Die Tagung „Marx konkret. Poetik und Ästhetik des Kapitals“ widmete sich Marx’ großem Werk aus interdisziplinärer Perspektive.
Von Philippe Roepstorff-Robiano
Marx ist tot, sagt der Philologe mit dem Zeigefinger auf eine Stelle in der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe (MEGA) weisend; die Philologie ist toter Buchstabe, erwidert der Marxist mit Marx’ zerfleddertem Kapital unterm Arm und gereckter Faust. In diesem Jubiläumsjahr drängt sich allerorten die Frage auf, wie man sich dem wohl wichtigsten deutschen Bartträger nähern soll: aus einer philologischen Perspektive, die versucht, Marx’ rhetorische Strategien, seinen epistemologischen Spieleinsatz, seine literarischen und politökonomischen Quellen penibel zu rekonstruieren, als handele es sich bei seinen Texten um nichts weniger (und nichts mehr) denn geschichtlich gewordene Quellen; oder aus einer im weitesten Sinne engagierten Warte, die versucht, Marx’ Denken auf heute vorherrschende Ideologien, Wirtschaftsprozesse und Produktionsverhältnisse zu beziehen und aus diesem Bezug Kapital zu schlagen für eine progressive Politik? Die grundlegendere Frage, die hinter dieser freilich dialektisch aufeinander zu beziehenden Dichotomie steckt, ist diejenige nach der politischen Funktion und Tragweite der Marx’schen Theorie.
Die Tagung „Marx konkret. Poetik und Ästhetik des Kapitals“, die vom 7. bis zum 9. Juni im gediegenen Berliner Literaturhaus stattfand, widmete sich nun Marx aus interdisziplinärer Perspektive. Eingeladen waren einerseits Kultur-, Kunst-, Medien- sowie Literaturwissenschaftler, andererseits Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftler. Ziel der Tagung war es, Das Kapital aus diesen recht unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen und vielleicht hier und da neue Erkenntnisse zutage zu fördern.
Vielleicht würde ein hartgesottener Marxist bereits an dieser Stelle die Nase rümpfen. Die Frage ist in der Tat berechtigt, ob diese Tagung jener Dialektik zwischen philologischer Rekonstruktion und politischer Sprengkraft von Marx’ Theorie gerecht wurde, die bereits in dessen eigener Arbeitsmethode angelegt war, insofern er sich selbst ja in immer neuen Anläufen durch dasselbe Quellenmaterial arbeitete, dies aber nicht um seiner selbst willen tat, sondern um zu zeigen, inwiefern „[d]ie herrschenden Gedanken […] weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse“ (MEW, Bd. 3, S. 46) sind.
Am Literaturhaus unweit des Kurfürstendamm – in den 1920er-Jahren Treffpunkt einer Literaturgruppe, der auch Vladimir Nabokov zeitweise angehörte und die sich im Zuge von Handgreiflichkeiten auflöste, wie Sonja Longolius, eine der beiden Leiterinnen, eingangs berichtete –, an diesem historischen Ort wurden nun zwar keine Fäuste geballt, trotzdem kamen dort Parteien zusammen, die sich nicht allzu oft auf Tagungen begegnen und seit Jahrzehnten eher seltenen Umgang pflegen: Sozialwissenschaftler auf der einen, Literatur- und Kulturwissenschaftler auf der anderen Seite; ging doch laut Patrick Eiden-Offe die disziplinäre Schließung der Kulturwissenschaften mit dem Ausschluss der Sozialwissenschaften alter Couleur einher und damit, grundlegender, auch mit einem Verzicht auf jene starke Wahrheitsposition, die der historische Materialismus zu verkörpern scheint.
