Was sind linke Narrative – und was leisten sie für linke Politik? Darüber diskutierten die Teilnehmer*innen des Workshops „Die Fäden neu verknüpfen. Linke Narrative für das 21. Jahrhundert“, der vergangene Woche virtuell am Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin stattfand. Viele Fäden wurden aufgenommen, einige Fragen blieben ungestellt.

Bericht von Nora Weinelt und Till Breyer

Dass gesellschaftliche Konflikte nicht allein durch politische und wirtschaftliche Faktoren entschieden werden, wurde seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder postuliert. Es komme, so etwa der Marxist Antonio Gramsci, vor allem darauf an, eine kulturelle Hegemonie zu etablieren. Gemeint war damit die Präsenz der eigenen – zum Beispiel: proletarischen – Deutungsangebote und Zielsetzungen im öffentlichen Diskurs. Wichtig ist, auf der Tagesordnung zu stehen. 

Dieses strategische Wissen wirft nicht nur politische, sondern auch literaturwissenschaftliche Fragen auf: Von dieser Prämisse ging der Workshop „Die Fäden neu verknüpfen. Linke Narrative für das 21. Jahrhundert“ aus, der als Kooperation der Zeitschrift Undercurrents mit dem Literaturforum im Brecht-Haus (Leitung: Christian Hippe) organisiert wurde. Linke Erzählungen, so eine Grundintuition der Veranstaltung, haben nicht nur ihre eigene (Literatur-)Geschichte, sondern auch ein politisches Potenzial, das sich kaum durch andere Formen öffentlicher Rede ersetzen lässt. In acht im Vorfeld zirkulierten Beiträgen gingen die Referent*innen den zentralen Fragen des Workshops nach: Wie wurden in der Literatur der letzten beiden Jahrzehnte spezifisch linke Perspektiven entwickelt? Welche marginalisierten Stimmen und utopischen Potenziale lassen sich dabei ausmachen? Und welche Erzähleinsätze oder ‚Narrative‘ könnten geeignet sein, die zersplitterte ‚Mosaik-Linke‘ der Gegenwart ein Stück weit zusammenzuführen? 

Teilnehmende des Workshops (Ausschnitt) © Till Breyer

Dass die inhaltliche Offenheit solcher Fragestellungen von den Veranstalter*innen dabei durchaus gewollt war, ließ bereits der Titel des Workshops – „Die Fäden neu verknüpfen“ – erahnen. Und tatsächlich bestand die größte Stärke der Veranstaltung gerade in ihrer Vielseitigkeit: Aus den teilweise sehr unterschiedlichen diskursiven Fäden, im Programm lose um die Schlagworte Zukunft, Klasse, Emanzipation und postmigrantischer Antifaschismus gruppiert, formte sich im Laufe des Workshops ein instruktives Panorama linker Debatten und Kritikansätze der Gegenwart. Vor allem profitierte die Veranstaltung von den originellen Untersuchungsgegenständen, etwa der Lyrik des britischen Dichters Sean Bonney oder Mirna Funks Roman Winternähe, die sich für die Frage nach linken Erzählungen des 21. Jahrhunderts als überaus anschlussfähig erwiesen. Die Offenheit des Workshops brachte aber auch eine gewisse Verschleifung des titelgebenden Begriffs ‚Narrativ‘ mit sich: Mit „linken Narrativen“ waren in den Beiträgen und ihrer Diskussion zumeist gerade nicht etablierte Vorstellungen gemeint, die Geschichtsbilder implizit strukturieren und die dementsprechend (ideologie-)kritisch herauszuarbeiten wären, sondern schlicht literarische (Erzähl-)Texte – weniger Narrative als Narrationen –, die eine inhaltliche Nähe zu linken Positionen aufweisen.

