Nina Schmidt hat sich in ihrer Dissertation an der University of Sheffield (UK) mit autobiografischem Schreiben und der Darstellung von Krankheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beschäftigt.
Im Juni 2018 ist ihre Studie The Wounded Self. Writing Illness in Twenty-First-Century German Literature bei Boydell & Brewer erschienen.
Interview von Nora Weinelt
Zum Einstieg: Könntest Du kurz zusammenfassen, worum es in Deinem Buch geht?
Es war mein Anliegen, mit diesem Buch bzw. der Arbeit daran die germanistische Aufmerksamkeit auf einen ‚Trend‘ zu lenken, der mir auffiel, nämlich dass sich ab ca. 2007/ 2008 mehr und mehr deutschsprachige Autor*innen mit mehr oder weniger direkt autobiografischen Texten zu den Themen Krankheit, Sterben und Tod hervortaten. Sie erfuhren teils eine erstaunliche mediale Resonanz, doch akademisch geschah erst einmal wenig; ich würde sagen, es gab Berührungsängste.
Fragen, die sich aus dieser Beobachtung ergaben, waren für mich als Literaturwissenschaftlerin die nach einer adäquaten Herangehensweise an solche illness narratives. Also: Welche Werkzeuge haben wir oder hatten wir schon, die in der Analyse nutzbar gemacht werden konnten? Weshalb wurden die Texte dennoch nicht unbedingt tiefergehend analysiert? Und was gibt es an Ansätzen in anderen Literaturwissenschaften, die sich gewinnbringend in die Germanistik ‚importieren‘ ließen? Das waren für mich die disability studies aus dem anglo-amerikanischen Raum.
Im Ankündigungstext des Verlages heißt es, dass Du mit Deiner Arbeit „the value of a literary disability studies approach“ demonstrierst. Könntest Du uns eine kurze Einführung in diesen Ansatz geben und skizzieren, inwiefern er für Deine Arbeit relevant war?
Die Literary Disability Studies bieten eine kritische Perspektive, die es möglich macht, augenscheinlich ‚normale‘ oder ‚natürliche‘ Auffassungen und Bilder von Krankheit/Behinderung sowie Gesundheit zu hinterfragen. Krankheit und Behinderung müssen in dem gesellschaftlichen Kontext gelesen werden, in dem sie erfahren und gelebt werden, das heißt immer auch: konstruiert werden. Uns muss klar sein, dass Vorstellungen von Krankheit und Behinderung und vom Sterben in der gesellschaftlichen Imagination mit (komplexen, oft negativen) Emotionen verknüpft sind, die sich im und am Einzelnen in Diskriminierung entladen können. Die textuellen Welten der Literatur sind ein Ort der Auseinandersetzung mit alten Bildern und ein Ort, an dem neue Bilder entworfen werden. Über Literatur (und Kultur überhaupt) tauscht sich die Gesellschaft zu den Themen Krankheit, Behinderung, Sterben und Tod aus. Umso wünschenswerter ist es, denke ich, wenn nun vermehrt Autor*innen mit direkten, eigenen Erfahrungen veröffentlicht werden – auch wenn sie Fiktion schreiben; der eigene Erfahrungshintergrund fließt ja immer mit ein und sensibilisiert für die eigenen literarischen Themen.
Im Ankündigungstext des Verlages steht außerdem mehrmals, dass Du Deine Texte „als Literatur“ ernst nimmst, was offenbar keine Selbstverständlichkeit ist. Könntest Du kurz umreißen, warum das bisher nicht passiert ist und wie diese Tatsache Deiner Meinung nach mit dem Sujet von Krankheit und Tod in Zusammenhang steht?
Aus disability studies-Sicht würde man die sogenannte ‚ableistische‘ Grundeinstellung, die gesellschaftlich dominant ist, als Ursache dafür ansehen, dass illness narratives nicht als Literatur und damit als für uns Wissenschaftler*innen ‚untersuchenswert‘ betrachtet werden. Auch die germanistische Literaturwissenschaft ist nicht frei von Vorurteilen. Die Themen Krankheit und Behinderung werden einerseits schnell als profan abgetan, andererseits gehen sie dem Menschen (ja, auch dem/der Akademiker*in) nahe – vielleicht manchmal zu nah, als dass er oder sie sich unvoreingenommen und reflektiert damit befassen mag oder kann. Warum sich die germanistische Literaturwissenschaft bisher nicht allzu häufig mit Texten der Art, wie ich sie untersuche, befasst hat – dem gehe ich in meiner Einleitung zum Buch ausführlich nach.