Eiden-Offes Vortrag „Wie Das Kapital nicht lesen“, in dem drei berühmte Fehllektüren des Kapitals (die strukturalistische, die wissensgeschichtliche sowie die ethnologische) aufgearbeitet wurden, ließe sich als Anleitung zum Umgang mit dieser Tagung auffassen. Fast jeder Vortrag führte auf eigene Art und Weise vor, wie man Marx nicht lesen sollte, und warum das im besten Fall zu neuen Erkenntnissen und im schlimmsten zu groben Verflachungen führt. Denn erstens hat jede Marx nachfolgende Generation, wie Michael Heinrich im jüngst erschienenen ersten Band seiner dreibändig angelegten Marx-Biografie darlegt, ein anderes Korpus an Marxtexten und damit einen anderen Marx vor Augen gehabt; und zweitens gibt es nicht den einen Marx, sondern vielmehr, je nachdem, in welchem Jahr seines bewegten Lebens man sich befindet, eine Vielzahl von Marx’; und auch in einzelnen Werken herrscht eine Vielzahl von Stimmen vor, die oftmals nicht eindeutig auf ihren Urheber zurückzuführen sind, wie Daniel Hartley in seinem Vortrag „The Voices of ‚Capital‘“ eindrucksvoll zeigte.
Bei einer Marxtagung erwartet man sich dementsprechend passionierte Diskussionen, klare Positionierungen, die oft genug Unklarheiten zur Folge haben, kurz: Kontroversen, vielleicht sogar Polemik. Der Auftakt der Tagung ließ in dieser Hinsicht hoffen: Ihn gab eine Diskussion über die Rolle der Polemik und insbesondere der Invektive bei Marx. Dieser fasste seine Gegner bekanntlich nicht mit Samthandschuhen an, seine ad hominem-Attacken sind ja berüchtigt. Ob nun die Junghegelianer als „Kerls“ bezeichnet werden, die weniger praktische Intelligenz aufzuweisen haben als der einfältigste „Shopkeeper“ (vgl. MEW, Bd. 3, S. 49f.); ob in Fußnoten des Kapitals die Benthams und Mills dieser Welt vorgeknöpft und vorgeführt werden; oder ob Marx öffentlich mit alten Weggefährten wie beispielsweise Proudhon abrechnet: Invektiven und Polemiken spielen eine große und oftmals kontroverse Rolle in seinem Korpus, wie sowohl Tino Hein als auch Elisabetta Mengaldo, die die Konferenz zusammen mit Michael Bies organisiert hatte, in ihren Vorträgen hervorhoben. Diese ersten beiden Vorträge hätten ein erstes Beispiel dessen, was Marx in dem frühen Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie „Kritik im Handgemenge“ (MEW, Bd. 1, S. 381) nennt, liefern können.
Ist es der Konferenz gelungen, die Kritik ins Handgemenge zu werfen? Oder haben, wie es so oft bei interdisziplinären Tagungen der Fall ist, die Sozialwissenschaftler an den Literaturwissenschaftlern und diese an den Kulturwissenschaftlern und diese wiederum an den Sozialwissenschaftlern vorbeitheoretisiert? Der MEGA-Mitherausgeber Michael Heinrich brachte es einmal auf den Punkt, als er bemerkte, dass kulturwissenschaftliche Annäherungen an Marx ihn meistens nicht interessieren, da sie mit einem relativ begrenzten Satz an Marx-Zitaten arbeiten und die vielen Vor- und Nachstufen einzelner Textstellen bzw. ihren Zusammenhang mit dem Text, dem sie entnommen werden, in der Regel nicht berücksichtigen. Die Interessenlagen der verschiedenen Disziplinen liegen sich oft genug überquer, so dass kein wirklicher Austausch stattfinden kann.
Aber muss man wirklich wissen, dass Marx ab den 1860er-Jahren in den Briefen und Manuskripten nicht mehr vom ‚tendenziellen Fall der allgemeinen Profitrate‘ spricht, um diesen Begriff zu verstehen? Lässt sich also anhand der im letzten Jahrzehnt philologisch erschlossenen und in der MEGA-Ausgabe erschienenen Manuskripte ein Denkprozess bei Marx rekonstruieren, der uns vermeintlich gesichertes Gedankengut neu zu erschließen hilft? Oder handelt es sich hierbei um eine Nebelkerze der Philologie, die Objektivität vortäuscht, aber doch letztlich nur dogmatisch an der Vorstellung eines letzten Worts des großen Meisters festhält und, sobald sie dieses gefunden haben wird, mit dem Denken aufhört? Dass die neuesten Entwicklungen in der Marx-Forschung an der Kulturwissenschaft vorbeigegangen sind, überrascht vor dem Hintergrund ihrer Vorbehalte gegenüber der Marx’schen Theorie zwar nicht; dass sich aber einige anwesende Vertreter dieser Zunft in Vorbereitung auf eine Tagung, in der sie sich mit Marx auseinandersetzen sollten, offenbar nicht die Mühe gemacht hatten, auch nur im Ansatz neuere Diskussionen einzustudieren (beispielsweise über die Werttheorie, die sehr schön und differenziert von Michael Heinrich rekonstruiert wurden), stimmt dann doch etwas skeptisch.
