In den letzten Wochen sorgte ein kurzer Zeichentrickclip des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in den Sozialen Netzwerken für Ärger und Entrüstung. Das Video sollte einem breiteren Publikum das berüchtigte Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) erklären und dessen (angebliche) Alternativlosigkeit betonen.
Weil eine der Filmfiguren „Hanna“ heißt, beschreiben seitdem tausende Akademiker*innen unter dem Hashtag #IchBinHanna die prekären Arbeitsverhältnisse an deutschen Universitäten. Wir haben mit Bernhard Huss, Professor für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin, über hochschulpolitische Versäumnisse, mögliche Auswege und die Notwendigkeit einer Verstetigung des Diskurses gesprochen – zu der auch Professor*innen mehr beitragen können und müssen.
Interview von Nora Weinelt
Sie haben auf Twitter, wo die aktuelle Debatte um prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft ihren Ausgang nahm, in den letzten Wochen immer wieder Ihre Unterstützung für #IchBinHanna signalisiert. Gab es in der Debatte um das mittlerweile gelöschte Video des BMBF, das der aktuellen Protestbewegung nicht nur ihren Namen gab, sondern auch eine Aussprache im Bundestag sowie einige mitunter sehr befremdliche Reaktionen seitens des Bundesministeriums nach sich zog, einen Punkt, an dem Ihnen persönlich der Kragen geplatzt ist?
Mir platzt der Kragen ganz prinzipiell eigentlich nie, weil ich in jahrelanger Arbeit an Francesco Petrarcas Texten gelernt habe, wie nützlich eine stoische Einstellung zum Leben ist. Aber auch der Stoiker kann sich irritiert fühlen, wenn er den Weg zur Perfektion des Weisen noch nicht ganz geschafft hat. Meine Irritation ist durchaus vorhanden, aber nicht schlagartig eingetreten, sondern hat sich über viele Jahre hinweg aufgebaut. Leider haben Äußerungen von Seiten der Politik nicht dazu beigetragen, Irritationen abzubauen, sondern sie eher verstärkt.
Dabei war das BMBF-Video mit seiner unsäglichen Rhetorik natürlich eine Art von Initialzündung, die die Sozialen Medien ermöglicht haben. Deren Rolle in diesem Kontext sehe ich positiv, denn Twitter ermöglicht die Vernetzung und die kollektive Diskussion über Missstände, die sonst allzu oft hinter den Türen etlicher universitärer Büros und an vielen Schreibtischen persönlich durchlitten worden sind, ohne ein öffentliches Echo finden zu können.
Sie selbst sind nicht Hanna, sondern – als Professor für Romanische Philologie und Direktor des Italienzentrums an der FU Berlin – Hannas Chef. Hat die Wut, der Wissenschaftler*innen aus dem Mittelbau in den letzten Wochen Ausdruck verliehen haben, Sie zum Nach- oder Umdenken gebracht? Sind Ihnen durch die Debatte Zusammenhänge oder Sachverhalte bewusst geworden, die Ihnen zuvor vielleicht weniger präsent waren?
Bewusster als zuvor ist mir die Möglichkeit und Notwendigkeit geworden, jetzt öffentlich wahrnehmbare Äußerungen zu tun. Ich habe die Situation an den Universitäten seit langen Jahren aus diversen Positionen miterlebt und immer als schwierig empfunden. Nach meiner Promotion habe ich – an sich schon fast ein faktisches Skandalon in unserer Universitätslandschaft – einen späten Fachwechsel vom Promotionsfach auf mein früheres ‚Drittfach‘ vollzogen, war dann kurze Zeit Wissenschaftlicher Assistent (also in prekärer Situation, gerade wegen des durch den Fachwechsel stark erhöhten Qualifikationsdrucks), bevor ich aufgrund einer krankheitsbedingten Stellenvakanz auf eine Ratsstelle gewechselt bin. Diese Ratsstelle war zunächst auf Probezeit vergeben (die Probezeit war keine Formalie) und wurde dann nach positiver Evaluation entfristet.
