Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus ist das „Ressentiment“ zu einer beliebten gesellschaftspolitischen Diagnose avanciert. Der Philosoph Dirk Setton geht in seinem aktuellen Forschungsprojekt der Funktionsweise des schillernden Begriffs nach.
Im Gespräch beleuchtet er die Rolle, die eine „Politik des Übelnehmens“ in den politischen Krisen des frühen 21. Jahrhunderts spielt.
Interview von Elena Stingl
In Deinem Forschungsprojekt zu einer „Politik des Übelnehmens“ untersuchst Du, was es bedeutet, wenn in zeitgenössischen politischen Debatten „Ressentiment“ zugeschrieben wird. Wie kam es zu diesem Projekt?
Eine Seite meiner Motivation, Politiken des Übelnehmens oder den Begriff des Ressentiments ins Zentrum einer philosophischen Studie zu stellen, liegt auf der Hand. Jeden Tag kann man es im Fernsehen sehen und in den Zeitungen lesen, in wissenschaftlichen Publikationen, in Feuilletons bzw. den entsprechenden massenmedialen Deutungsmedien: Krisensyndrome unseres aktuellen demokratischen Regimes werden häufig mit dem Begriff des Ressentiments diagnostiziert oder interpretiert. Dieser Begriff soll eine spezifische Krise auf den Punkt bringen. Wenn er jedoch fällt, bleibt oft unklar, was er bedeutet.
Was also bedeutet Ressentiment?
Intuitiv ist damit eine ins Überzogene gesteigerte Form der Wut, des Ärgers oder Neids gemeint, die eine ‚gute‘ politische Meinungsbildungskultur oder vernünftige Diskussionszusammenhänge in unserer Öffentlichkeit behindert oder gar zerstört. Viel mehr als ein solches Überhandnehmen allzu krasser Erregungen, scheint mir, meint man damit meist gar nicht. Daraus ergibt sich für mich ein erstes Motiv, über den Begriff nachzudenken, der auch eine eigentümliche philosophische Geschichte hat. Offensichtlich handelt es sich um einen Import des 19. Jahrhunderts aus der französischen Sprache ins Deutsche. Zu einem Grundbegriff der Moral- und Gesellschaftskritik avanciert das Ressentiment vor allem in Nietzsches Genealogie der Moral. Und dessen Argumentationsschema hat bis heute kaum an Attraktivität eingebüßt. Diese Kontinuität interessiert mich. Die Frage, die ich mir stelle, lautet demnach, ob wir zur aktuellen Krisensituation nicht noch mehr sagen können, wenn wir nicht bloß unscharfe polemische Vokabeln in die Debatte werfen, sondern auch philosophische Begriffsarbeit mit einfließen lassen.
Deine philosophische Forschung kreiste bislang um Phänomene des Unvernünftigen oder Irrationalen. Wie knüpft die Reflexion über das Phänomen des Ressentiments daran an?
Bisher haben mich vor allem Phänomene wie Willensschwäche oder Selbsttäuschung interessiert, also Fälle, in denen wir wider besseres Wissen handeln und glauben. Zuletzt habe ich die Frage verfolgt, inwiefern unsere moderne Auffassung der Freiheit einen Aspekt von Willkür besitzt, den wir eigentlich immer ablehnen, wenn wir uns für Freiheit einsetzen. Beim Ressentiment handelt es sich um ein ähnliches Phänomen, das aber auf einer gesellschaftlichen Ebene angesiedelt ist: Ressentiments beschreiben eine Art der sozialen Irrationalität oder politischen Unvernunft.
Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es Dir nun weniger darum, philosophisch zu untermauern, warum Ressentiment tatsächlich irrational ist. Sondern Du möchtest der Intuition nachgehen, mit der dieser Begriff zugeschrieben wird.
Ja, genau. Meine Eingangsvermutung lautet, dass die gegenwärtigen Ressentiment-Diagnosen durchaus stimmen, dass sie etwas treffen. Unklar bleibt aber, was genau das ist. Um dem auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, über die Geschichte des philosophischen Begriffs des Ressentiments nachzudenken. Und was dabei rauskommt, erscheint mir auf eine vielleicht überraschende Weise treffend. Das wird gleich hoffentlich etwas deutlicher.
Um die Zuschreibung von Ressentiment zu untersuchen, arbeitest Du mit einem ähnlichen, jedoch nicht synonymen Begriff, dem englischen resentment. Worin besteht die terminologische Differenz zwischen Ressentiment und resentment?
