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Unter dem Titel „Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit. Kleine Formen der Intervention“ trafen sich am 6. und 7. Juli 2023 an der TU Dresden Forschende mit dem Ziel, kleine Formen und künstlerische Intervention zusammenzudenken.

Bericht von Henning Podulski

I.

Die kleinen Formen, die im Zuge der Dresdner Tagung untersucht wurden, reichen von Kalendergeschichten und Rätseln über Protokolle, Topoi und Witzen bis zu Kampfliedern.  Kleine Formen zeichnen sich durch Kürze und Knappheit aus, die jedoch auf längere, ausgedehnte Formen verweisen und dabei Verdichtung, Prägnanz, Abbruch, Tentativität und Vorläufigkeit als Verfahren bzw. Signale verwenden.[1] Damit vollziehen sie ein Zusammenspiel von Verdichtung und Erweiterung, dem ein intervenierendes Moment eignet. In diesem Sinne heißt es in der Tagungsankündigung:

Indem sie die äußerlichen Bedingungen ihres Erscheinens in eine produktive Unterbrechung von Routinen transformieren (…) konstituieren kleine Text- und Bildformate ein Spielfeld, auf dem ein Umschlag von Zeitdruck in Zeitvertreib, von knappen Aufmerksamkeits­ressourcen in unerschöpfliche Deutungsoptionen, von Effizienz in Emergenz stattfinden kann.[2]

Diesen Zusammenhang von Verdichtung, Erweiterung und Intervention gilt es im Auge zu behalten. Doch zunächst zu einigen der Vorträgen. In einem einleitenden Vortrag verwies Bernhard Stricker, der Organisator der Tagung, auf Durs Grünbeins Dankesrede für die Verleihung des Premio Internazionale Nord, nachzulesen in der FAZ,[3] in der Grünbein den Begriff ‚Zeitgenossenschaft‘ verhandelt und mit der ‚Geistesgegenwart‘ verbindet. Geistesgegenwart wird von Stricker unter Bezugnahme auf Grünbeins Ausführungen als eine abwartende Haltung und eine Augenblicks-Verdichtung gedeutet. Die Zeitform der Augenblicklichkeit verbindet er auf der einen Seite mit Ideen Walter Benjamins, auf der anderen Seite mit den Makro-Zeiten, die bei Hans Blumenberg eine Rolle spielen: Lebenszeit und Weltzeit. Diese sich vermeintlich unvereinbar gegenüberstehenden Zeitformen – Augenblicklichkeit als das Kleine und die Weltzeit als das große Ganze – verbinden sich nun laut Stricker in den kleinen Formen.

Eine bestimmte „Emanzipation der kleinen Form“ von den großen wurde von Anja Gerigk durch ein anschauliches Beispiel aus Paul Scheerbarts Schaffen herausgestellt. In seinem essayistischen Werk Glasarchitektur rückt Scheerbart die Glasveranda in den Mittelpunkt, die als eine kleine (architektonische) Form der Intervention betrachtet werden könne. Diese gläserne Veranda steht in ihrer Beziehung zum jeweiligen Hauptgebäude exemplarisch für den wechselseitigen Bezug von kleiner und großer Form: Wenn es nach Scheerbarts antizipatorisch-visionärer Prosa geht, soll die Glasarchitektur die ganze Welt übernehmen. So führt die Glasveranda zu einer Infragestellung tradierter Strukturprinzipien, strebt vom Kleinen ins ganz Große und ermöglicht Kritik und Veränderung.

Diese potenzielle Infragestellung des Tradierten durch die kleinen Formen ist es, was auch Paul Fleming in seiner Keynote anhand der Begriffe Witz und Nachdenklichkeit zur Diskussion stellte. Dabei adressierte er nicht die Beziehung zwischen kleiner Form und großer Form, sondern die Wirkung von kleinen Formen auf die Lebenswelt der Rezipierenden. Fleming hielt in seiner Keynote unter Bezugnahme auf Hans Blumenbergs Begriff der ‚Nachdenklichkeit‘ fest, dass der Witz nach Sigmund Freud die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt unterbreche und gewissermaßen als subjektloses Denken fungiere. Der Witz präsentiere einen Gedanken, ohne dass man den Gedanken wahrnehme. Er störe das Selbstverständliche. Hierbei ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte an die Dynamik von Verdichtung und Erweiterung. Der Eigenart der kleinen Formen, Sachverhalte zu reduzieren, ohne dabei zwangsläufig die Komplexität zu verringern, ist die Potenzialität eigen, durch Leerstellen Nachdenklichkeit zu fördern.

