Ein Workshop im Literaturforum im Brecht-Haus widmete sich der steigenden Popularität des Philosophen.
Ein Bericht von Laura Rivas Gagliardi
Warum ist Walter Benjamins Werk heute so populär? Was sagt er uns über die Konflikte unserer Zeit? Dies waren die leitenden Fragen der Veranstaltung Fetisch Walter Benjamin, die am 15. Oktober 2019 im Literaturforum im Brecht-Haus stattfand. Anlass war der dieses Jahr erschienene Sammelband Material und Begriff. Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins. Zwei der vier Herausgeber, Nicos Tzanakis Papadakis und Frank Voigt, und eine der Beiträger*innen, Lotte List, diskutierten eine Stunde lang mit dem Autor und Politikwissenschaftler Ingar Solty.
Lotte List promoviert an der Copenhagen Business School zu Machtverhältnissen in den Finanzmärkten des 20. und 21 Jahrhunderts. Ihr Beitrag in Material und Begriff verhandelt die Idee der Utopie in Benjamins Schriften. Frank Voigt, der an der Universität Potsdam über die Verhältnisse zwischen Kritik und Geschichte in Benjamins Werken der 1930er Jahre promoviert, verfasste seinen Beitrag zusammen mit Konstantin Baehrens, in dem die beiden den Geschichtsbegriff bei Benjamin und Georg Lukács vergleichen. Nicos Tzanakis Papadakis promoviert an der Freien Universität Berlin über Recht und Ästhetik bei Carl Schmitt und Benjamin. Er setzt sich mit der Darstellung der Souveränität im Benjamins barockem Drama auseinander.
Material und Begriff erschien beim unabhängigen, in linker Theorie und Wissenschaftskritik traditionsreichen ‚Argument Verlag‘. Dieser wurde 1958 im Kontext der Antiatombewegung vom Philosophen Wolfgang Haug und der Soziologin Frigga Haug gegründet und spielte in den 1960er Jahre eine wichtige Rolle während der Studierendenbewegung. Das bekannteste Projekt des Verlags, der sich der Kulturtheorie, linkem Feminismus und der Weiterentwicklung des Marxismus widmet, ist wohl die Herausgabe des (bislang unabgeschlossenen) Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus.
Material und Begriff steht in Einklang mit dem Programm des Verlags: Die Herausgeber und AutorInnen verfolgen darin den Anspruch, eine Tendenz der aktuellen Benjamin-Rezeption infrage zu stellen. Statt Benjamins Schriften von ihren historischen Kontexten zu isolieren, werden im Band Material und Begriff Benjamins zahlreiche Quellen in der Literatur, im Theater, in der Religion und den sozialen Bewegungen parallel zu seiner Begriffsbildung untersucht. Die Aufgabe sei es, einen historisierenden Zugriff vorzunehmen, um den Eindruck von Esoterik und Willkürlichkeit, der in gewissen Studien bewusst oder unbewusst erweckt werde, aufzulösen. Losgelöst aus ihrem historischen Kontext würden Benjamins Werke, so die zentrale These, selbst „fetischisiert“.
Einen Einblick in diesen Zusammenhang gab die Diskussion über die breite Themenspanne und abundanten Ausdrucksformen Benjamins. Die Teilnehmende waren sich darin einig, dass die verschiedenen Wissensformen, die in Benjamins Arbeiten zu finden sind, sich zum einen aus den von ihm behandelten unterschiedlichen Materialien erklären ließen, die der Autor heranziehe, zum anderen aus seinen unterschiedlichen Schreibkontexten. Diese Schreibkontexte sind zum einen mit historischen Ereignissen verbunden – die kommunistische Bewegung, der Aufstieg des Faschismus, die Exilerfahrung –, zum anderen mit dem sich verändernden Adressatenkreis. Benjamins Publikum sei zunächst ein akademisches gewesen, doch habe er auch Texte für Zeitungen und religiöse Zeitschriften sowie für das Institut für Sozialforschung verfasst. Benjamins Schreibart ist also Ergebnis einer Gemengelage unterschiedlicher Faktoren. Wenn sie als bloßes Produkt seines „Genies“ und lediglich von „Charme“ und „Intuition“ geprägt interpretiert wird, gehe das Potenzial seines Werkes verloren.
