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Schmerz sprengt die Sprache, Gender die Norm des Geschlechts – in ihrer feministischen Analyse bringt Franziska Kutzick beides zusammen und deckt überraschende Verbindungen auf.

Rezension von Teresa Geisler

In Schmerz, Gender und Avantgarde. Violette Leduc und Nicole Caligaris im Kanon der französischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts (transcript 2023) untersucht Franziska Kutzick, wie die literarischen Avantgarden Schmerz und Gender thematisieren, wobei sie neben anderen französischen Autor*innen zentral die Arbeiten von Violette Leduc und Nicole Caligaris in den Blick nimmt. Die Arbeit ist dicht und materialreich und beleuchtet den Zusammenhang zwischen Gender und Schmerz aus einer originellen Perspektive. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Auslotung von Verbindungen und Verwicklungen zwischen französischen Autorinnen der Gegenwart wie Nicole Caligaris und Avantgarde-Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts von Dada über Surrealismus bis zurück zu Gustave Flaubert als Vorläuferfigur.

In Flauberts Madame Bovary (1856) sieht die Autorin bereits viele Themen angedeutet, die bis heute die Avantgarde prägen: „Die Schilderung einer schmerzhaften Erfahrung von Weiblichkeit korreliert darin mit dem Anspruch eines literarischen Erneuerungsprozesses, der an eine (männliche) Subjektkrise gebunden ist. Ausgehend von dieser Konstellation zeichnen sich in der Literatur der Avantgarden im Allgemeinen und in der des Surrealismus im Besonderen Interaktionen schmerz- und genderästhetischer Verrückungen ab, in der sich [ein] Fragmentierungsphantasma weiblicher Körper und eine Suche nach einem künstlerisch innovativen und antibürgerlichen Ausdruck verbinden.“ (68) Wie um die Schmerzhaftigkeit und Körperentfremdung des modernen intellektuellen Daseins zu illustrieren, das in Selbstreflektion und Ich-Bezüglichkeit gefangen ist, lässt Flaubert seine Protagonistin Emma Bovary, die, getrieben von der qualvollen Langeweile ihrer Existenz, ihr Leben zugrunde richtet, in einem spektakulär schmerzhaften Freitod sterben, den Kutzick als „poetisches und literaturpolitisches Ursprungsphänomen“ (69) des Surrealismus betrachtet.

Demnach verkörpert bereits Emma Bovary, wie später auch die versehrten Frauenfiguren der surrealistischen Kunst und Literatur, eine (Körper-)Ästhetik, die ihre innovative Kraft aus der Abwesenheit von intellektuellen, ästhetischen oder moralischen Beschränkungen schöpft – „en l’absence de toute contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale“ (Breton zit. nach Kutzick 69), schreibt André Breton schließlich in seiner berühmten Definition des Surrealismus. Madame Bovary vertritt eine sprachskeptische Poetik, die um den Punkt kreist, an dem Sprache endet und der Körper beginnt. Nachdem Emma ihrer schmerzhaften Existenz ein Ende gesetzt hat, lässt der Autor ihren elektrisierten Kadaver noch einmal auferstehen: „Als wiederauferstehender, lebendiger und ver-rückter Kadaver fixiert sie mit aufgerissenen Augen (,la prunelle fixe, béante‘) eine zukünftige Literatur, die in ihrem fürchterlichen, besessenen und verzweifelten Lachen (,un rire atroce, frénétique, désespéré‘) zugleich in sie zu fahren scheint.“ (76) Der Tod von Emma Bovary ist nach Kutzick nicht nur eine Absage an eine alte Literatur, sondern auch die Ankündigung einer neuen Literatur, die den Körper als Sprachmedium und Zeichenträger ins Zentrum rückt. Im Rückblick erscheint der Autorin demnach das Spektakel des Lebens und Sterbens der Emma Bovary als eine surrealistische Szene avant la lettre, die bereits wesentliche Aspekte enthält, die später für die Avantgarde typisch werden, wie „das gesellschaftliche und künstlerische Transgressionspotential der Imagination, die Darstellung einer metamorphisch verzerrten Realität, die Gefährlichkeit und Tödlichkeit weiblicher Lust, Weiblichkeit als Inbegriff ebenso faszinierender wie auch furchteinflößender Irrationalität sowie als Trägerin eines Potentials zur Ver-rückung bestehender Ordnungen und einer Poetizität, die ins Unbekannte und Überwirkliche vorstößt.“ (77)