Auch wenn Fleming seine Überlegungen zur Verbindung aus Nichtdenken, Nachdenklichkeit und dem Witz als kleine Form explizit zur Diskussion stellte und immer wieder kritisch hinterfragte, erscheint der Ausgangspunkt der Überlegung, den Witz als Intervention in die Selbstverständlichkeit und ausgehend vom Charakter des Nichtdenkens zu lesen, anregend: Die Verdichtung eines weiten Sachverhaltes auf einen Moment, den Witz, und dessen Erzählung in ihrer Kürze, die vom Nichtdenken geprägt ist, verweisen auf das große Ganze und lassen das zuvor als selbstverständlich Angenommene fragwürdig erscheinen.

Die Veränderung der Form, die durch die Verdichtung stattfindet, betonte Rüdiger Zill in seinem Vortrag ‚›Denkbilder‹ oder ›Begriffe in Geschichten‹. Kleine Formen bei Walter Benjamin und Hans Blumenberg‘. Zill verwies auf Blumenbergs Metaphern-Theorie, mit der Metaphern auch als Umwege gelesen werden könnten. Die Überführung eines Sachverhalts aus dem einen Zusammenhang in einen anderen verfremdet den Sachverhalt. Die Metapher suche als Umweg explizit die Dehnung der Zeit, um dieser Zeit Tiefe zu verleihen. Gleichzeitig verweisen Metaphern laut Zill aber auch auf Bedeutungszusammenhänge, die umfassender als die Metapher sind, wonach die Metapher auch als Verdichtung gedeutet werden kann. Sie sei Ausdruck einer spezifischen Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit, wobei diese Nachdenklichkeit sich gegen die Erwartung von Resultaten wehre.

In meiner Lesart geht es dabei um den Widerstand gegen einen zielgerichteten chronologischen Ablauf bzw. Telos. Daneben stellte Zill die randständige Wahrnehmung des Flanierenden bei Benjamin. Zill betonte die Verschwisterung von Gehen und Sehen anhand von Ausführungen zu Benjamins Denkbildern, die er als Vorübung zum Passagen-Werk las und die oft fragmentarische Städtebilder darstellen: Synthesen kleinerer Eindrücke, die sich beim Durchwandern der Stadt als Flaneur ergeben. Der detaillierte Blick des Flanierenden für das Randständige und Kleine verbinde sich mit der Synthese dieser Eindrücke in den Texten. So stehen schlussendlich die kleinen Eindrücke für das Ganze, das wiederum auf die Einzelteile verweist – ein typisches Muster von kleinen Formen. Sowohl die Flanierenden selbst als auch die kleinen Formen suchen im Kleinen etwas Größeres und gewinnen ihr Potenzial in der Unterbrechung des Selbstverständlichen und Alltäglichen.

II.

An die ausgewählten Vorträge könnte man nun mit folgender Überlegung anknüpfen: Die Geistesgegenwart, die das Ganze zu einem ‚nachdenklichen‘ Moment verdichtet, ist maßgeblich durch eine Dialektik von Verdichtung und Ausdehnung bestimmt. Diese Dialektik möchte ich abschließend ein Stück weit verfolgen.

Die Begriffe ‚Geistesgegenwart‘ und ‚Nachdenklichkeit‘ haben die Aura einer Entschleunigung, die bis zum Stillstand reicht. Auf die Bedeutung des Stillstands für das Denken verweist Walter Benjamin z.B. in der XVII. These in Über den Begriff der Geschichte:

Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“[4]

Jeanne Marie Gagnebin betont die Unterbrechung des Zeitflusses in Benjamins Ausführungen und zieht daraus zwei Schlussfolgerungen:

Methodologisch betrachtet, muß die Gegenwart der Erkennbarkeit festgehalten, der kairos erfaßt und also der Augenblick stillgestellt werden; politisch betrachtet, muß der Geschichtslauf unterbrochen, die bequeme Identifizierung verhindert und ein Chock im Erzählfluß hervorgerufen werden […].[5]

Eine „Stillstellung“ der Gedanken in der Gegenwart unterbricht den Zeitlauf der Geschichte. Hier liegt der Anknüpfungspunkt an Nachdenklichkeit und Geistesgegenwart, die jemanden im Moment verweilen lassen. Dadurch werden sie lesbar als eine Form der Intervention in den „Geschichtsverlauf“ und als Störung der „bequeme[n] Identifizierung“. Während in vielen anderen Konzeptionen von Gegenwart der Moment der Gegenwart, das Jetzt bzw. nach Benjamin die Jetztzeit,[6] durch eine Position zwischen Vergangenheit und Zukunft vor allem als vergänglich gekennzeichnet ist,[7] ist es bei Benjamin genau anders und die Gegenwart gewinnt an Dauer – im Stillstand dehnt sich die Zeit, und die Gegenwart erscheint als ausgedehnter Möglichkeitsraum.[8]

