Ob Anekdote oder Abstract, Emblem oder Emoji, Feuilleton oder Feed, Telegramm oder Tweet – kleine Formen bevölkern seit jeher die Literatur und prägen unsere Lebenswelt. Das Graduiertenkolleg 2190 Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen an der HU Berlin untersucht ihre Erscheinungsweisen in Literatur, Wissenschaft und Popkultur.

Ein Beitrag von Florenz Gilly, Florian Glück und Maren Jäger

Wir schreiben WhatsApp-Nachrichten, lesen Posts und schauen YouTube-Clips, ‚posten‘ in Blogs, Foren und Social Media; Pecha Kucha, science-gif, -tweet oder –slam, Wissenschaftscomic oder –pod-cast drängen sich zwischen traditionelle akademische Großformen wie die Vorlesung oder den Fachaufsatz.

Die Maxime der Zeit- und Zeichenökonomie sowie der fundamentale Medienwandel der Jahrtausendwende haben das Gattungsgefüge nicht unberührt gelassen, man denke an Hybridformen wie E-mail-, Twitter– oder facebook-Roman, kurze digitale Literatur wie Tiny Tales, ein Experiment im Tweet-Format von 140 Zeichen, die Cell Phone Novel, das Handy-HaikuQR-Code-Lyrik oder die sog. Flash Fiction. Auch (audio-)visuelle Mikroformate stehen hoch im Kurs, etwa gif-Videos, die Plattform vimeo oder die populäre App Snapchat. Wenn es um die (durch Social Media und die zahllosen Offerten der Unterhaltungsindustrie) vielfach gebundene und fragmentierte Aufmerksamkeit eines unter chronischem Zeitmangel leidenden Rezipienten zu konkurrieren gilt, erweist sich das jeweils Kleinere, Mobilere, Schnellere als konkurrenzfähiger. Damit scheint die Maxime der Zeit- und Zeichen-Ökonomie den Lektürevorlieben entgegenzukommen.

Was aber, wenn das, was klein und harmlos daherkommt, eine Rezeptionsdauer beansprucht, die in keinem Verhältnis zur absoluten Länge (bzw. Kürze) eines Textes steht (von der Dauer der Verarbeitung gar nicht erst zu reden)? Was, wenn kleine Formen ein verstörendes Spiel mit Lesegewohnheiten und -erwartungen initiieren, indem sie irritieren, provozieren, Komplexität, Leerstellen und Mehrdeutigkeiten aufweisen, (Kontext-)Wissen, Ergänzungen, Nach-Denken, kurz: einen intensiven Modus der Lektüre, der Mit- und Weiterarbeit einfordern, der den Kurzschluss zwischen Kürze und Einfachheit Lügen straft? Wenn sie proliferieren, sich zu großen Formen zusammenrotten oder sich in solche hineinstehlen – oder wenn sie unter dem Deckmäntelchen ihrer Kleinheit und Marginalität einen Angriff auf Wissens-, Gattungs- und Mediensysteme anzetteln, sich als spitz, stachelig – oder als kleines Geschoss zu erkennen geben: „Die kleine Form gestattet ein direktes Sichengagieren im Kampf“, so Bertolt Brecht auf dem IV. Schriftstellerkongress im Januar 1956.

Freilich sind kleine Formen keineswegs ein Novum des 20. und 21. Jahrhunderts. Schon seit zweitausend Jahren üben sie einen nicht unerheblichen Reiz aus und sind für Praktiken der Wissensverwaltung und –vermittlung unentbehrlich. Unser Graduiertenkolleg unter der Leitung von Joseph Vogl ist seit Frühjahr 2017 an der Humboldt-Universität aktiv und untersucht die Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei richtet es den Fokus systematisch auf die Praxisfelder Literatur, Wissenschaft und Populärkultur. Die Projekte der 13 Kollegiat*innen sind thematisch entsprechend breit gefächert und reichen von der antiken Rhetorik über die spätmittelalterliche Emblematik und botanische Sammelwerke der Frühen Neuzeit bis hin zu den Kleinformen der digitalen Kultur.