Auf der Tagung fand denn kein echt kritischer Austausch statt, sondern eher ein höfliches Aneinander-Vorbeidiskutieren, wobei dadurch auch die Schwächen der jeweiligen disziplinären Zwänge sichtbar wurden. Denn während die im Raum versammelten Marx-Koryphäen zuweilen süffisant fachsimpelten und stets jede Fehllektüre aufzudecken wussten, schienen die Literatur- und Kulturwissenschaftler aufgrund ihrer Hyperspezialisierung recht wenig zurückgeben zu können, außer ein paar Verlegenheitsgesten und Floskeln wie „Das muss ich noch recherchieren“ oder „Danke für den Hinweis“. Kann es aber wirklich Sinn der Sache sein, jeden sein eigenes Süppchen kochen, ein paar Gedanken für die eigene Arbeit hier und da abschöpfen und weiter machen zu lassen wie gewohnt?
Das bedeutet im Umkehrschluss übrigens nicht, dass einzelne Beiträge bzw. Themenblöcke der Tagung nicht interessant gewesen wären: Durchaus interessant war ja beispielsweise Luca Bassos Rekonstruktion von Marx’ Umgang mit dem Robinson-Stoff im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit dem Naturrecht, zumal dieses rechtswissenschaftliche Kapitel in Marx’ Leben und Werk selten in den Fokus gerückt wird; auch spannend war Michael Bies’ Vortrag, in dem nachvollzogen wurde, inwiefern der frühe Marx ein romantisierendes Bild des Handwerks malt, von dem sich der spätere zunehmend distanziert; Till Breyers Versuch, Marx’ Kapital als verfremdeten Bildungsroman zu lesen, in dem der Protagonist das Kapital selbst ist, war ebenfalls einfalls- und lehrreich; schließlich war Michael Heinrichs differenzierte Herleitung des Marx’schen Wertbegriffs aus der Theologie hochgradig anregend. Immer wieder suchte man aber vergeblich nach einem roten Faden, der nicht nur die Themen miteinander verbunden hätte, sondern auch die verschiedenen Disziplinen und ihre jeweiligen Fragestellungen. Trans- oder Interdisziplinarität scheint sich besonders dort schwierig zu gestalten, wo sich Fächer aus den einst vereinigten, nunmehr spezialisierten Geisteswissenschaften zusammenfinden, denn auch wenn sie dasselbe Quellenmaterial heranziehen, liegen ihnen recht unterschiedliche Paradigmen zugrunde, so dass die Beantwortung einer Frage aus einer Disziplin oft genug auf Unverständnis im benachbarten Fach stößt. Ein Beispiel dafür wäre die Rekonstruktion der Rolle der Polemik bei Heim und Mengaldo: Während der Sozialwissenschaftler Heim die Frage des Erkenntnisgewinns von Invektiven und Polemiken ins Zentrum seines Vortrags rückte, ging es Mengaldo eher um eine Klassifikation verschiedener Mittel der Kritik; im einen Fall wird eine Wertung vorgenommen, im anderen nicht; und dieser Wertung liegt wiederum ein Wertsystem zugrunde.
Es fiel auf, dass die gemeinsame Grundlage für sinnvolle und tiefgreifende Debatten schlichtweg fehlte und dass nicht daran gearbeitet wurde, eine zu schaffen. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Kultur- und Literaturwissenschaftler sich in ihren Vorträgen oft nicht ausschließlich auf Marx konzentrierten, sondern Parallelen zu anderen Autoren, Gattungen und Figuren zogen. Vor allem die Kulturwissenschaftler irritierten zuweilen mit ihrem Denken in Analogien: x ist manchmal nicht wie y; Marx’ Gebrauch des Begriffs „Metamorphose“ hat schlichtweg nichts mit Goethes „Metamorphose der Pflanzen“ zu tun, auch wenn in beiden Fällen von Metamorphose die Rede ist. Vergleiche sind zwar oft erhellend, weil sie helfen, durch Kontraste, Differenzen sichtbar zu machen, sie sollten aber nicht das Kernstück eines Arguments ausmachen, da sie in den meisten Fällen ja bekanntlich hinken und nur zu einer Art allgemeinen Zerstreuung beitragen.