Die Verschränkung von Kunst und Körper wird zum zentralen Thema der Avantgarden. Nachdem der Körper mit seinen Empfindungen in der Kunst, aber auch der Wissenschaft und der Philosophie lange eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, beginnen die avantgardistischen Künste und Literaturen nun, den lebendigen Körper in den Blick zu nehmen und künstlerisch-experimentell zu untersuchen (vgl. 82) – und thematisieren verstärkt auch Schmerz als leibliches Phänomen. Kutzick legt ihrer Arbeit den Schmerzbegriff der International Association of Pain (IASP) zugrunde, die Schmerz als unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis bestimmt, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung assoziiert ist (vgl. 39f.). Obwohl sich der Bezug auf die einflussreiche Definition der IASP in (kultur)wissenschaftlichen Arbeiten über Schmerz etabliert hat, scheint die Anbindung in diesem Fall unnötig, da Kutzick in ihrer Arbeit letztlich doch einen sehr breiten Schmerzbegriff vertritt, der Trauer, Verzweiflung, Leid, emotionale Verletzung oder Demütigung miteinschließt und somit dem alltagssprachlichen Schmerzbegriff eigentlich näher ist als der Definition von körperlichem Schmerz der IASP.

Vielleicht ist es diesem breiten Schmerzbegriff geschuldet, dass die Autorin kaum systematische Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Schmerz und Sprache anstellt. Dafür arbeitet Franziska Kutzick heraus, wie die Avantgarde-Bewegungen die schiere Materialität des Körpers, die uns im Schmerz entgegentritt, poetisch verarbeiten und Schmerz als zerstörerische, aber auch befreiende und produktive Kraft adressieren. Im Schmerz tritt der Körper, der in seiner Ständigkeit oft im Hintergrund unseres bewussten Lebens bleibt, hervor – meist auf störende, manchmal auf zerstörende Weise. Körperstellen, denen wir sonst keine Beachtung schenken, die wir kaum bewusst erspüren, „materialisieren“ sich plötzlich im Schmerz. Diesen Aspekt von Schmerz scheint die queere Künstlerin Claude Cahun zu verhandeln, wenn sie in Aveux non avenus (1930) von ihrem Fleisch („chair“) spricht und ihren Körper als schmerzhaftes, formloses Ding beschreibt, die „chose“, die ihr im Weg ist: „Cette chose informe, énorme, douloureuse, horriblement voluptueuse, est-elle couchée en travers de ma route? Arriviste de l’âme: se passer sur le corps.“ (Cahun zit. nach Kutzick 137) Indem Cahun die Ambiguität der Unhintergehbarkeit des eigenen Leib-Körpers („chair“) adressiert, der einerseits „point zéro du monde“, andererseits aber eben auch „die chose“ ist, die uns weh tut, thematisiert die avantgardistische Autor*in bereits in den 1920er Jahren Eigenschaften unseres leiblichen Daseins, um die zwanzig Jahre später das Denken von Maurice Merleau-Ponty[1] kreist, welches die Embodiment-Bewegung begründen wird… Ob Merleau-Ponty wohl Claude Cahun gelesen hat?