In der Öffentlichkeit scheinen mir die Texte der beiden männlichen Autoren, Christoph Schlingensief und Wolfgang Herrndorf, viel eindeutiger „als Literatur“ wahrgenommen zu werden als die der Autorinnen Charlotte Roche, Kathrin Schmidt und Verena Stefan. Wie würdest Du das Schreiben über Krankheitserfahrungen vor dem Hintergrund von Genderfragen beschreiben, gibt es so etwas wie ein spezifisch weibliches oder spezifisch männliches Schreiben darüber? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Herrndorf und Schlingensief – anders als etwa Roche und Schmidt – ihren Krankheiten ja tatsächlich erlegen sind?
Deine erste Aussage würde ich etwas qualifizieren: Schlingensiefs Tagebuch wurde in der Tat (zumindest zuerst) nicht als Literatur wahrgenommen. Andererseits ist aber richtig, dass sein Spätwerk, das sich ja zentral um Krankheit und Tod dreht, absolut als Kunst wahrgenommen wurde, trotz aller autobiografischen Einflüsse und Lebensnähe. Charlotte Roche ist von den Autorinnen, die ich behandle, diejenige, der der Status ‚Schriftstellerin‘ verwehrt blieb – allerdings strebte sie diesen auch nie an.
Ich glaube nicht, dass es ein spezifisch weibliches oder männliches Schreiben über Krankheit gibt, aber Gender-Fragen sind natürlich absolut relevant in diesem Kontext und müssen gestellt werden (man denke z. B. an die Krankheit Brustkrebs; ich schreibe darüber in Bezug auf Verena Stefans Text Fremdschläfer). Eine Beobachtung, die ich gemacht habe, ist diejenige, dass Autoren, die sich dem Tode nahe fühlen, zu anderen Genres tendieren (nämlich dem Brief, Tagebuch, Gedicht, zur Fotografie …) als die, die beispielsweise retrospektiv aus einem Moment relativer Gesundheit schreiben (da dominieren der autobiografische Roman u.a.).
In der Rezeption und der medialen Verhandlung des Stellenwertes von illness narratives ist tatsächlich relevant, ob bzw. wann der Autor/die Autorin an der thematisierten Krankheit verstirbt. Posthume Lesarten funktionieren anders; sein Tod ist mit ein Grund, warum Herrndorfs Text Arbeit und Struktur (sowie sein gesamtes Werk) so schnell und nachdrücklich Eingang in die ‚hohe Literatur‘ gefunden hat. Der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod bzw. den Toten spielt da mit rein; ich würde dies (ganz ohne Wertung) als eine Art letzte Huldigung verstehen.
Was bedeutet Krankheit für das schreibende Subjekt, wie beeinflusst sie die Subjektentwürfe oder -konstitutionen im Text?
Das Thema Krankheit (in seiner Verbindung mit Sterben und Tod) führt uns vor, wie instabil unsere Ideen vom Subjekt oder vom Selbst sind. Plötzliche Krankheit oder Behinderung stellt alles in Frage, verändert die Wahrnehmung und Vorstellungen vom Selbst, von unseren Möglichkeiten und Grenzen. Ebenso ändert sich radikal, wie andere uns sehen. In literarischen Texten wird all dies verhandelt. So lege ich in meinem Kapitel zu Kathrin Schmidt’s Roman Du stirbst nicht besonderes Augenmerk auf die Untersuchung von Blickwechseln zwischen Charakteren.
Aber genau wie das Selbstbild und die Fremdwahrnehmung instabil werden, kann man vielleicht sagen, dass die Texte instabil werden. Tagebuchschriften zeigen dies besonders deutlich. Was am Vortag noch galt, kann vom Autor/von der Autorin im nächsten Eintrag wieder zurückgenommen werden. Schwere Krankheit fokussiert auf die Gegenwart, den Moment.
Danke für das Interview!
Nina Schmidt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) im Forschungsprojekt PathoGraphics (FU Berlin), das sich mit der Ästhetik und Politik von Krankheitsdarstellungen in der Literatur und im Comic beschäftigt.