Ich versuche, eine neue Strategie zu entwickeln, um mich dem Begriff des Ressentiments zu nähern. Neben der einen modernen Tradition, in der prägnant formuliert wurde, was Ressentiment ist – sie reicht von Nietzsche über Max Weber und Max Scheler bis hin zu Alain Badiou und Wendy Brown –, gibt es noch eine zweite Traditionslinie, die ich mir anschaue: eine, die sich von Adam Smith über Peter Strawson bis hin zur aktuellen angloamerikanischen analytischen Moralphilosophie zieht. In dieser Tradition ist von resentment die Rede, wofür die passende deutsche Übersetzung „Übelnehmen“ wäre. Resentment wird als eine grundlegende moralische Reaktion verstanden, die zwei Aspekte hat. Zum einen besteht sie aus einer Erfahrung des Unrechts, die affektiv und evaluativ zugleich ist: Man hat mich verletzt, beleidigt oder abgewertet. Zum anderen wird diese Erfahrung dann als Grund genommen, um in eine bestimmte Praxis einzutreten, zum Beispiel eine Praxis der Anschuldigung. Diejenigen, die mir das Unrecht zugefügt haben, werden nun zur Rechenschaft oder Verantwortung gezogen. Ich versuche, mich zu verteidigen, oder dränge sogar auf Vergeltung und Wiedergutmachung. Smith und Strawson haben sich darum bemüht, einen einfachen Umstand als das Urphänomen von Moral zu beschreiben: Es gibt unwillkürliche emotionale Reaktionen wie zum Beispiel Wut, Empörung oder Kränkung, auf deren Basis wir überhaupt erst in eine moralische Praxis eintreten. Moral beginnt im menschlichen Leben dort, für Smith und Strawson, wo wir mit solchen Gefühlen auf den guten oder schlechten Willen anderer reagieren.
Zum Vergleich: Die Ressentiment-Tradition von Nietzsche bis Brown meint eigentlich etwas Ähnliches, also eine Art des Übelnehmens, die auch diese beiden Aspekte hat, aber sie beschreibt Phänomene, bei denen dieses Übelnehmen aus dem Ruder läuft. Irgendwas läuft schief beim Ressentiment. Es kommt zunächst nicht zum Eintritt in eine Praxis, die auf moralische Wiedergutmachung oder Vergeltung zielt. Die Erfahrung eines erlittenen Unrechts geht stattdessen einher mit einer Erfahrung der Ohnmacht oder Hilflosigkeit, und zwar insbesondere bei jenen, wie Nietzsche das beschreibt, die sich in einer gesellschaftlichen Position der Unterdrückung befinden. Scheler spricht vom „Ressentiment des Weibs“ oder vom „Diener-Ressentiment“, Nietzsche vom „Sklaven-Ressentiment“. Sie beziehen sich auf soziale Positionen der Machtlosigkeit oder Handlungsunfähigkeit, auf denen das eigene Handeln blockiert ist. Auf diesen Positionen blüht das Ressentiment, so Nietzsche und Scheler. Das heißt: Es gibt eine Erfahrung des Unrechts, Leid wurde zugefügt, aber es gibt keine Mittel, um genau das zu artikulieren und entsprechend die Leute, die für die Deklassierung und Unterdrückung verantwortlich sind, zu beschuldigen und mit ihnen in eine moralische Auseinandersetzung zu treten. Diese Hemmung der „normalen“ Praxis des Übelnehmens ist der Anfangspunkt des Ressentiments. Um es zu vereinfachen, würde ich sagen, Ressentiment ist blockiertes resentment.
Wie kommt es von der Handlungsblockade auf der individuellen Ebene zum exzessiven Aspekt des sozial weiter gefassten Ressentiments?
Die Blockierung von Aushandlungsprozessen führt dazu, dass die Erfahrung des Unrechts verinnerlicht und vertieft wird. Sie wird gewissermaßen auf Dauer gestellt und erweitert. Es gibt dann nicht mehr nur das Unrecht, das erlitten wurde, sondern auch das Unrecht, dass dieses Unrecht nicht anerkannt wurde. So erweitert sich der Adressant:innenkreis des Übelnehmens. Beim Ressentiment hat man es mit einer Eskalationstendenz des Übelnehmens zu tun, die dadurch hervorgerufen wird, dass der Übergang in eine Praxis der Beschuldigung und der moralischen Verhandlung nicht stattfinden kann. Wie überwindet die Person, die darin befangen ist, dieses Praxisproblem? Nach Nietzsche: Durch die Erfindung neuer Werte. Das heißt: Da die Erfahrung des eigenen Leids nicht adressiert werden kann, weil die normativen und kognitiven Mittel dazu fehlen, um etwas vorwerfbar zu machen, müssen diese Normen erfunden werden. Das ist die positive, also setzende Wendung des Ressentiments.