Jacques-Fabien Gautier d’Agoty: Femme vue de dos, disséquée de la nuque au sacrum (1746) © inha.fr

Zur selben Zeit wie Merleau-Ponty und ebenso wie er im Dunstkreis von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir inszeniert Violette Leduc in L’Affamée (1948) eine spektakuläre Häutung als Metapher für Befreiung und Transformation: Ihre Protagonistin zertrümmert vor Liebesschmerz mit einer Axt alle Spiegel in den Waschräumen eines Restaurants; die Spiegel bleiben intakt, aber aus dem Gesicht der Erzählerin lösen sich schorfige Hautfetzen, die zu Boden fallen und auf denen sie schließlich zu tanzen beginnt: „J’étais neuve.“ (Leduc zit. nach Kutzick 204) Aufschlussreich sind auch die Bilder, die die Avantgarde für den gegenständlichen Charakter des Schmerzes findet, der als fremd abgespalten wird: So spricht die Erzählerin in L’Affamée davon, dass sie den Schmerz mit sich herumträgt wie ein belastendes Gepäck: „Il y a dans ma tête, dans mon corps une malle qu’il faut porter, emporter partout.“ (Leduc zit. nach Kutzick 206) Aus dieser „malle“, die die Erzählerin mit sich herumschleppt, kommen im Laufe des Textes „fantastische Szenen und verlebendigte imaginäre Gestalten und tierische Fantasiewesen“ (207) hervor, die auf das Eigenleben des Schmerzes verweisen, der die Erzählerin verwandelt: „Als sie sich vorstellt, was passieren würde, wenn sie sich einen Spiegel vorhielte, sähe sie nicht sich selbst – sondern eine ,gargouille‘, die sich vor Schmerzen in ihrer Wollust windet.“ (Ebd.) In ihrer Selbstwahrnehmung als „une gargouille“ bietet Leduc kein schönes Bild weiblicher Trauer, stattdessen zeigt der Spiegel die Gestalt eines „monströs-animalischen Wasserspeiers, der weder schweigt noch (sexuell) zurückhaltend ist, sondern seine Wut, seinen Schmerz und seine Lust lautstark hinausschreit.“ (330)

Hier zeigt Kutzick eine Parallele auf zum zeitgenössischen Text Le Paradis entre les jambes (2013) der Schriftstellerin Nicole Caligaris, die dort den Mord und die kannibalistischen Handlungen des Studenten Issei Sagawa an seiner Studienkollegin Renée Hartevelt verarbeitet. Auch in Le Paradis entre les jambes taucht eine tierische Gestalt auf, „singe cynocéphale“, ein hundsköpfiger Affe, der schreit und tanzt (vgl. 329). Beide Schriftstellerinnen versinnbildlichen den Schmerz in lärmenden, tobenden (fabel)tierhaften Wesen, die in Aufruhr sind, und durchkreuzen damit Weiblichkeitsstereotypien von schöner, stiller Traurigkeit. Vor allem bei Leduc wird dies immer wieder als lustvolle und zugleich schmerzhafte Überschreitung sichtbar (vgl. 330).

In ihrer Verschränkung von gesellschaftspolitischem Schmerz, Genderkritik und der literarisch-experimentellen Verarbeitung von Verletzung und (Frauen-)Körpern reihen sich die Arbeiten von Violette Leduc und Nicole Caligaris in eine Linie mit Autor*innen der historischen Avantgarden ein. Sie nehmen damit Themen wieder auf, die bereits zu Beginn der ästhetischen Moderne in Flauberts Madame Bovary eine Rolle spielen und sich in unterschiedlicher Weise in den Texten avantgardistischer Schriftsteller*innen wie André Breton, Tristan Tzara, Guillaume Apollinaire und Claude Cahun widerspiegeln (vgl. 332f.), wie Franziska Kutzick in ihrer Studie zeigt. Das ist anregend zu lesen – gerade weil Kutzicks Text in seinem Materialreichtum eher einen Ausgangspunkt für weitere Forschung bietet als Einsichten zum Verhältnis zwischen Sprache, Schmerz und Gender.

Teresa Geisler hat Philosophie und Psychologie in München und Berlin studiert und ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Ethik und Technikphilosophie an der Technischen Universität Berlin tätig. Außerdem schreibt sie an ihrer Doktorarbeit „Schmerzlust – ein Versuch zu verstehen“.


[1] In der Phénoménologie de la perception (1945) betrachtet Merleau-Ponty den Leib als „point zéro du monde“ und in Le Visible et l’invisible, suivi de notes de travail (1960) geht er über seinen bisherigen Leibbegriff hinaus und stellt „chair“, also das Fleisch, in den Mittelpunkt seines Denkens.