Auf dieser Stelle habe ich als unbefristeter Mittelbauler knapp 10 Jahre mein damaliges Institut nahezu ‚im Alleingang‘ verwaltet, mit allem, was daran hing, von der Beratung hunderter Studierender bis hin zur administrativen Ebene der ‚Personalpolitik‘, zur Erstellung des kommentierten Vorlesungsverzeichnisses, zur Lösung von Raumfragen usw. usf. Auf dieser Stelle (die mein damaliger Chef mir übrigens gegen den Rat eines Kollegen gegeben hat, der meinte, ich würde mich auf dieser Stelle dann nicht habilitieren; ich habe es doch getan) habe ich gelernt: Ein solcher Arbeitseinsatz ist quantitativ viel umfangreicher als tarifliches Denken es ansetzt, aber: unbefristete Mittelbauler*innen sind vor Ort die kompetentesten Administrator*innen, für die Studierenden die informiertesten Ansprechpartner*innen und überhaupt in gewissem Sinn der Motor des Funktionierens von Instituten. Die weitgehende Abschaffung dieser Stellen ist ein schwerer hochschulpolitischer Fehler.
Etwa zwei Jahre nach der Habilitation habe ich meinen ersten Ruf erhalten und mache nun schon seit langem Erfahrungen als „Hannas Chef“. Dabei habe ich schon mehrere Mitarbeiter*innen verloren, die absolut hervorragend qualifiziert waren, glänzende Promotionen hingelegt haben und trotzdem angesichts der postdoktoralen Situation an den Universitäten das Handtuch geworfen haben: in die Schule, ins Drittmittelmanagement, ins Ausland abgewandert sind. Wer will, kann das einen prima Qualifikationsweg finden. Ich persönlich sehe es als einen schweren und unnötigen Verlust für die deutsche Wissenschaft und Universität.
Es gibt im Wesentlichen drei Argumente, die Bundesministerin Anja Karliczek, aber auch hochrangige Mitglieder der Hochschulrektorenkonferenz zur Verteidigung des WissZeitVG immer wieder vorbringen: erstens das Argument, es bestünde die Gefahr einer „Verstopfung“ des Systems durch zu viele Dauerstellen, durch die nachfolgenden Generationen die Chance genommen werden könnte, jemals in der Wissenschaft zu arbeiten; zweitens – und damit eng verbunden – das Argument, es handle sich bei den betroffenen Wissenschaftler*innen um Menschen in der Qualifikationsphase, die auch in anderen Berufen nicht mit einer sofortigen Entfristung rechnen könnten; und drittens das Argument, „ein gewisser Grad an Flexibilität“ (so das BMBF in einer weiteren Äußerung, die für Empörung sorgte) stelle die Grundlage jeglicher Innovation, jeglicher Spitzenforschung dar. Was halten Sie von diesen Argumenten? Welchen würden Sie zustimmen?
Ich halte das für einen politisch motivierten Unsinn. Das System wird derzeit, wenn wir auf das Personaltableau blicken, ‚unten verstopft‘, weil wir zu viel Geld in den Drittmittelturbo stecken statt in eine ordentliche Grundausstattung der Universitäten. Das erzeugt an den Universitäten einen Druck, mit dem die Hochschulleitungen nur schwer umgehen können: Er resultiert in einer immer weiter fortschreitenden Ökonomisierung der Universitäten, wo der häufig über Zielvereinbarungen formalisierte Zwang zur Drittmitteleinwerbung der Universität eine Zusatzfinanzierung sichert, ohne die sie nicht überleben kann (die Verantwortung liegt bei der Politik).
