzen zwischen Medizin, Kunst und den Geisteswissenschaften aufzubrechen. Im Rahmen des zunächst auf drei Jahre angelegten Projektes plant das PathoGraphics-Team neben Seminaren und öffentlichen Konferenzen eine Ausstellung im Medizinhistorischen Museum der Charité im Herbst 2017.

Die Idee ist, Ausschnitte sowohl aus unveröffentlichten als auch aus bereits erschienenen Comics und literarischen Texten als temporäre Intervention in der Dauerausstellung zu zeigen. Hier sind in Rudolf Virchows historischer Sammlung, dem „Präparate-Saal“, erkrankte Teile menschlicher Körper in großen Glasgefäßen zu sehen, die Ende des 19. Jahrhunderts zu Studienzwecken konserviert wurden.

Die Ausstellungsstücke – etwa krankhaft veränderte Nieren, Krebswucherungen und Schnitte durchs menschliche Gehirn – werden meist als anonymisierte Objekte präsentiert. Die PathoGraphics-Ausstellung soll den historischen Exponaten individuelle Geschichten aus der Gegenwart gegenüberstellen, sodass erkennbar wird, dass sowohl die medizinischen Präparate als auch die literarischen Texte und Comics von individuellen Leidensgeschichten einerseits und fachspezifischen Darstellungsweisen andererseits zeugen.

Dass das Projekt in mehrfacher Hinsicht Brücken schlagen will, zeigt sich im interdisziplinären Ansatz ebenso wie in der engen Zusammenarbeit mit Künstlern.

So zählt auch Stef Lenk, in Berlin lebende kanadische Comiczeichnerin und Absolventin des Studiengangs Medical Art im schottischen Dundee zum Forscherinnenteam. „Ich werde im Rahmen des Projekts eine praxisorientierte Doktorarbeit schreiben und mich dabei auf grafische Erzählungen über psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depression konzentrieren“, sagt sie.

Die Darstellung solcher Erkrankungen in Comics sei zugleich Herausforderung und Chance, da psychische Leiden häufig nicht auf den ersten Blick von außen erkennbar seien. „Mich interessiert, wie die aus Bildern und Texten bestehenden Comics das eigentlich unsichtbare innere Erleben sichtbar machen.“

Die Literatur habe dafür zu Beginn des 20. Jahrhunderts den inneren Monolog entwickelt. Comics hingegen vermittelten subjektive Erfahrungen, indem sie beispielsweise die Welt aus Sicht ihrer Hauptfiguren zeigten.

So werde eine depressive Episode in Ellen Forneys Graphic Novel „Marbles: Mania, Depression, Michelangelo & Me“ (dt: „Meine Tassen im Schrank. Depressionen, Michelangelo & ich“) durch Wiederholungen von Bilderfolgen veranschaulicht: Hier verbildliche eine Reihe fast identischer Zeichnungen die Antriebslosigkeit der depressiven Person.

Auch Projektmitarbeiterin Nina Schmidt begeistert sich für die Vielfalt neuerer literarischer und grafischer Krankheitserzählungen, zumal in diesen auch vormals wenig thematisierte Leiden wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder Zwangserkrankungen künstlerisch dargestellt würden.

„Comics zu diesen Themen erscheinen häufiger im englischsprachigen Raum, aber auch in Deutschland wird zunehmend in Graphic Novel-Form publiziert. Die Tatsache, dass literarische Krankheitserzählungen schon zu Lebzeiten der Betroffenen veröffentlicht werden, ist ebenfalls eine verhältnismäßig neue Entwicklung. Die Krebs- und Aidsliteratur der 1970er und 80er Jahre etwa erschien ganz überwiegend posthum“, sagt die im englischen Sheffield promovierte Germanistin.

Mit der Entscheidung, sowohl Texte unterschiedlicher Genres als auch die Bild-Text-Kombinationen des Comics zu untersuchen, wollen die Forscherinnen auch Vorurteile gegenüber grafischen Erzählungen ausräumen.

„Die Phänomene werden je nach Medium unterschiedlich dargestellt. Dabei verdeutlichen die vielen jüngeren Beispiele, dass Comics nicht unbedingt triviale Bildergeschichten sind, sondern existenzielle Erfahrungen verarbeiten können,“ sagt Irmela Marei Krüger-Fürhoff. „In Literatur und in Comics verständigt sich die Gesellschaft heute darüber, was Krankheit ist.“