Was das ‚Kleine‘ an den betreffenden Formen ist, versuchen wir, unter ästhetischen, ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten näher zu charakterisieren: Wie klein ist klein – oder: Wie groß ist klein? Wie wird das Kleine klein? und: Wie wird das Kleine Form? Wie lässt sich der Formcharakter und die repräsentative Kraft von Kleinprosa spezifizieren? Welche Techniken, Darstellungs- und Aufzeichnungsverfahren sorgen dafür, dass der sprachliche und stilistische Aufwand in Grenzen gehalten wird? Durch welche Kontexte bzw. Umwelten wird das „Kleine“ der betreffenden Formen aufgewertet oder aber mit dem Stigma des Minderwertigen belegt?

Ziel des Kollegs ist es, die Funktionen und Leistungen kleiner Formen an epistemischen, bildungshistorischen, publizistischen und literarischen Praxiskontexten zu klären. Dabei ist die These leitend, dass Kleinformen sowohl aktiv am Wissenserwerb, an der Weitergabe von Erfahrungen und an der Steuerung von Aufmerksamkeit beteiligt sind und zugleich durch die entsprechenden Prozeduren sowie durch die in sie involvierten Medien selbst geformt werden. Die Frage, wie – anhand kleiner Formen – Beobachtungen verwaltet, Ideen gesammelt, Kenntnisse vermittelt und Lernprozesse gelenkt werden, betrifft deshalb – über die Kapazitäten von Wissensspeichern hinaus – speziell die Routinen und Darstellungspraktiken, in denen Produktion und Vermittlung von Wissen multiple Formen annehmen.

Zur Strukturierung der Analysen setzt das Kolleg vier Forschungsschwerpunkte, die den Charakter von Querschnittthemen haben. Die vier Schwerpunkte sind (1) die Gebrauchsroutinen kleiner Formen in historischen Lehr-, Lern- und Forschungskontexten; (2) Sammelaktivitäten, durch die kleine Formen verwaltet und (re-)generiert werden; (3) Aktualitätsprogramme, mit denen kleine Formen auf Forderungen der Zeit reagieren; und (4) die Theoriegeschichte kleiner Formen.

Die dreijährige Ausbildung umfasst den Besuch verschiedener Veranstaltungen: Im Basisseminar erarbeiten die Kollegiat*innen zentrale Aspekte der vier Schwerpunkte, während sie im Plenum – unter reger Beteiligung der beteiligten und assoziierten Professorinnen und Professoren aus den alten wie neuen Philologien, den Geschichts-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften – über den Fortgang ihrer Forschungsvorhaben berichten. Bei den Praxiswerkstätten, die zur praxeologischen, medien- und wissenshistorischen Orientierung des Kollegs dienen, treten die Kollegiat*innen mit unseren Kooperationspartner*innen ins Gespräch. Geplant sind für das Sommersemester 2018 Exkursionen zum Literaturarchiv Marbach, in die Staatsbibliothek Berlin und in das Brecht-Benjamin-Archiv der Akademie der Künste.

Neben den regulären Veranstaltungen richtet das Graduiertenkolleg auch Projektveranstaltungen wie Gastvorträge, Workshops und Tagungen aus. Im September 2017 etwa widmete sich die Tagung Kurz und gut! (eine gemeinsame Veranstaltung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Exzellenzcluster Topoi) – der Kommunikation in den Geisteswissenschaften in Zeiten von Twitter, Slam und ‚alternativen Fakten‘. Im Januar 2018 fand in Kooperation mit der ETH Zürich der Workshop Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen statt, bei dem wir poetologische Transformationen von Schreibprozessen in den Blick nahmen. Im April wird sich der internationale Workshop Verdichtung der Welt im Sprachraum des Hafens (26.-27.4.2018, Humboldt-Universität zu Berlin) den kleinen Formen des Maritimen widmen. Eine internationale Tagung wird sich Anfang 2019 unter dem Motto „kleiner werden“ mit Techniken und Verfahren der Ökonomisierung auseinandersetzen, also diejenigen (Verkleinerungs-)Operationen in den Fokus rücken, mit denen Prosaformen auf Verknappungszwänge reagieren.

In unserem Podcast microform diskutieren wir in regelmäßigen Abständen mit Wissenschaftler*innen aus dem Kolleg und anderen Gästen Wirksamkeit, Aktualität und Popularisierung kleiner Formen. In Folge #1 sprechen unsere KollegiatInnen Marília Jöhnk und Steffen Bodenmiller mit Joseph Vogl über Protokolle, Formulare und die Ökonomie des Schreibens großer und kleiner Formen.

Für weitere Informationen und Veranstaltungshinweise besuchen Sie unsere Homepage.