Wie wichtig ein schärferer, historisch-kritischer Narrativ-Begriff für die Veranstaltung gewesen wäre, zeigte sich etwa an der Diskussion über das neoliberale TINA-Prinzip, die den Workshop wie ein roter Faden durchzog. Der auf Margaret Thatcher zurückgehende Slogan There is no alternative, der eine zulasten der staatlichen Sozialsysteme auf Wettbewerb ausgerichtete Politik legitimieren sollte, wird spätestens seit der Finanzkrise 2008 im Rahmen linker Debatten regelmäßig aufgerufen: Denker wie Frederic Jameson oder Mark Fisher gründeten ihre Theorien auf der Annahme, eine alternative Gesellschaftsordnung lasse sich für einen Großteil der Menschen heute kaum noch denken. Dass dieser zeitdiagnostische Befund zu einem selbstverständlichen Konsens und zum Ausgangspunkt linker Problembeschreibungen geworden ist, macht ihn aber selbst zu einem dezidiert linken Narrativ. Es hätte sich gelohnt, die Frage danach, welche Narrationen sich zu einem integralen Narrativ verweben lassen, durch die Frage zu ergänzen, welche Narrative linken Diskursen implizit bereits zugrunde liegen.

Die prägnantesten Einsichten fanden sich erwartungsgemäß dort, wo die Referent*innen – durchweg Literaturwissenschaftler*innen – den Blick nicht auf das Was, sondern auf das Wie linker Narrative (oder Narrationen) richteten. Sebastian Schuller (München) etwa ging am Beispiel des 2019 gegründeten sozialistischen Magazins Locust Review der Frage nach, wie eine künstlerische und literarische Formsprache aussehen könnte, die mit der Ästhetik des ‚kapitalistischen Realismus‘ (Mark Fisher) bricht. Ausgehend von der durch Luc Boltanski und Ève Chiapello geprägten – und ihrerseits wiederum das TINA-Prinzip aktualisierenden – Annahme, dass der Kapitalismus in der Lage sei, sich jegliche Form der Kritik an ihm zunutze zu machen, verfolgen die Herausgeber*innen von Locust Review ein dezidiert ‚irrealistisches‘ Programm: Die Texte und Illustrationen im Comic-Design, die in Locust Review erscheinen, spielen, so Schuller, mit Werbe- und Warenästhetiken, verfremden sie aber zugleich und wenden sie in der ironischen Distanzierung letztlich gegen sich selbst. Inwiefern ein solcher Versuch einer akzelerationistischen Ästhetik allerdings tatsächlich „disruptiv“ wirken kann, wie Schuller behauptete, und worin er sich von klassisch-avantgardistischen Verfahren abhebt, blieb letztlich offen.

Werbebild von Locust Review © Locust Review

Vielversprechender erschien der Ansatz, den Sebastian Schweer (Berlin) vorstellte. Mit Gegen die Zeit von Sascha Reh und Deutsche demokratische Rechnung von Dietmar Dath, beide 2015 erschienen, widmete er sich zwei Romanen, die in linke Debatten der Gegenwart intervenieren, indem sie die Geschichte des Realsozialismus anders erzählen. Beide Texte spielen in der historischen Rückschau – situiert in Chile unter Allende (Reh) bzw. in der DDR (Dath) – durch, welche emanzipatorischen Potenziale Technologien der Automatisierung für die politische Linke möglicherweise hätten entfalten können. Mit der kybernetischen Vernetzung der Wirtschaft in Chile und dem Aufbau einer computerbasierten Organisationsstruktur in der DDR denken sie seinerzeit in Angriff genommene Projekte, die historisch gescheitert sind, zu Ende. Auch wenn der mit einem erfolgreichen Automatisierungsschub verbundene Machtgewinn zumindest für den DDR-Staatsapparat ohnehin nicht wünschenswert gewesen wäre, tragen beide Romane dazu bei, die Technikskepsis der Linken ihrerseits als historisch gewachsenen Glaubenssatz auszustellen: Wären die beschriebenen Projekte geglückt, hätte Automatisierung zu einem zentralen Bestandteil linker Geschichtserzählungen werden können. Als „TINA-Turner“, wie Schweer sie nannte, arbeiten Gegen die Zeit und Deutsche demokratische Rechnung zudem die technologische Bedingtheit und Kontingenz dessen heraus, was heute vielleicht als einzig denkbarer Stand der Dinge erscheint.