Business as usual also, obwohl es ja gerade bei einer Tagung, auf der einst voneinander entfremdete Disziplinen zusammenkommen, möglich gewesen wäre, einen Einblick in die verborgene Stätte der (Wissens-)Produktion zu erhaschen. Obwohl die anwesenden Wissenschaftler auf persönlicher Ebene hervorragend miteinander auskamen, konnten die Gräben zwischen den Sozialwissenschaften und den Kulturwissenschaften nicht überbrückt werden. Die Kritik hat sich nicht in den Ring trauen können, teils weil sie vor dem Handgemenge zurückgeschreckt ist, teils weil es überhaupt keinen Ring gibt, wo man sich hätte treffen können. Dabei wurde Polemik, wie gesagt, thematisiert, und es hätte vielleicht Anlässe gegeben, sich nach langer Abstinenz in ihr zu üben.
Am Ende der Tagung hat Dorothea Walzer Auszüge aus Alexander Kluges Marx-Filmprojekt gezeigt, u. a. ein Interview mit Helge Schneider als oxymoronischen arbeitslosen Arbeiter Atze Mückert, der in der Volkshochschule einen Marx-Kurs besucht. „Jo der is, äh, der war da ganz, ganz schlau war der“, sagt der Arbeiter, der nicht arbeitet, weil es keine Arbeit gibt. Die sowohl für die Kultur- als auch für die Sozialwissenschaftler spannende Frage, für wen Marx sein Werk verfasst hat, blitzte immer wieder während der Tagung auf, blieb aber leider unbeantwortet. Kluges Interview mit Mückert deutet ja auf ein Paradox hin: Der moderne Arbeiter hat endlich genug Zeit und Muße, Marx zu lesen und damit die Ausbeutung zu begreifen, der er sich ausgesetzt sieht; dies geschieht jedoch zu genau dem Zeitpunkt, da die Arbeiterklasse, wie sie Marx auffasst, in postindustriellen Nationen obsolet wird. Was macht Kluges Arbeiter? Sich selbst als das auffassen, was er nicht mehr sein kann.
In den letzten Jahrzehnten haben sich fast alle Disziplinen von Marx distanziert; sein Werk ist also eines für alle und keinen geworden. In dieser Hinsicht zeichnet sich zurzeit ein Paradigmenwechsel ab: Nicht nur arbeitslos gewordene Arbeiter lesen nun Marx, auch die Literatur- und Kulturwissenschaftler rezipieren ihn (wieder), sie interessieren sich (wieder) für die bei Marx hochkomplexe Frage der Wahrheit, sie lauschen gebannt Marx-Experten und schreiben sich emsig zitierte Stellen in der MEGA- oder MEW-Ausgabe auf, und sie werden nachschlagen und vielleicht irgendwann ein neues Kapitel der Kulturwissenschaft aufschlagen. Wünschenswert wäre es, wenn endlich mit der irrigen Annahme aufgeräumt wird, Differenzierungsvermögen schließe Wahrheit aus. Dass man mich hier nicht falsch versteht: Dies ist mitnichten ein Plädoyer für eine Kulturwissenschaft, die allen Bewegungen, denen das Affix „Post“ vorangestellt wird, den Rücken kehrt, sondern ein Plädoyer dafür, Marx als einen der undogmatischsten freien Denker des 19. Jahrhunderts wiederzuerobern und ihn nicht den „Hirnkasten“ (MEW, Bd. 25, S. 393) zu überlassen, die dogmatisch nachbeten, was Marx vorbetet. Die Tagung erfüllt nolens volens ihren Zweck, sie gemahnt an Étienne Balibars Rede von Marx’ „Denken in ständigen Neuanfängen“.
Philippe Roepstorff-Robiano ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Autor und Übersetzer in Berlin. Seine Doktorarbeit schrieb er über die Rolle von Kredit und Schulden in der deutsch-, französisch- und englischsprachigen realistischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts.