Der Surrealismus ist genau diejenige Praxis, die zur kritischen Theorie passt, schreibt Elisabeth Lenk. Ein Workshop am Centre Marc Bloch widmete sich nun ihrem in Vergessenheit geratenen Werk, das eine Brücke zwischen den beiden vermeintlich so disparaten Strömungen bildet.
Von Iphigenia Andreou
Am 16. Juni 2022 ist die Soziologin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk in Berlin gestorben, und mit ihr eine einzigartige Zeitzeugin zweier für Europa sehr prägender Bewegungen. Lenk schloss 1962 ihr Soziologiestudium bei Theodor W. Adorno in Frankfurt ab und promovierte anschließend in Paris über André Breton. Mit beiden verband sie auch ein persönliches Verhältnis. „Breton und ,sein‘ Surrealismus wurden für mich sehr wichtig, zeitweilig wichtiger als Adorno. Ich sah Breton jeden Tag – außer sonntags – zwischen 18 und 20 Uhr im Café Promenade de Vénus“,[1] schreibt Lenk in der Einleitung zu dem von ihr selbst herausgegebenen Briefwechsel zwischen ihr und Adorno. Sie führten ihn während Lenks Zeit in Paris bis zu Adornos Tod. „Ich habe noch nie, wirklich noch nie eine Frau getroffen, die ich für so genial begabt halte wie Dich, in den Bereichen, die mir die nächsten sind; und bitte, setze das nicht auf das Konto meiner Verliebtheit, zu der es nur noch mehr beiträgt“, schreibt Adorno ihr 1965 in einem Brief, der die Anrede „Ma très chère“ trägt und wohl Liebesbrief genannt zu werden verdient.[2] Auslöser für seine Begeisterung war die von Lenk verfasste Einleitung zu einem Text von Charles Fourier, den Adorno herausgeben wollte. Der Liebesbrief blieb von Lenk unbeantwortet.
Adorno gilt als Hauptvertreter der Frankfurter Schule und Breton als Gründer des Pariser Surrealismus. Beide Bewegungen entstanden oder gründeten sich um 1924 als „zwei Arten des Umgangs mit der historisch irrational gewordenen Rationalität“[3]. Beide versuchten sie, gegen den sich ausbreitenden Faschismus und Nationalsozialismus zu wirken, Vertreter beider Bewegungen mussten ihm schließlich entfliehen und verbrachten teilweise Jahre im Exil, und beide gewannen in den 1960er-Jahren zusammen mit der 68er-Bewegung erneut an Aktualität: In Deutschland wollte man mit einer nach wie vor (unterschwellig) nationalsozialistischen und autoritären Gesellschaft brechen, wofür die kritische Theorie eine wichtige theoretische Grundlage bildete, und in Paris zierten surrealistische Slogans wie „Phantasie an die Macht (L’imagination au pouvoir)“ oder „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche (Soyez réalistes, demandez l’impossible)“ die Hauswände.
Lenk war eine zentrale Figur dieser Zeit. In Frankfurt hielt sie 1962 das Grundsatzreferat des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), der damals eine Wanderausstellung über NS-Juristen, die noch immer Ämter bekleideten, organisiert hatte und deshalb von der SPD ausgeschlossen wurde. Sie erntete dafür die Kritik, den SDS auf „Adorno-Linie“ bringen zu wollen. In Paris wurde sie noch im selben Jahr Teil der surrealistischen Gruppe, bis sie dort 1967, nur ein halbes Jahr nach Bretons Tod, aufgrund „situationistischer Abweichung“[4] hinausgeworfen wurde. „Mein Buch über André Breton hatte ich unterm frischen Eindruck der Maiereignisse von 1968 geschrieben, und dabei schwebte mir immer Adorno als der ideale Leser vor. Damals noch erschienen beide Bewegungen von höchster Aktualität.“[5]

Der Pariser Surrealismus und die kritische Theorie Frankfurts teilen nicht nur eine ähnliche Biografie, sondern sind ästhetische und kritische Reaktionen auf dieselben historischen Fragen und Katastrophen. Bedenkt man außerdem, dass der Surrealismus gerade an die deutsche Romantik anknüpfte, so ist es umso erstaunlicher, dass er in Deutschland nie größere Beachtung fand und immer nur getrennt von der kritischen Theorie gedacht worden ist. Lenk widmete dieser Beobachtung schon 1966 einen kurzen Essay: „Warum wird der Surrealismus in Deutschland so wenig beachtet?“ Sie blieb die einzige Denkerin Frankreichs und Deutschlands, die sowohl intellektuell als auch persönlich so vertraut mit beiden Bewegungen zugleich war.