Rechenzentrum der Hochschule für Ökonomie in Ost-Berlin, 1962 © wikimedia

Dass solche Interventionen oder Impulse immer als Zusammenspiel von Erzählung und Rezeption zu denken sind, zeigte eindringlich der Beitrag von Mareike Gronich (Bielefeld) über Q, einen 1999 unter dem Pseudonym Luther Blisset veröffentlichten Roman des italienischen Autorenkollektivs Wu Ming. Q war von Beginn an als politisches Projekt angelegt: Die Aktivisten wollten einen neuen Mythos erschaffen, der für die linken Bewegungen der 2000er Jahre identitäts- und gemeinschaftsstiftend sein sollte. Tatsächlich wurde das Buch, ein im 16. Jahrhundert spielender historischer Roman über den Kampf zwischen einem namenlosen Revolutionär und seinem Widersacher Q, in linken Kreisen zu einem großen Erfolg. Allerdings nicht nur dort: Die Gruppe Wu Ming geht rückblickend davon aus, dass ihr Roman auch den Gründer der rechten QAnon-Bewegung beeinflusst hat. Denn dessen besonders bei der US-amerikanischen Alt-Right beliebte Verschwörungstheorien weisen nicht nur inhaltliche Parallelen zum Q-Roman auf, sondern basieren auch auf einem analogen mythopoetischen Verfahren: Hier wie dort kommt der Prozessualität des myth making große Bedeutung zu – erst durch das Wieder-, Weiter- und Neuerzählen entfaltet die Geschichte ihre Kraft, erst durch eine kollektive Arbeit am Mythos wird sie politisch wirksam. Im Gegensatz zu QAnon allerdings zielt Wu Ming, wie Gronich erläuterte, der Intention nach auf eine kritische, nicht bloß affirmative Rezeptionshaltung als integralen Bestandteil der eigenen Intervention – was im Falle von Q, wie die Gruppe selbst eingesteht, nicht gelungen ist. Gronich zeigte, welche narrativen Elemente des Romans dafür verantwortlich sind und ihn letztlich auch an rechte Fantasien anschlussfähig machen. Neben inhaltlichen Aspekten wie einer typenhaften Figurengestaltung oder dem Einsatz simpler mythischer Erzählschemata (Feindschaft, Kampf, Heldentum) begünstige vor allem die quasi-auktoriale Erzählhaltung eine unkritische Lektüre: Als autodiegetischer Erzähler nehme der namenlose Protagonist den Leser*innen die Möglichkeit, eine eigene, reflektierte Position zu entwickeln.

Offizielles Porträt von „Wu Ming”, © wikimedia

Damit führte Mareike Gronichs Beitrag auch zum Kern der Frage danach, was „linkes“ Erzählen eigentlich bedeuten könnte. In jedem Fall muss die Antwort wohl darüber hinausgehen, bestimmte inhaltliche Perspektiven oder – vielleicht utopische – Imaginationen als Kriterien auszumachen. Es geht vielmehr darum, wie ein Zusammenhang erzählt, konstruiert und befragt wird: Eröffnet er Räume des Zögerns und der kritischen Reflexion – oder präsentiert er eine glatte Oberfläche? Eine Empfehlung wie die von Gramsci, dass linke Anliegen „popular“ werden müssten (eine Sentenz, an die des Öfteren erinnert wurde), erscheint hier eher unterkomplex. Wichtig und fruchtbar erscheint hingegen der methodische Impuls, kulturell wirksame Narrative stärker zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse zu machen – Narrative verstanden als implizite Erzählstrukturen, die ganz unterschiedliche Diskurse, darunter auch die Literatur, informieren. Bei der abschließenden Podiumsdiskussion unter dem Titel „Erzählen als politische Praxis“ wies die Autorin Bini Adamczak darauf hin, dass die Praktiken unserer gegenwärtigen Wirtschaftsform – Waren, Konsum, Geldbeziehungen – fortwährend ihre eigenen, stummen Geschichten erzählen: Geschichten von Autonomie, Individualität und freier Wahl. Vielleicht bestünde darin eine kommende Herausforderung für die Literaturwissenschaft: neben der Praxis des Erzählens auch jene Geschichten zu analysieren, die unsere Praktiken selbst schreiben.

Nora Weinelt und Till Breyer leiten die Redaktion von Literaturwissenschaft in Berlin.

Titelbild: Installation von Ria Verhaeghe bei der Ausstellung “Alma Matrix” in Barcelona (2010) © wikimedia