• Beitrags-Kategorie:Drei Sätze

In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.

In diesem Fall schreiben drei Autor*innen über nur einen Satz.

La collectivité est plus puissante que l’individu dans tous les domaines,
sauf un seul : penser.
Simone Weil, Cahier I (1933-35)

Das Kollektiv ist in allen Bereichen stärker als das Individuum, außer in einem: Denken.

Es war ein Freitagabend im Herbst 2019, als ich bei Said saß, um einen späten Kaffee zu trinken. Abgabe, Nachtschicht: Entgrenzung I. Mein Telefon klingelt: Thomas Sojer, soviel ich wusste wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Weber Kolleg, der sich mit Simone Weil beschäftigt. Wir kommunizierten kurz vor dem Sommerloch per Mail und waren zu Semesterbeginn lose für einen Kaffee verabredet. 19:23 aber jetzt dieser Anruf: Entgrenzung II.

Ein kurzes ‚Hallo, wie geht es dir‘, danach gleich mit der Tür ins Haus ‚Wir müssen ein Netzwerk gründen! Martina ist ganz sicher auch dabei‘. ‚Wir müssen zusammenarbeiten, zusammen denken!‘

Ich sagte gleich zu. Weil ich derart überrascht wurde oder weil es mir gleich einleuchtete, weiß ich nicht. Irgendetwas gab es da, was Überlegung und Abwägung suspendierte.

Wir müssen zusammen denken.

Auf dem kurzen Weg nach Hause fiel mir Weils Zitat, das auf einer der ersten Seiten ihrer Cahiers steht, ein: „Die Gemeinschaft ist in allen Bereichen mächtiger als das Individuum, außer in einem: denken.“ Ich hatte es vor nicht allzu langer Zeit erst gelesen, dann unterstrichen, dann die Seite mit einem Post-it markiert und das Zitat rausgeschrieben. Da ich nicht wusste, wie ich die Cahiers lesen soll (nach wie vor eine der vielen ungelösten Fragen), hatte ich mir vorgenommen, jeden Morgen, als erste Handlung am Tag, zwanzig Seiten zu lesen. Ein Exerzitium. Ein leerer Küchentisch, noch nicht mal ein Aschenbecher. Ein Kaffee davor, einer danach. Währenddessen nur der Text. Irgendwann ging ich noch einen Schritt weiter und fing an, jeden Morgen zehn Seiten abzuschreiben – die Denkszene blieb die gleiche. Nur, dass ein Stift und ein hierfür gekauftes Notizheft als Verbündete dazukamen.

Es gibt diesen Satz von Nietzsche mit der Schreibmaschine, den niemand mehr hören kann. Aber ich gehe da vollkommen mit: Ich denke und schreibe immer in Verbünden. In Gemeinschaften: temporären Zusammenschlüssen von Objekten und Stimmungen, Affekten und Agenten. In Schreib- und Denk-Szenen. Es gibt diese Form der puren Isolation für mich nicht. Keine Wüste, so gut ich auch aufräume. Um es noch etwas weiter zu treiben und auf Weil zurückzukommen: Es gibt ‚das‘ Individuum nicht. Nicht zuletzt Michaela Ott und Gerald Raunig halfen mir dabei, diesen Umstand, nach still geteilter Lektüre von Deleuze/Guattari, auch theoretisch zu fassen. Das ‚Ungeteilte‘ ist nur eine (wirkmächtige und politische) Simplifikation, ein Heuristikum, Theorem oder Instrument zur (geistigen) Regier- oder zumindest Regulierbarkeit. Das Netzwerk haben wir im Herbst, zusammen mit Martina, gegründet. Seitdem ist Individualität und Isolation noch unmöglicher zu denken. Längst in diesem produktivsten (Da-)Zwischen von Freundschaft und professioneller Zusammenarbeit – „beholding the magnetism between two dead ends“ – denken wir zusammen. Ob in geteilter Raum-Zeitlichkeit. Versetzt und verrückt: dividuiert als Denkmaschine. Oder eben als Denkkollektiv.

Max Walther

La collectivité est plus puissante que l’individu dans tous les domaines,
sauf un seul : penser.

Was bedeutet eigentlich starkes Denken? Worin zeigt sich hier so etwas wie Kraft? Und gibt es dann auch ein weniger starkes Denken, also ein schwaches Denken? Simone Weils Satz mahnt mich darüber nachzudenken. Wie lese ich diesen Satz? Das Kollektiv ist in allem stärker als das Individuum, in allem, außer im Denken. Es liest sich ja fast wie eine Pointe in einem Märchen: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer sind die Stärksten im ganzen Land? Ihr, liebes Kollektiv, ihr seid die Stärksten! In allem? Naja, in allem hier! Was hier? In allem hier, was nicht Denken ist, …aber im Denken ist das Individuum tausendmal stärker als ihr! Starke Setzungen, die das denkende Individuum Simone Weil hier vorgenommen hat. Offensichtlich sieht sie Denken als etwas wirklich Besonderes. So besonders, dass es sich in einer einzigen, wesentlichen Hinsicht von allem ganz und gar unterscheidet: in der Kraft eines einzelnen Menschen, autonom und frei zu denken.