Die Übertragung vieler surrealistischer Texte aus dem Französischen ins Deutsche ist vor allem ihr und der Philosophin und Soziologin Rita Bischof zu verdanken, die auch eine enge Freundin Lenks war. Für Lenk, und dies mag nun an Hans Magnus Enzensberger oder Jürgen Habermas geschulte Ohren überraschen, gehören Surrealismus und kritische Theorie zusammen:
„Ich möchte heute die Frage stellen, ob nicht der Surrealismus genau die Praxis war und noch immer ist, die zur kritischen Theorie paßt, […] und ob nicht umgekehrt die kritische Theorie eben die Theorie war und noch ist, auf die hin die surreale Praxis angelegt war. […] Gemeinsam haben beide Bewegungen, daß sie dem Politischen eine andere, nämlich ästhetische Dimension hinzufügen, eine Tatsache, die gerade in Deutschland am wenigsten begriffen worden ist.“[6]
Von hier nahm am 11. Juli 2025 der von Sarah Carlotta Hechler und Frank Müller organisierte Workshop am Centre Marc Bloch (CMB) seinen Ausgang. Aus dem Blickwinkel verschiedener Fachrichtungen stellte er die Frage, wie sich kritische Theorie und Surrealismus in der Person und im Denken Lenks verbinden – und wie darüber hinaus. Was ist die ästhetische Dimension, die die beiden Bewegungen nach Lenk teilen?
Der erste Teil der Veranstaltung galt Lenks frühem Werk: Gabriel Chatelain (ENS Lyon) stellte Lenks Diplomarbeit Neuromantische Züge im Gesellschaftsbild Georg Simmels vor; Frank Müller (CMB) hielt anhand des Briefwechsels zwischen Lenk und Adorno einen Vortrag zu ihren Jahren in Paris. Kaum dass Lenk in Paris angekommen war, Breton kennengelernt hatte und in die surrealistische Gruppe eingetreten war, änderte sie ihr Promotionsthema, das eigentlich ein streng soziologisches hätte sein sollen. Sie beschloss, von Adorno darin bestärkt, über den Surrealismus zu promovieren. Ihre Doktorarbeit erschien 1971 unter dem Titel Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus. Sie ist, wie Bischof schreibt, ein Entwurf „einer neuen Form von Literatursoziologie, die nicht nur den ästhetischen Phänomenen selbst Rechnung trägt, sondern direkt von ihnen abgezogen wäre.“[7] Lenk gehe von Phänomenen aus, „die sowohl eine soziologische als auch eine ästhetische Seite besitzen, wie zum Beispiel Maske und Chor“.[8]
Die Beschäftigung mit dem Ästhetischen spielte mithin bei Lenk früh eine wesentliche Rolle. Dabei ging es ihr um eine vom Kunstwerk losgelöste Ästhetik, die sie im Surrealismus wiederfand. Denn dieser war ästhetische, oder wie Lenk gerne schreibt: poetische Praxis, der Versuch, poetisch zu leben. Wenn Lenk also von einer ästhetischen Dimension spricht, die der Surrealismus und die kritische Theorie dem Politischen hinzufügen würden, so meint sie damit in erster Linie ein aus der Erfahrung geborenes Verhalten,[9] das Handeln nicht als Aktivität, sondern als Geste und Zeichen begreift: „Im Begriff surreale Praxis liegt bereits, daß es sich hier nicht um Praxis im buchstäblichen Sinne handelt, sondern um ein symbolisches Handeln, ein Handeln als Geste und Zeichen.“ Diese seien eine „gewaltlose Alternative zur Politik“.[10] Quintessenz des Ästhetischen bei Lenk ist nicht das Kunstwerk, sondern eine poetische Verhaltensweise zur Welt, die mimetisch, nicht-identisch und herrschaftsfrei zu nennen wäre und gleichsam schöpferisch, kreativ und dem Menschen das Intimste ist.