Diese neuen Werte sind der herrschenden Moral fremd, wirken vielleicht sogar irre. Für diejenigen, die im Ressentiment feststecken, sind es dagegen Mittel der expressiven Selbstbehauptung, die gewissermaßen intuitiv einleuchten. Mit diesen Mitteln kann ein Unrecht endlich und dann auch verschärft artikuliert werden: Durch die Erfindung nicht schlicht neuer Werte, sondern in erster Linie durch die Erfindung eines neuen Bösen. Jene, die bisher als herrschend oder hegemonial erlebt wurden, kontrollieren auch, welche Werte gelten, sie sind also auch mitverantwortlich, dass das Unrecht nicht artikuliert werden konnte. Diese sind jetzt ‚die Bösen‘. Das ist die klassische Umkehrung und die harte Frontstellung, die für Nietzsche und Scheler beim Ressentiment entsteht. Aus der Kontrastierung der Ressentiment- mit der resentment-Tradition ergibt sich also der begriffliche Aspekt meines Projektes.
Was lässt sich mit diesem Aspekt machen, um heutige soziale Phänomene zu beobachten?
Ich versuche, den durch philosophische Reflexion gewonnenen Begriff auf unsere aktuelle politische Situation zu beziehen. Es geht dabei nicht um eine schlichte Anwendung eines philosophischen Begriffs, den man in ein soziologisches Experimentalsetting übersetzen könnte. Die begriffliche Reflexion soll vielmehr dabei helfen, Dinge zu sehen, die man vorher nicht gesehen hat. Das entspricht einer Grundlektion, die ich in meinem kunstgeschichtlichen Studium gelernt habe: Wenn man kein ausgefeiltes Vokabular dafür hat, was alles auf einer Fassade gefunden werden kann, erkennt man auch keine Unterschiede an Fassaden. Etwas Ähnliches erhoffe ich mir von der Profilierung des Begriffs des Ressentiments: dass eine terminologische Differenzierung uns ermöglicht, an unserer aktuellen politischen Krise Aspekte zu sehen, die wir vorher nicht sehen konnten.
Wie würdest Du dieses Vorhaben von zum Beispiel soziologischer oder politikwissenschaftlicher Forschung zu gegenwärtigen Krisen der Demokratie abgrenzen?
Mit Blick auf die breit diskutierten Beispiele des Brexit oder der Wahl Trumps konnte man beobachten, dass klassische Erklärungsmuster, auch soziologische und politikwissenschaftliche, an ihre Grenzen stoßen. Legt man die Überlegungen zugrunde, die ich gerade zu den beiden Begriffen des resentment und des Ressentiments skizziert habe, dann lassen sich in diesen aktuellen Deutungen grob zwei Erklärungsmuster unterscheiden: eine resentment-Erklärung und eine Ressentiment-Erklärung. Entweder werden Phänomene des Rechtspopulismus auf bestehende Ungleichheiten, Globalisierungsfolgen oder auf historische Veränderungen in der repräsentativen Demokratie zurückgeführt. Dementsprechend geht es darum, verständliche Anliegen hinter den eigentümlichen Protesten etwa von Pegida, beim Brexit oder bei der Wahl Trumps zu suchen. Oder es wurde gesagt: Eigentlich geht es hier nicht um nachvollziehbare politische Protestanliegen, sondern was sich hier in erster Linie artikuliert, so etwa die Pegida-Studie von Vorländer, Herold und Schäller, ist nichts als politischer Unwille, schiere Negativität. Ähnliches ließe sich auch über die Studie zu den „Querdenker“-Demos von Oliver Nachtwey sagen. Es gibt eine extreme Heterogenität in der Besetzung dieser Demonstrationen. Das Vereinende scheint kein bestimmtes politisches Anliegen zu sein, wie etwa bei Fridays for Future – das ist auch eine heterogene Bewegung, bei der es aber ein klares, identifizierbares politisches Ziel gibt. Bei den Querdenken-Demos manifestieren sich hingegen nur negative politische Gefühle, und zwar auf eine exzessive Art und Weise. Man findet also soziologisch oder politologisch kein verständliches Motiv – und hat es scheinbar mit Unverständlichem zu tun. Die Schlussfolgerung, die aus dieser Situation gezogen werden sollte, hat insbesondere Pankaj Mishra betont: Wir müssen in politischen Entscheidungsprozessen mit Irrationalität rechnen. Irrationales zu erklären ist ungleich schwerer als Rationales. Was wir dann machen können, ist das Unverständliche an einer Situation als Unverständliches verständlich machen.
Tritt da die Philosophie auf den Plan?