Heute liest sich das fast neo-liberal. Könnte doch irgendwie auch gut auf einem Plakat mit Christian Lindner stehen, oder? Sind Kollektive dann zwangsläufig dumm? Wäre dann ein Denkkollektiv, das sich ausgerechnet auf Simone Weil beruft, dann nicht in sich ein Widerspruch? Ich sage ja und nein und will Weil nach dieser Zwischenantwort weiter folgen: Wenn ich stark denken will, muss ich also alleine denken. Ansonsten riskiere ich so etwas wie schwaches Denken. Doch ist Stärke im Denken eigentlich immer besser? Simone Weil schrieb den Satz Mitte der 1930er Jahre mit Franco, Hitler und Stalin im Frühstücksradio. Hier bedeutete schwaches Denken fast immer Komplizenschaft. Ich befinde mich heute in einer anderen Situation, einer privilegierten. Als weißer cis-Mann auf der Universität möchte ich Weils Satz gegen mich lesen, bzw. besser als Einladung für ein schwaches Denken eines ohnehin strukturell Gestärkten.

Ist das Simone Weil Denkkollektiv also eine Schwächung meines Denkens? Klingt irgendwie nicht so toll, oder? Ich muss doch stark sein! Ganz ehrlich: Nein, muss ich nicht! Ich brauche sogar diesen Raum, der schwaches Denken erlaubt. Ich brauche diesen Raum, in dem ich nicht immer stark sein muss oder glaube, es zu müssen. Ich brauche diesen Raum, in dem ich mich im schwachen Denken transformieren lasse. Spätestens jetzt muss ich dem Elefanten im Zimmer seine Erdnuss geben: Ganni Vattimo hat mit seinem nicht ganz neuen pensiero debole einen Pfad geebnet, auf dem denkerische Schwachheit wichtig und schön sein kann. Vor diesem Hintergrund heißt Denkkollektiv für mich schwaches Denken – oder sagen wir für alle, die Schwäche trotzdem doof finden, einen geschützten Raum, der Blöße zulässt. Dazu muss ich wohl Weil gegen Weil lesen. Alles andere würde sie – glaube ich – auch gar nicht akzeptieren.

Tom Sojer

La collectivité est plus puissante que l’individu dans tous les domaines,
sauf un seul : penser.

Wie kann man gemeinsam sein, ohne in Logiken von Einschluss und Ausschluss zu denken/handeln? Wie kann man jenseits von Immunisierungen und Innerlichkeiten ein unabschließbares Mit-Teilen (partager) im Sinne des jüngst verstorbenen Jean-Luc Nancy leben? In meiner Lesart ist das Simone Weil Denkkollektiv der Versuch einer Umsetzung dessen, was Maurice Blanchot unter Rückgriff auf Georges Bataille mit der „communauté inavouable“, einer uneingestehbaren Gemeinschaft, beschreibt: Jede*r von uns (und dieses ‚wir‘ hinter dem ‚uns‘ ist schon gefährlich/verführend) schreibt und liest und denkt allein und doch in vielerlei Hinsicht ausgerichtet auf andere, auf die, die nicht unter das Ich zu assimilieren sind: konkret mindestens zwei andere Personen des Denkkollektivs, tatsächlich aber natürlich auf noch viele weitere hin, je nach Projekt und Kontext.

Die Ausrichtung auf die anderen hin ist für mich eine ganz zentrale Bedingung des Mit- und Gegeneinander-Denkens rund um Simone Weil und beinhaltet sowohl Aspekte von Macht als auch von Ohnmacht. Denn im Denken bedeutet Kollektivität manchmal Polyphonie und Vielfalt, bisweilen aber auch Reibung, Erfahrung von Alterität und Fremdheit. All das wirklich zu bejahen bedeutet für mich eine tägliche Praxis der Hinterfragung des Verhältnisses von ‚Eigenem‘ und ‚a/Anderem‘, ein Porösmachen meiner Grenzen, aber auch die Bewusstwerdung über selbige. Simone Weil verbindet mit Bataille, Blanchot und Nancy eine tiefe Ablehnung von Kollektiven und deren aus der Verschmelzung von Individuen zu einer mächtigen Masse/Gruppe erwachsender Macht, wie sie insbesondere in Form von Faschismen und Ideologien historisch immer wieder sichtbar wird.

Bleiben in der Folge nur radikale Einsamkeit und Rückzug? Ja und Nein, würde ich sagen. Was bleibt, ist die Möglichkeit des Miteinander-Denkens als Berührung auf Distanz. Vielleicht in Form eines Kollektivs, dass das colligere (lat. zusammenlesen, zusammenziehen, sammeln) als eine versammelnde Begegnung unterschiedlicher Lesarten versteht, die nicht in eine münden sollen oder gar dürfen, sondern die teils nebeneinander fließen, teils ineinander, sich vermischend und verändernd. Somit würde ich, Weils Satz lesend, auch nicht sagen, dass in Bezug auf das Denken das Individuum stärker ist als das Kollektiv, sondern dass es der Raum des Zwischen ist (zwischen und auch vor, unter, über, neben Individuum und Kollektiv), welcher eine ganz andere Form der Stärke eröffnet: die des Verwundbarseins, des Sich-aufeinander-Verlassens und der Freundschaft.

Martina Bengert

Martina Bengert (Humboldt-Universität zu Berlin), Tom Sojer (Universität Erfurt) und Max Walther (Bauhaus-Universität Weimar) arbeiten und forschen als Kollektiv. Zur Namensgebung nach der französischen Philosophin kam es, weil die Schriften Simone Weils immer wieder eine polyperspektivische, dialogische und offene Auseinandersetzung fordern. Das Kollektiv versucht, eine solche prozessuale Arbeitsweise – nicht nur anhand von Weils Texten – zu erproben und einzulösen.

Titelbild © wikimedia commons