Die Geschichte jener ästhetischen Dimension versucht Lenk in ihrem Hauptwerk Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum (1983) nachzuzeichnen: „Ich wollte die Geschichte des Imaginären, also die Geschichte von etwas aufzeichnen, was nie existiert, was sich nie zum Sein verfestigt hat.“[11] Es ist die Geschichte dessen, was die Menschen Höhlenmalereien oder Chormasken anfertigen, was sie Mythen erzählen und Feste feiern ließ, was in ihnen bis heute träumt und phantasiert. Es ist die „seltsame Neigung der Menschen […], sich selbst und die Welt zu verdoppeln“[12], aus sich eine zweite Welt entstehen zu lassen, die man dann in Form von Träumen oder Geschichten erlebt. Es ist eben, wie der Titel des Buches verrät, die mimetische Grundstruktur des Menschen, die sich heutzutage nur noch im nächtlichen Traum und in der Kunst – nach Lenk insbesondere in der traumhaften Literatur der Moderne und in der Lyrik – wiederfindet. Lenk nennt jene ästhetisch-mimetische Grundstruktur oft auch die Subjektivität. Sie ist der Gesellschaft unbewusst, obschon sie immer präsent ist – etwa jede Nacht, wenn der Mensch träumt.

„Der Traum ist wesentlich Form“,[13] schreibt Lenk in Die unbewußte Gesellschaft. Der Traum sei wesentlich Form, wie ein Gedicht es ist: „Sowenig ein Gedicht von der Form, in der es auftritt, abgelöst, in gewöhnliche Sprache rückübersetzt werden kann, sowenig läßt der latente Traumgedanke sich von der Form, die er zu seiner Selbstdarstellung wählt, abtrennen.“[14]Mit den latenten Traumgedanken referiert Lenk auf Sigmund Freuds Traumtheorie, die sie vor allem in einer Hinsicht immer wieder kritisiert: Freud, und allgemein die Psychoanalyse, versuche durch Deutungsarbeit die versteckten Trauminhalte sichtbar zu machen, übersehe aber die immanente Bedeutung der Traumform:
„Die Psychoanalyse hat die Traumelemente auf ihre Bedeutung hin befragt und dabei übersehen, daß der Traum als Form betrachtet Ausdrucksakt ist, der seine Bedeutung in sich selber hat. Sie kassiert die unüberbrückbare Differenz von Ausdruck und Bedeutung. […] Daß es neben all den vielen vom Wachleben her determinierten Wünschen auch den ganz und gar irrationalen Wunsch nach der Traumform geben könnte, auf diesen einfachen Gedanken kommt das prosaische Bewußtsein nicht.“[15]
So wenig wie ein Gedicht „die Einkleidung fertiger Stimmungen“ ist, so wenig sei auch der Traum nur „die Verkleidung oder Illustration von Gedanken“.[16] Oder noch plakativer formuliert: Lenk nimmt die Tatsache ernst, dass der Mensch auf solch unlogische, rätselhafte Weise träumt. Die Frage, warum er das tut, sieht sie analog zu der, warum der Mensch Gedichte schreibt, wenn er sich auch in einem logischen Prosatext hätte äußern können. Die Antwort liege gerade im Ausdrucksakt selbst, der wesentlicher Teil des Menschen sein muss, sonst würde er sich nicht jede Nacht auf diese Weise ausdrücken. Was wäre also, wenn man den Traum, wie Lenk es vorschlägt, als „lebende Form“[17]ernst nehmen und ihn (auch) als ein ästhetisches Phänomen betrachten würde? Ganz interesselos? Wie ein Gedicht?
Hier setzte Clara Funks (Europa-Universität Viadrina) Vortrag „Traumform und Utopie der Form“ an und ging dabei auf aktuelle Fragen und zeitgenössische surrealistische Schreibweisen ein: Wie ermöglicht Lenks Rationalitätskritik eine neue Diskussion über die Differenz zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz? Führt die Lenk’sche Frage nach der (Traum-)Form nicht direkt zum Verstehbarkeitsproblem im Herzen ästhetischer Praxis? Die Grundlage für Funks Vortrag bildete Lenks Aufsatz „Die Entmachtung des Traums. Oder: Über das alltägliche Drama von der Vertreibung der Subjektivität“, der in seinem Titel bereits den Ansatz des nächsten Vortrags verrät: Der Traum scheint für Lenk mit der Subjektivität zusammenzuhängen.
