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Der CV zählt zu den erfolgreichsten Textformen der Gegenwart und spielt auch im Universitätsbetrieb eine zentrale Rolle. Seine Bildlichkeit verweist aber auf eine problematische Eigenlogik. Ein kurzer Gang durch die Metapherngeschichte des Curriculum Vitae

von Carsten Flaig

Wir wissen alle, was ein CV ist, wie er aussieht, und auch wie er bedarfs- und publikumsgerecht angepasst werden kann: Was muss raus, was muss noch rein, welche Erfahrung sollte noch dringend gemacht werden (in der akademischen Welt zum Beispiel: Ausland? Preise? Publikationen?). Der CV, sei es der tabellarische oder der ausformulierte, entwickelt eine Storyline, die plausibel und prägnant zu sein hat. Gleichzeitig sollte der CV aber auch nicht suggerieren, man hätte nur für diesen gelebt: Allzu ‚glatt‘ sollte er dann doch nicht sein.

Die Metaphorik des Lebenslaufs kommt fußläufig und unauffällig daher. Aber es lohnt sich, den Bedeutungsdimensionen des lateinischen Ausdrucks Curriculum vitae nachzugehen, die im Deutschen latent bleiben. Curriculum, das von currere (laufen, rennen) kommt, bezeichnet im klassischen Latein ein Rennen, sei es als Wettlauf zu Fuß oder als Pferderennen. Solche curricula ließen sich im antiken Rom genüsslich betrachten. Die ersten Übertragungen des Wettlaufs auf das Leben finden sich schon in der späten römischen Republik, nämlich bei Cicero, der von curriculum vitae (Cic. Rab. perd. 30), curriculum vivendi (Cic. Tim. 12), den curricula mentis („Läufe des Geistes“, Cic. CM 38) oder auch dem curriculum industriæ nostræ – dem „(Ver-)Lauf unserer Bemühung“ (Cic. Phil. 7, 7) spricht, wie der Thesaurus Linguae Latinae zeigt.

Im Anschluss an Blumenberg lässt sich sagen, dass das „Leben“ geradezu der Metaphern bedarf – zu groß und vielfältig sind seine Bedeutungspotenziale, als dass es ohne Rückgang auf Motive und Anschauungen, die aus der Lebenswelt vertraut sind, handhabbar wäre. Die Übertragung des Wettlaufs auf das Leben ist dabei keineswegs trivial, geschweige denn alternativlos: Für Wettläufe ist die zu absolvierende Strecke vorgegeben. Bei einem Lebenslauf ist das erst einmal nicht der Fall. Oder vielleicht doch? Denn ein weiterer Aspekt des Wettlaufs besteht darin, dass er nicht allein absolviert werden kann, sondern nur gegen andere. Auch der CV wird ja vornehmlich in Vergleichssituationen in Anschlag gebracht. Der Soziologe Ulrich Bröckling spricht in verwandtem Zusammenhang von einem „kategorischen Komparativ“.

Ettore Forti: Racing Chariots Entering The Circus Maximus (1897) © wikimedia

Seneca überträgt die Wettlauf-Metaphorik noch kühner auf das Leben: „Nicht nur auf der Rennbahn und im Wettkampf des Zirkus, sondern auch auf dieser Bahn des Lebens muss man die Kurve enger nehmen.“ (De tranquillitate animi 9.3, übers. Heinz Gunermann) Nun ist bei Seneca aber das Verhältnis zur „Konkurrenz“ in diesem Lauf ein widersprüchliches: Zwar möchte er verdeutlichen, dass man sich nicht von anderen, die weit ausschweifende Kurven fahren und sich zu einem Leben hinreißen lassen, das nicht tugend- und vernunftbestimmt ist, ablenken lassen soll. Insofern spielt die Konkurrenz keine Rolle. Wer allerdings „die Kurve enger nimmt“, nimmt sie enger als Andere. Die Anderen bleiben als „Negativbeispiel“ in Senecas Wettlauf-Bild, wie auch in dem ganzen Traktat, so präsent, dass das Bild vom Wettlauf ohne sie praktisch leer bliebe. Der Wettlauf des tugendhaften Lebens ist bei Seneca also ein innerer, ganz individueller, der allerdings durch die vielen großspurigen Bahnen anderer Rennwägen zu neuen Spitzenleistungen angetrieben wird. Hier zeigt sich eine für den Lebenslauf charakteristische Tendenz: Es wird ein Weg beschrieben, der zunächst als individueller erscheint, der aber tatsächlich nur im vergleichenden Rückgriff auf andere Wege zielstrebig oder schlüssig wirkt.

In der mittelalterlichen Universität etabliert sich das curriculum in einem institutionellen Kontext – auch hier im Rückgriff auf antike Vorläufer eines vollständigen Bildungsweges, die unter dem Namen ἐγκύκλιος παιδεία (umfassende, ‚enzyklopädische‘ Bildung) bzw. artes liberales bekannt sind. Die Nähe des curriculum vitae zum schulischen oder universitären curriculum verdichtet das Netz zwischen individueller Lebenswahl und vorgegebener (Renn-)Bahn: Das curriculum ist in institutionell-pädagogischen Kontexten als Lehrgang konzipiert, bei dessen Absolvierung bestimmte Kompetenzen gewonnen werden. Die Idee, dass man einen bestimmten cursus absolvieren sollte, wirkt im heutigen pädagogischen Kontext vertraut, zumal für Kinder der Bologna-Reformen (wie ich eines bin). Aber hat sich dieses Verständnis eines curriculums als einer festen Bahn auch auf die vita, also auch auf weitere Zusammenhänge ausgedehnt? Wie weit ragen Institutionen in unser Leben hinein?