Der Drittmittelturbo provoziert die Erstellung einer zu hohen Anzahl an projektgebundenen Dissertationen, deren Zustandekommen das System aus eigensüchtigen Gründen (und nicht primär zur Förderung junger Wissenschaftler*innen) stimuliert. Den häufig sehr gut ausgebildeten Promovierten können wir nicht ausreichend Perspektiven bieten, weil die Pyramide der deutschen Stellenstruktur an den Universitäten nicht nur an ihrer Spitze viel zu eng wird (zu wenige, immer weiter reduzierte, über die Hebel der Besoldungsreform sparsam finanzierte Professuren), sondern weil sich zwischen dem PreDoc-Sockel der Pyramide und ihrer professoralen Spitze ein PostDoc-Bereich befindet, der zu großen Teilen mit Luft und nicht mit planbarer Struktur gefüllt ist. Diese unselige ‚ägyptische Pyramide‘ muss zu einer ‚aztekischen Pyramide‘ umgebaut werden, die weniger spitz und sowohl auf ihrem oberen Tableau als auch in der Mitte breiter ausgebaut ist.
Die Rede von PostDocs als ‚zu qualifizierender Nachwuchs‘ sollte schleunigst hinter uns gelassen werden. In der Diskussion um #IchBinHanna ist immer wieder mit Recht darauf verwiesen worden, dass der Grad an befristeten Beschäftigungsverhältnissen im PostDoc-Bereich der deutschen Universitäten mit anderen Bereichen des Arbeitslebens nicht vergleichbar ist; er ist viel zu hoch. Wenn wir hervorragend Qualifizierten um die 40 jede Planbarkeit ihrer beruflichen Existenz nehmen, können wir von „Flexibilität“ nur in zynischem Modus reden. Innovative Spitzenforschung leidet unter den Zuständen in Deutschland, weil wir viel zu viele Leute ins Ausland verlieren.
Ein Vorschlag zur Verbesserung der Situation an den Universitäten, den Initiativen wie das Netzwerk Gute Arbeit in der Wissenschaft immer wieder in den Raum gestellt haben, betrifft die Abschaffung der deutschen Lehrstuhlstruktur zugunsten einer Departmentstruktur, wie man sie etwa in den USA findet. Damit einher ginge dann, ebenfalls nach dem Vorbild der USA, auch die Einrichtung von mehr Tenure-Track-Positionen. Unterstützen Sie diese Idee?
Ich glaube nicht, dass wir bei jeder Gelegenheit nach Amerika schauen müssen; amerikanische Verhältnisse haben wir schon in vielen Fällen auf eine recht unselige Weise zu kopieren versucht. Die deutsche Universitätstradition hatte immer genügend eigene Stärken, die wir aber in den letzten gut 20 bis 30 Jahren großenteils planiert haben. Ich würde weder die Lehrstühle noch die Habilitation abschaffen. Das Problem ist nicht, dass es Ordinarien gibt. Das Problem oder ein wichtiger Teil des Problems ist, dass sich die Ordinarien (häufig recht widerstandslos) von der oben beschriebenen, hochschulpolitisch bedingten Entwicklung zu viele Kompetenzen und Möglichkeiten haben abringen lassen (müssen?) und sich großenteils als Serviceleister*innen der universitären Ökonomisierung gerieren.
Wir brauchen mehr Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort in den Instituten – und wir brauchen weniger politisches und administratives Misstrauen den hervorragend arbeitenden professoralen Kolleg*innen gegenüber. Die Professor*innen müssen guten jungen Leuten für ihr Engagement mittel- und langfristig etwas anbieten können, Wege eröffnen können. Wir brauchen eine gewisse quantitative Verschlankung im Bereich der Promotionen und einen Aufbau im Bereich der langfristigen Beschäftigungsoptionen, die dem promovierten Mittelbau offenstehen. Konkret: Für die Promotion ist eine vernünftige Befristung meines Erachtens in Ordnung. Für den Bereich der regulären PreDoc-Stellen gilt: Während der (zu mindestens 65% Wochenarbeitszeit zu finanzierenden) Promotion sollen administrative Aufgaben nur in vertretbarem Umfang vergeben werden; wo mehr anfällt, muss man die PreDocs anständig bezahlen (bis zu 100%). Nach der Promotion müssen die sehr guten Leute – wir reden hier nicht von allen, sondern von „summa“- und vielleicht „magna“-Arbeiten – eine vernünftige Perspektive bekommen: unbefristete Mittelbaustellen, PostDoc-Positionen in Lehre und Forschung mit Tenure-Track-Option. (Die Juniorprofessor bietet all das in höchstens sehr wenigen Fällen; sie scheint mir sehr oft eine ausbeuterische Mogelpackung zu sein.)