Mein eigener Beitrag nahm mithin die begriffliche Bedeutung der Subjektivität in den Blick, die für Lenk nichts „mit den mehr oder weniger beliebigen, mehr oder weniger austauschbaren privaten Inhalten eines Subjekts“[18] zu tun habe, sondern – wie der Traum – wesentlich Form sei. Die These des Vortrags lautete, dass Subjektivität für Lenk die Befreiung von Natur ist und gleichzeitig eine Gegenbewegung zur Vernunft; sie ist eine souveräne Kraft im Menschen, die sich eben in einer ästhetischen – und damit interesselosen und herrschaftsfreien – Form Ausdruck verschafft. Der älteste Ausdruck dieser Form wäre genau der Traum, mit dem für Lenk die Subjektivität sowohl ontogenetisch im einzelnen Menschen als auch phylogenetisch für die gesamte Menschheit erwachte. Er steht quasi am Anfang der Menschwerdung. Mit Lenk, so würde ich argumentieren, lässt sich der Subjektivitätsbegriff der kritischen Theorie retten. Denn Lenk vermag Subjektivität herrschaftsfrei und gleichzeitig als souveräne Kraft zu denken, die sich von den Fesseln der Natur befreien konnte, ohne Natur deshalb unterwerfen zu müssen. Damit steckt in Lenks Werk eine Hoffnung auf Versöhnung, die als immerwährende Möglichkeit in jedem Menschen schlummert.
Lenks Zeit war nicht nur die des Surrealismus und der kritischen Theorie, der Nachkriegszeit und der 68er-Bewegung, sondern auch die der „Zweiten Frauenbewegung“. In Lenks Sammelband Kritische Phantasie – ein Titel, der nicht besser die Verknüpfung von Surrealismus und kritischer Theorie hätte wiedergeben können – sind zwei Essays Lenks veröffentlicht, die auf diese Zeit reagieren oder daran anknüpfen: „Die sich selbst verdoppelnde Frau“ (1976) und „Pariabewußtsein und Gesellschaftskritik bei einigen Schriftstellerinnen seit der Romantik“ (1980). Auf letzteren Aufsatz und den von Lenk geprägten Begriff des Pariabewusstseins ging Sarah Carlotta Hechler (CMB) in ihrem Vortrag ein. Hechler befasste sich zunächst mit den Bezügen zu Max Weber, Flora Tristan und Hannah Arendt, die den Begriff des Parias prägten. Aber die „soziologische und literaturwissenschaftliche Kategorie“ des Pariabewusstseins führte Lenk selbst ein; sie beschreibe eine „gewisse Kontinuität im Bewußtsein von Frauen“, insbesondere von schreibenden Frauen.[19] Hechlers Vortrag untersuchte die von Lenk beschriebenen Ausschluss- und Vergesellschaftungsdynamiken mit Georg Simmel und Georges Batailles Denken des Heterogenen und ging schließlich der Frage nach einer Verbindung von Lenks These des Pariabewussteins schreibender Frauen zu einer „weiblichen Ästhetik“ nach. Hierbei erwiesen sich zwei Differenzierungen als wichtig: zum einen die Differenzierung zwischen sozialem und ästhetischem Handeln und zum anderen die Differenzierung zwischen einer ‚weiblichen‘ Ästhetik und einer „Ästhetik des anderen“ (Rita Bischof), die mit Lenk nicht-identisch zu denken wäre.