Der Zusammenhang zwischen dem Leben und einem Wettlauf, der überdies auch noch im Kreis führt, hat immer wieder für einiges Unbehagen gesorgt. Eine besonders kritische Einlassung findet sich in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit. In seiner kritischen Genealogie der Ungleichheit möchte er

darauf aufmerksam machen, wie sehr jenes universelle Verlangen nach Reputation, Ehren und Auszeichnungen, das uns alle verzehrt, die Talente und die Künste übt und vergleicht; wie sehr es die Leidenschaften anstachelt und vervielfacht; und – da es alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen, oder vielmehr Feinden macht – wie viele Schicksalsschläge, Erfolge und Katastrophen aller Art es täglich dadurch verursacht, dass es so viele Bewerber dasselbe Rennen laufen lässt [en faisant courir la même lice à tant de Prétendants].

Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l‘inégalité [1755/1782]. Hrsg. u. übers. v. Heinrich Meier. 7. Aufl. Schöningh/UTB 2019, S. 257.

Rousseau deutet die homogenisierende Konkurrenzsituation des Wettlaufs als Hindernis und Deformation der menschlichen Freiheit. Zwar werden durch Konkurrenz in der Tat „Talente und Künste“ geübt. Aber das tertium comparationis, die Strecke, wird nicht hinterfragt. Wenn das Leben selbst als Wettlauf begriffen wird, torpediert dies, so könnte man Rousseau verstehen, die Reflexion auf sinnvolle Lebensziele und verabsolutiert stattdessen den Kampf um Anerkennung. Wer nur für den CV und die damit verbundene Anerkennung lebt, reflektiert nicht, wofür er oder sie lebt. Die vorgegebenen Ziele werden fraglos übernommen und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Die Geschichte der Wendung curriculum vitae beleuchtet also durchaus Schattenseiten dieser heute so beliebten (oder zumindest ständig geforderten) Textform. Zwei Ergebnisse wurden soweit erzielt: Wird das Leben für einen Wettlauf gehalten, so wird das Gegenüber nicht nur in klar abgesteckten, sondern potenziell in allen Situationen zur Konkurrenz. Außerdem wird durch das Bild des Wettlaufs die Frage nach dem Ziel desselben tendenziell zum Verschwinden gebracht.

Im CV steckt also die Metaphorik eines Weges, den man besser und schneller als andere gerannt ist. Es wird sicherlich nichts nützen, diese Textform durch eine andere, egalitärer daherkommende zu ersetzen. Denn die Konkurrenz um Posten, Stipendien, Preise und Ähnliches ist ja objektiv gegeben.

Dennoch ist es bemerkenswert, dass der Wettlaufcharakter des CV quer steht zu einer anderen Wegmetapher, die die Wissenschaft als Ganze wohl geprägt hat wie keine zweite: es handelt sich um die „Methode“. Auch hier lohnt ein kursorischer Blick auf die antiken Vorbedingungen. „Methode“ setzt sich im Griechischen aus der Präposition „μετά“ (hier im Sinne von „gemäß“, „entsprechend“) und „ὁδός“ (Weg) zusammen. Der Sokrates, den Platon in seinen Dialogen auftreten lässt, verwendet den Begriff mehrfach in einer problematisierenden Weise: Für ihn besteht methodisches Denken nicht im Abspulen eines festen Schemas, sondern in der kritischen Prüfung des zu gehenden (Denk-)Weges, inklusive der Möglichkeit des Abbruchs und der Rückkehr. In diesem Sinne wird der Begriff im Sophistes (218d5) und im Phaidros (270c4-6) verwendet. Und nicht umsonst enden viele der platonischen Dialoge in Aporien, d.h. in Ausweglosigkeiten, die eine Rückkehr erfordern. Das „methodische“ Denken in diesem Sinne setzt also voraus, dass mehrere Wege gangbar sind. Um zu entscheiden, welche man gehen sollte, muss man überlegen, wo man hinwill. Eben die Reflexion darauf, welche Wege es sich zu gehen lohnt, ist der Sinn dessen, was Platons Sokrates „Methode“ nennt. Sie ist also in erster Linie eine Reflexion auf Zwecke und nur in zweiter Linie auf Mittel. Der Philologe Glenn W. Most argumentiert, vermutlich in Anlehnung an solche antiken Diskurse, dass eine solche Reflexion auf Zwecke gerade in den Geisteswissenschaften ihren Platz hat.

Es mag nun ein schräger Zufall sein, dass der CV und die Methode, die beide Wegmetaphern sind, in der akademischen Welt friedlich koexistieren. Doch funktioniert die Aufteilung zwischen den Wegen der Forschung und der Eigenlogik des CV wirklich so reibungslos? Oder treibt die Logik des CV die Wissenschaft selbst ein Stück weit vor sich her, da man eben das schon begonnene Rennen zu gewinnen hat und nicht über die Zeit (und vielleicht auch nicht die Kompetenz) verfügt zu fragen, ob man denn einen sinnvollen Weg geht?

Von Karl Marx wird die Anekdote erzählt, dass sein Verleger ihm, weil er für den ersten Band des Kapitals viel länger als angekündigt brauchte, den Vertrag kündigen und das Buch von jemand anderem schreiben lassen wollte. Der Zeitaufwand des Autors erschien im Vergleich zu anderen Schnellschreibern exorbitant. Aber nicht alle Wege können gleich schnell gegangen werden.

Ich danke Till Breyer und Nora Weinelt für die redaktionelle Betreuung sowie Rosalie Arendt und Jonas Cantarella für ihre Hinweise.

Carsten Flaig ist Doktorand am Institut für Philosophie sowie an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich mit dem Metaphernkomplex der geistigen Speisen in der römischen Kaiserzeit.