Abseits von größeren Umstrukturierungen, für die politische Entscheidungen nötig wären: Gibt es Dinge, die Sie und andere Professor*innen schon jetzt zur Unterstützung des sogenannten „wissenschaftlichen Nachwuchses“ tun könnten?
Die Professor*innen müssen viel mehr über die Missstände debattieren; sie müssen auch wieder mehr Selbstbewusstsein und Bewusstheit ihrer eigenen Autonomie entwickeln. Eine kritische Reflexion unserer eigenen Rolle bei der Genese der beschriebenen Missstände scheint mir dringlich geboten. Und wir müssen unsere Mitarbeiter*innen schon im Bereich der Promotion beständig über die Situation aufklären und mit ihnen diskutieren. Wenn die Rückmeldungen aus dem Mittelbau, die auf Twitter und sonstwo zu lesen sind, halbwegs zutreffen, dann haben wir an vielen Stellen in der deutschen Universität ein fürchterliches Kommunikationsdefizit zwischen den hier in Rede stehenden Statusgruppen. Professor*innen sollten sich in den Diskurs kritisch einbringen und auch ihre Fachverbände ansprechen und um öffentliche Stellungnahme bitten.
Der Frust vieler Wissenschaftler*innen über ihre Arbeitsbedingungen, der sich unter #IchBinHanna momentan Bahn bricht, ist nicht unbedingt neu. Eine Abschaffung des WissZeitVG wird im Grunde seit seiner Einführung im Jahr 2007 gefordert; seither branden in den (Sozialen) Medien in regelmäßigen Abständen Diskussionen auf, die bis dato jedoch kaum politische Wirkung zeitigen konnten. Glauben Sie, dass es sich mit #IchBinHanna dieses Mal anders verhalten könnte? Und wenn ja: unter welchen Bedingungen?
Der Diskurs muss verstetigt werden, indem die Fachverbände und die Interessenvertretungen sich vernetzen, was in diesen Tagen ganz offensichtlich stattfindet, und nicht nachlassen. Es ist ein fast unvermeidlicher Mechanismus, dass beim Betreten der politischen Arena ein solches Anliegen ins Sperrfeuer parteipolitischer Auseinandersetzungen gerät; im Bundestag hat man das gesehen. Ziel muss aber sein, ein breites Bewusstsein von der Notlage zu schaffen und die Missstände nicht nur von einzelnen politischen Parteien oder den Gewerkschaften debattieren zu lassen. Nur durch die Unterstützung der Anliegen von #IchBinHanna durch die ‚Etablierten vor Ort‘ kann sich etwas bewegen. Diese Etablierten müssen aber wissen, dass sie mit dieser Unterstützung letztlich ihre ureigenen Interessen befördern, nämlich die Stärke der deutschen Wissenschaft durch Stärkung aller Beteiligten und durch die Abschaffung der Benachteiligung großer Gruppen zu fördern.
Bernhard Huss ist seit 2012 Professor für Romanische Philologie an der FU Berlin; sein Schwerpunkt liegt im Bereich der italienischen Literatur. Zugleich ist er Direktor des Italienzentrums der FU. Zuletzt erschienen: Band 1 der ersten lat.-dt. kommentierten Gesamtausgabe von Francesco Petrarcas „Heilmitteln gegen Glück und Unglück“ (Hiersemann Verlag).