Lenks früherer Essay über „die sich selbst verdoppelnde Frau“ ist ein ganz persönlicher Text, der gleichsam eine feministische Kritik an ihren Idolen und am Surrealismus beinhaltet:
„In den bisherigen, von Männern gemachten Kunst und in der gleichfalls von Männern konstruierten Ästhetik (vom Altertum bis hin zu Breton, bis hin zu Adorno, um nur zwei zu nennen, die ich mag und die mir vertraut sind) war das sogenannte Rätsel der Schönheit immer unauflöslich verknüpft mit dem Rätsel der Frau. […] Wenn nun aber die Frauen anfangen, die ästhetische Dimension zu erobern, wenn das schöne stumme Bild sich selbst auflöst, dann muß notwendig das falsche Geheimnis entzaubert werden.“[20]
Breton und Adorno seien dem falschen Geheimnis nah, aber nur nah gekommen. In Bretons Text Nadja sei Nadja zwar schon kein lebloser Gegenstand mehr, aber sie verhalte sich noch nicht zu sich selbst: „Träumend verharrt sie im spiegellosen Raum, so daß der Andere, der Mann, der Künstler es ist, der über ihre Phantasien verfügt.“[21] Und schließlich schreibt Lenk, den Begriff des Pariabewusstseins aus der eigenen Erfahrung heraus bereits andeutend:
„Ich habe mich, wenn ich meinen Idolen entsprach, groß und wenn ich ihnen nicht entsprach, klein gefühlt. Manchmal ahnte ich, daß ich außerhalb der Gesellschaft stehe, daß ich als Frau draußen bin, daß alle Frauen draußen sind.“[22]
Doch wer außerhalb steht, hat auch Zugang zu dem von der Gesellschaft ausgeschlossenen Heterogenen, nach dem Lenk in ihren Werken „wie eine Archäologin“ (Lenk) gräbt.

Die letzten zwei Beiträge des Workshops widmeten sich konkreter Lenks Interpretation des Surrealismus. Ben Seel (FU Berlin) brachte sie in seinem Vortrag „Surrealismus bei Lenk, Benjamin und Adorno“ für eine Kritik des modernen Zeitverständnisses in Stellung. Dieses sei Lenk zufolge als Vertreibung der Gegenwart zu verstehen. Der Beitrag suchte nach Spuren der vertriebenen Gegenwart vermittels des Bildes der Ruine, anhand derer Lenk, Benjamin und Adorno einen vom Surrealismus inspirierten Einwand gegen die „Katastrophe des Erwachens“ (Lenk) formulieren. Ausgangspunkt des anschließenden Doppelvortrags von Marcus Döller (Universität Erfurt) und Lorenz Mayr (FU Berlin) mit dem Titel „Kritische Theorie und surreale Praxis“ bildete Lenks These, dass Surrealismus und kritische Theorie zusammengehören. Das kritische Potenzial surrealer Praxis zeige sich in einer Rezeptions- und Produktionsästhetik überschreitenden Passivität, die sich besonders radikal im surrealistischen Automatismus manifestiere. Mayr deutete die surreale Praxis als eine exzessive, mimetische Praxis, die der geronnenen Form der sozialen Ordnung entgegengesetzt sei: eine formlose Kraft, die auflösenden Charakter habe. In einer systematischen Rekonstruktion von Lenks Reflexionen über den Automatismus zeigte der Vortrag, dass auch die Kunst als Ort einer „göttlichen Unordnung“ (Lenk) neu gefasst werden könne, in der sich Phantasie, Passivität und Entwirklichung als Einsätze eines kritischen Denkens jenseits gesellschaftlicher Funktionslogiken erweisen. Mayrs Interesse galt der Auflösung als Gegenbewegung zu einer Form der Bestimmtheit, wie sie sich auch im Automatismus vollziehe. Die These lautete, dass Lenks eigenständiges kritisches Denken bei der Entwirklichung einsetze: Diese sei nicht bloß ein Zerfall, sondern enthalte ein dialektisches Moment. Der Traum wie die Phantasie seien nicht restlos ausdeutbar. Ihre destruktive Kraft könne man nur im Sinne einer Richtigstellung verstehen: „Die Entstellung von der Entstellung ist die Richtigstellung“.[23]