Gleichzeitig wird die Gegenwart hier Intervention in den „Geschichtsverlauf“. Nicht nur, dass die Gegenwart den ungestörten und zielgerichteten Fortlauf hindert, sie schaut sogar zurück, wenn man den Ausführungen Benjamins über den Engel der Geschichte folgt.[9] Bei gleichzeitiger Ausdehnung des Momentes in der Gegenwart, die durch Wechsel von chronos-orientierten zur kairos-orientierten Zeitauffassung und der Verneinung eines Telos vollzogen wird, dehnt sich der Moment auch aufgrund dieser (von Benjamin anhand von Klees Engel gedachten) Beziehung zur Vergangenheit aus. Denn diese blitzt in der Gegenwart auf[10] und „das weit Zurückliegende wird Moment der Gegenwart.“[11]

Hierin sehe ich nicht nur die bereits erwähnte Ausdehnung, sondern gleichzeitig eine Verdichtung. Die Intervention in den chronologischen Ablauf der Zeit schafft Handlungsraum und -zeit in der Gegenwart, ermöglicht somit überhaupt erst Nachdenklichkeit und stellt eine Form von Geistesgegenwart dar. Gleichzeitig verbindet sich der sonst so vergängliche Augenblick, der immer in der Gegenwart verhaftet ist, mit den unzähligen vergangenen Augenblicken von vergangenen Gegenwarten, die wir Geschichte nennen.

Im Stillstehen liegt eine Unterbrechung, die Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit ermöglicht – also Möglichkeits-, Denk- und Handlungsspielraum schafft. Intervention bedeutet dann, Geistesgegenwart, Nachdenklichkeit und Handlungsspielraum zu schaffen, ohne den nächsten Schritt zu gehen und zielgerichtet einen neuen Ablauf, eine neue Ordnung zu etablieren – ein Prozess, den kleine Formen durch ihr Spiel mit der Komplexität und der Eröffnung von Leerstellen ebenfalls in Gang setzen können. Hierin liegt dann auch der Unterschied zwischen der Intervention im Allgemeinen, die man jeder Form von Kunst nachsagen könnte, und der speziellen Intervention, die durch das Zusammenspiel von Verdichtung und Erweiterung entsteht.

Verdichtung als formgebendes, künstlerisches Prinzip kann also in Bezug auf die kleinen Formen als ein Verfahren verstanden werden, dass über den allgemeinen Interventionscharakter der Kunst, verstanden als Unterbrechung des Alltags, hinaus geht. Die Komplexitätserweiterung durch vermeintliche Reduktion kann Leerstellen und Räume der Kritik, Möglichkeiten des Ausweichens und Abweichens von Normen ermöglichen und Momente, in denen das Tradierte hinterfragt werden kann. Die ausgewählten Beispiele haben gezeigt, dass kleine Formen dabei nicht nur auf den lebensphilosophischen Bereich und die Wahrnehmung des lebensweltlichen Alltags wirken, sondern auch auf ihre große ‚Ausgangsform‘ zurückwirken und womöglich dominante Prinzipien in Frage stellen können – ein ‚Chock‘, der über die ästhetische Erfahrung des einzelnen Subjekts in Beziehung zum erlebten Kunstwerk hinaus Wirkung entfalten kann.

Henning Podulski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 1512 ‚Intervenierende Künste‘ und promoviert an der Freien Universität Berlin zu Formen intervenierenden Schreibens innerhalb der Literatur der Arbeitswelt unter speziellem Fokus auf die Dortmunder Gruppe 61 und den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.


[1] Vgl. Gamper, Michel u. Mayer, Ruth: Erzählen, Wissen und kleine Formen. Eine Einleitung. In: Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: Transcript 2017, S. 7-22, hier S. 12.

[2] https://tu-dresden.de/gsw/slk/germanistik/mwndl/die-professur/news/6-7-juli-2023-tagung-geistesgegenwart-und-nachdenklichkeit-kleine-formen-der-intervention (17.10.2023).

[3] Grünbein, Durs: Geistesgegenwart. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/durs-gruenbein-ueber-sein-ideal-der-geistesgegenwart-18856129.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2023).

[4] Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 1.2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 691-704, hier S. 702.

[5] Gagnebin, Jeanne Marie: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Hrsg. v. Burkhardt Lindner. Stuttgart: Metzler 2011. S. 284-300, hier S. 293.›

[6] Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, hier S. 703 sowie Alex Demirovic: Der Tigersprung.: Überlegungen zur Verteidigung der „Gegenwart“, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 183 (2016). S. 307-316, hier S. 312.

[7] Vgl. Demirovic: Der Tigersprung, hier S. 310.

[8] Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, hier S. 704. Siehe dazu auch weiterführend Demirovic: Der Tigersprung, S. 312. 

[9] Vgl. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte S. Engel der Geschichte, hier S. 697f.

[10] Vgl. Mosès, Stéphan: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1992, S. 146.

[11] Demirovic: Der Tigersprung, hier S. 312.

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