Eine Wende in der Rezeption Benjamins vollzog sich in den 1960er und 1970er Jahren, als die Werke des Autors vermehrt von der Arbeiterbewegung aufgenommen wurden. Im Anschluss daran verschob sich die Rezeption ab den 1980ern in den dekonstruktivistischen, post-strukturalistischen Bereich, in dem die späteren cultural studies vorgeprägt wurden. Diese Wende wirft zugleich die Frage nach Benjamins intellektuellem Profil auf: Ist Benjamin ein Non-Konformist, ein Nihilist, ein Anhänger von Carl Schmidt oder ein Anti-Kapitalist?
Diese Frage nach Benjamins intellektuellem Profil blieb offen: Es wurde wiederholt diskutiert, dass er ambivalent sei. Aber was bedeutet das genau? Die Behauptung ist problematisch, denn sie verwechselt die Vielseitigkeit von Benjamins Schriften, Schreibarten und Quellen mit seiner politischen Position. Diese Verwechslung sagt vielleicht mehr über diejenigen, denen sie unterläuft, als über Benjamin selbst. Sie verweist auf eine Tendenz, Benjamin zu entpolitisieren. Auf ähnliche Weise blieb der Einfluss des Denkens von Marx auf Benjamins Arbeiten eigentümlich unterbelichtet. Die weltweite Tendenz – insbesondere im deutschsprachigen Raum – Marx’ Vermächtnis zu verdrängen, ist bekannt: Es geht um die Reduktion des Marx’schen Denkens auf das Dogma des Marxismus-Leninismus. Doch viele Abschnitte des Passagen-Werks, in denen etwa der Fetischcharakter der Ware aufgegriffen wird, sind der Marx’schen Theorie verpflichtet. Dagegen wird Benjamins Dialog mit Antonio Gramsci, Rosa Luxemburg und Karl Korsch heute durchaus aktuelle Bedeutung beigemessen.
Auch die Frage nach den Gründen für Benjamins anhaltende Popularität wurde wiederholt aufgeworfen und dann durch eine ausgesprochen rege Diskussion mit dem Publikum näher beleuchtet. Ein Zuhörender, der sich als aus dem kurdischen Irak kommend vorstellte, fasste Benjamins Rezeption aus anderer Perspektive zusammen. Er habe drei hauptsächliche Tendenzen identifiziert: Im englischen Sprachraum sei die Rezeption von Hannah Arendt und ihrer Darstellung Benjamins als Schüler Martin Heideggers geprägt. Im deutschsprachigen Raum sei die Rezeption von Theodor W. Adorno und seinem Engagement, Benjamin zu „demarxisieren“, beeinflusst. Produktiver sei aus seiner Sicht die französischsprachige Rezeption von Daniel Bensaïd und Michel Löwy, die das revolutionäre Potenzial Benjamins nicht unterdrücken. Im Gegenteil. Als Beispiel führte der Zuhörer an, inwiefern Benjamins Kritik an dem bürgerlichen Fortschrittsbegriff heutzutage hilfreich sei, um etwa die Interessen der US-Amerikanischen Invasion im Irak und die darauffolgende Entstehung von religiösem Fundamentalismus zu verstehen. Darüber hinaus – so ließe sich vielleicht noch ergänzen – schließen Bensaïd und Löwy Benjamins Auseinandersetzung mit dem Judentum nicht aus (ein Aspekt, der während des gesamten Abends nicht erwähnt wurde), was womöglich eine komplexere und radikalere Einsicht in Benjamins Schriften ermöglicht.