Für Lenk ist der Traum – die Entstellung von der Entstellung – kritisch, er idealisiert nicht. In einem späten Vortrag resümiert sie:
„Meine Idee war es, dass der Traum, aber der streng freudianische nächtliche Traum […] dem Einzelnen, jedem Einzelnen zu Hilfe kommen könnte, wenn es gelänge, ihn als Kritik zu leben. Die unerbittliche Kritik des Gefühls und der Sinne an einem Zustand, der sie unterdrückt, müsste dem gestressten, aus Angst immer allzu kompromissbereiten Ich zu Hilfe kommen.“[24]
Den Höhepunkt und Abschluss des Tages bildete der Vortrag von Rita Bischof, die auch für den Nachlass Lenks im Archiv der Berliner Akademie der Künste verantwortlich ist. Bischof gelang es, alle roten Fäden und offenen Fragen des Workshops in einem Abschlussvortrag zusammenzuführen: vom begrifflichen Status der Subjektivität bei Lenk zu Simmel, Adorno und Bataille über die Krise des Subjekts und der Souveränität, die allen Menschen gleichermaßen eigen sei, hin zum Heterogenen, zum Traum und der Mimesis, zur Ästhetik, zum Surrealismus, zu Foucault, der Gewalt in der Selbstwerdung und dem totgesagten Individuum. Einmal mehr wurde deutlich, dass Lenk nicht nur Zeitzeugin, sondern auch Mitgestalterin jener Theoriegeschichte ist, die von der kritischen Theorie bis in das einst ausgerufene Zeitalter der Postmoderne reicht. Bischof ist es auch zu verdanken, dass demnächst ein Sammelband mit Kritischen Schriften Lenks beim Verlag Matthes & Seitz erscheinen soll. Dies ist umso wichtiger, als Lenks bisher erschienene Werke nicht mehr verlegt werden. Mögen also die Kritischen Schriften zu Lenks Wiederentdeckung beitragen.
Iphigenia Andreou arbeitet als Grundschullehrerin und Verlegerin im Radiator Verlag. An der FU Berlin schreibt sie derzeit an ihrer Masterarbeit über Elisabeth Lenk.
[1] Adorno, Theodor W., Lenk, Elisabeth: Briefwechsel 1962–1969. Hrsg. v. E. Lenk. München 2001, S. 13.
[2] Ebd., S. 65.
[3] Hoß, Dietrich; Steinert, Heinz: Zur Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Vernunft und Subversion. Die Erbschaft von Surrealismus und Kritischer Theorie. Münster 1997, S. 7–11, S. 7.
[4] Lenk: Briefwechsel, S. 14.
[5] Lenk, Elisabeth: „Kritische Theorie und Surreale Praxis“. In: Lenk, Elisabeth (Hrsg.): Briefwechsel 1962–1969. München 2001, S. 199–220, S. 199.
[6] Ebd., S. 206.
[7] Bischof, Rita: „In memoriam Elisabeth Lenk“. In: Soziologie 51.4 (2022), S. 470–473, S. 471.
[8] Ebd., S. 472.
[9] Vgl. Lenk: „Kritische Theorie und Surreale Praxis“, S. 205.
[10] Beide Zitate ebd., S. 208.
[11]Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. München 1983, S. 35.
[12] Ebd., S. 81.
[13] Ebd., S. 264.
[14] Lenk, Elisabeth: Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus. München 1971, S. 121.
[15] Lenk: Die unbewußte Gesellschaft, S. 13.
[16] Ebd., S. 16.
[17] Ebd., S. 31.
[18] Ebd., S. 22.
[19] Lenk, Elisabeth: „Pariabewußtsein und Gesellschaftskritik bei einigen Schriftstellerinnen seit der Romantik“. In: Kritische Phantasie. Gesammelte Essays. München 1986, S. 199–222, S. 199.
[20]Lenk, Elisabeth: „Die sich selbst verdoppelnde Frau“. In: Kritische Phantasie. Gesammelte Essays. München 1986, S. 149–160, S. 150f.
[21] Ebd., S. 150.
[22] Ebd., S. 154.
[23]Lenk, Elisabeth: „Der Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautréamont und Carroll“. In: Kritische Phantasie. Gesammelte Essays. München 1986, S. 121–147, S. 125.
[24]Lenk, Elisabeth: „Das uneingelöste Versprechen der Theorie“. In: Gruschka, Andreas; Oevermann, Ulrich (Hrsg.): Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. Wetzlar 2011, S. 161–186, S. 171.