Mir geht es nicht darum, aus der philosophischen Warte die eine oder andere Erklärung zu privilegieren: die der nachträglichen Rationalisierung oder die der Unwille-Interpretation. Mein Ausgangspunkt ist vielmehr, dass offensichtlich die Gründe und Motive des Protests erklärungsbedürftig bleiben. Wenn empirische Erklärungen an ihre Grenzen stoßen, entsteht ein Bedarf an „Theorie“. Daraus ergibt sich weniger eine Arbeitsteilung der Disziplinen als eine Kooperation. Philosophische Ressentiment-Forschung sollte mit soziologischen und politologischen Deutungsangeboten in einen Austausch treten.
Worin unterscheiden sich die genannten sozialen Phänomene des 21. Jahrhunderts von denen, die Nietzsche, Scheler oder Améry als Ressentiment beschrieben haben?
Es gibt einen Artikel von Bernd Ulrich aus der Zeit, den er nach den ersten großen Querdenken-Demos geschrieben hat und in dem er die Frage stellt: Unter welchem Dach versammeln sich Anthroposoph:innen, Impfskeptiker:innen, Rechte und Linke? Ulrich nennt dieses Dach „das Ende der Normalität“. Seine These lautet: All die Krisen der jüngeren Zeit manifestieren das Ende der modernen westlichen Lebensformen, wie wir sie kennen. In der Nachtwey-Studie (auf S. 61) wird ganz ähnlich von „einer fundamentalen Legitimationskrise der modernen Gesellschaft“ gesprochen. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein Privilegierten-Ressentiment – ein Ressentiment, das Nietzsche nicht kannte und das vor allem Wendy Brown sehr schön herausgearbeitet hat.
Ich würde das folgendermaßen beschreiben: Es gibt ein blockiertes resentment, das wir alle vielleicht auf die ein oder andere Weise spüren. Die Klimakrise und die Krise unseres Naturverhältnisses, die kulturellen und politischen Krisen der westlichen Demokratien (im Zeichen von neurechten Populismen und Debatten über „cancel culture“), die moralischen Krisen des westlichen Wirtschaftssystems – alle diese Krisen gehen mit einer radikalen Infragestellung der ‚normativen Substanz‘ (der ‚gelebten Werte‘) unserer Gesellschaften einher. Die neueren (antirassistischen, feministischen und ökologischen) Protestformen (wie BLM, #metoo und FFF) sowie die verschiedenen Spielarten postkolonialer Kritik machen dies sehr deutlich: Es geht um eine Entwertung, einen Legitimitätsverlust vieler Aspekte unserer westlichen Lebensform. Dies führt wiederum zu breit geteilten Gefühlen der Gefährdung, der Verletzung, der Kränkung – und einer Art normativen Hilflosigkeit, gerade weil dabei die Mittel der Rechtfertigung verloren gehen, mit denen ‚unsere westliche Lebensform‘ vor jener Entwertung verteidigen werde könnte. Eben dies entspricht einer Erfahrung des blockierten resentment.
Von Pegida bis „Querdenken“ werden wir nun mit Versuchen der Überwindung der normativen Blockierung konfrontiert, die sich zugleich darum bemühen, neue Rechtfertigungserzählungen zu finden, mit denen man die vielfältigen Entwertungserfahrungen als Unrecht brandmarken könnte. Diese Narrative haben aber naturgemäß etwas Überzogenes, Angedrehtes, Irrationales an sich. Was da auf die Straße geht, ist dasjenige Ressentiment, das sich entwickelt, wenn man eigentlich übelnehmen möchte, dass man diesen Geltungsverlust erleidet, aber die normativen Mittel schwinden sieht, die einen in die Lage versetzen, das noch als Unrecht zu artikulieren. Aber das eigentlich Erschreckende daran liegt weniger darin, dass hier Leute für ‚politisch Unkorrektes‘ auf die Straße gehen. Das Erschreckende ist, dass diese Leute tatsächlich für uns alle auf die Straße gehen: Ihr Ressentiment agiert auf symptomatische Weise eine Angst aus, die die westliche Lebensform als solche befallen hat.
Dirk Setton, Philosoph, arbeitet derzeit an einer Studie unter dem Arbeitstitel „Politik des Übelnehmens: Die Zweideutigkeit des Ressentiments“. Zuvor forschte er zu Motiven des Unvermögens und Figuren des Scheiterns in kultur- und geisteswissenschaftlichen Theoriebildungen. Die Habilitationsschrift Autonomie und Willkür ist Anfang des Jahres bei De Gruyter erschienen. Im vergangenen Wintersemester war er Gastprofessor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin.
Elena Stingl ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Texten Georges Batailles, Simone Weils und Alfred Sohn-Rethels über die Niederlagen der europäischen Arbeiter:innenbewegung zu Beginn der 1930er Jahre.