Eine andere Zuhörerin stellte Benjamins revolutionäres Potenzial in den Vordergrund: Sie rief die Ausstellung von 2017 an der Akademie der Künste über die Freundschaft zwischen Benjamin und Bertolt Brecht – Denken in Extremen – in Erinnerung. Damit thematisierte sie auch den Bezug, der mit dem Brecht-Haus als Veranstaltungsort des Workshops implizit aufgemacht wurde. Benjamins letzter Text Über den Begriff der Geschichte sei aus ihrer Sicht eine Art Testament an uns, mit dessen Hilfe wir uns unseren historischen Aufgaben bewusst werden sollten.
Auf die beiden genannten Anregungen aus dem Publikum reagierte das Podium unterschiedlich, schien aber das revolutionäre Element in Benjamins Lebens- und Geschichtsauffassung eher relativieren zu wollen: Bensaïd und Löwy seien Trotzkisten, und Über den Begriff der Geschichte sei ein komplizierter Text, der auf der Aktion einer bestimmten sozialen Klasse basiere, was heute eher anachronistisch sei. Die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt, als eine Zuhörende fragte, ob der Universitätsdiskurs heute eine ähnliche Haltung wiederherstelle, der Benjamin in der Vergangenheit aus der Akademie ausgeschlossen habe.
Unklar blieb schließlich das Verhältnis Benjamins zum Fetischbegriff. Das lag wohl auch daran, dass der Fetischbegriff, der bei Benjamin zentral ist und den Veranstaltungstitel motiviert hat, überraschenderweise nicht explizit behandelt wurde. Thema war allein die ‚Fetischisierung‘ Benjamins selbst. Die Diskussion folgte der These, dass Benjamin zum „Fetisch“ geworden sei, insofern seine Werke ohne den entsprechenden historischen Kontext gedeutet werden. Damit wird der Fetischbegriff zu einem recht vagen Instrument. Doch das Wort „Fetisch“, das sich begriffsgeschichtlich aus dem portugiesischen feitiço (Zaubermittel) herleitet, bedeutet sowohl im anthropologischen und psychoanalytischen Feld als auch in der marxistischen Denktradition die Verstellung von etwas. Müsste man daraus nicht schließen, dass die Bedingung für das Fetischisieren von Benjamins Schriften in der Verfälschung seiner Gedanken liegt? Das wäre eine offene Frage: Was genau wird bei Benjamin verstellt?
Wenn man einen Schritt weiter gehen möchte, sollten diese Verfälschungen nicht nur durch eine Historisierung von Benjamins Gedanken angegangen werden, läuft man so doch Gefahr, Benjamins Denken auf die Ereignisgeschichte seiner Zeit zu begrenzen. So wird seine kritische Dimension unbewusst (oder bewusst) vermindert. Benjamins Vermächtnis sollte im Streitfeld des ideologischen politischen Kampfes verstanden werden, ein Kampf, der in neuen Formen andauert. Teil dieses Kampfes ist nicht zuletzt auch der Akademiebetrieb: Wissenschaft ist kein neutrales Feld. Historisieren heißt, mit Benjamin zu sprechen, die Gemeinsamkeiten in vergangenen und heutigen Geschichtserfahrungen offenzulegen: Die Geschichte der Besiegten ist eine kollektive Geschichte. Es scheint fast, als sei bei der Veranstaltung „Fetisch Walter Benjamin“ das Publikum diesem historischen Bewusstsein näher und für die Gefahr der gegenwärtigen multiplen Krise empfindlicher gewesen. Benjamins klare politische Stellungnahme in den (Sprach-)Kämpfen macht ihn heute fruchtbar – und populär.
Laura Rivas Gagliardi wurde in Brasilien geboren, studierte französische und portugiesische Literaturwissenschaft an der Universidade de São Paulo, absolvierte den Master Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte dort an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule über Literaturgeschichte und Ideologie im 19. Jahrhundert.
Titelbild (Benjamins Pass) © gemeinfrei