Welche Rolle spielt Care-Verantwortung in der Literatur – und für das Schreiben selbst? Ein Workshop im Literaturforum im Brecht-Haus ging dieser Frage nach.

Bericht von Christopher Scholz

Das englische Wort „Care“ umfasst sowohl die allgemeine „Sorge“ und „Zuwendung“, die „Fürsorge“ und „Betreuung“ als auch die „Pflege“ von Kranken oder Alten. Dass es im Deutschen in dieser umfassenden Bedeutung keine direkte Übersetzung hat und die „Sorge-Arbeit“ sich als in dieser Hinsicht verständlicher Begriff nur bedingt eignet, mag einer der Gründe dafür sein, dass ein Diskurs über die „Care-Arbeit“ in Deutschland bisher nicht in ähnlichem Maße wie im angloamerikanischen Raum stattgefunden hat. Es ist vor allem der feministischen Theorie und der zweiten Welle der Frauenbewegung zu verdanken, dass diese Form der oft unbezahlten und dennoch für eine Gesellschaft unentbehrlichen Arbeit, die traditionell meist von Frauen geleistet wurde, seit den 1990er Jahren auch hierzulande kritisch betrachtet und begrifflich als Arbeit fassbar wurde.

Die mittlerweile bereits über zwei Jahre andauernde COVID-19-Pandemie hat auch in Deutschland dazu geführt, dass öffentlich mehr über Pflegearbeit und elterliche Kapazitäten bei der familiären Betreuung gesprochen wurde. Die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung im Pflegesektor, eine bessere Bezahlung und Entfristung von Pflegekräften oder die politische Unterstützung von Familien und Schulen hat sich jedoch bisher nicht erfüllt, und so scheint es notwendiger denn je, erneut eine Diskussion über „Care-Arbeit“ anzustoßen.

Ein Workshop des linken Forums undercurrents, der am 24. und 25. Februar 2022 in Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus veranstaltet wurde, nahm sich vor, sich dem Thema „Care“ literaturwissenschaftlich zu nähern und so eine Forschungslücke zu schließen, um die Debatte sowohl wissenschaftlich als auch politisch zu erweitern. Zu diesem Zweck veranstaltete das Forum eine hybride Tagung, bestehend aus vier Panels und zwei Gesprächen, an denen sowohl vor Ort als auch online teilgenommen werden konnte. In den Panels „(Queer-)Feministischer Materialismus“, „Care und Krankheit“, „Historische Perspektiven“ und „Subversion & Kritik“ wurden zuvor zirkulierte Vortragstexte kurz vorgestellt und ausführlich diskutiert. Im Zentrum der abendlichen Lesungen und Gesprächsrunden standen neben der literarischen Verhandlung von Care-Arbeit auch  Kollaborationen zwischen Autor_innen und bildenden Künstler_innen. Die pandemiebedingte Gestaltung des Workshops als hybrides Format war zwar aus der Not geboren, kann aber gerade für Menschen mit Care-Verantwortung auch für die Zeit nach Kontaktbeschränkungen als Vorbild dienen, da sie eine erleichterte Teilhabe an wissenschaftlicher Tätigkeit erlaubt.

Gespräch mit Maren Wuster, Jacinta Nandi und Frédéric Valin, moderiert von Annika Klancke (v.l.n.r.)

Inhaltlich beschäftigten sich die Beiträge vorwiegend mit zeitgenössischen Texten aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum. Die wissenschaftliche Prägung der Debatte durch Forscherinnen wie Silvia Federici – auf die sich auch in den Diskussionen immer wieder bezogen wurde –, Barbara Duden oder Karin Hausen zeigte sich vor allem in der Konzentration auf die geschlechtliche Dimension von Care und die nach wie vor überwiegend Frauen zugeschobene Verantwortung für Reproduktions- und Hausarbeit in der bürgerlichen Familie. Sichtbar wurde der fortwährende Einfluss dieser marxistisch-feministischen Auseinandersetzung mit der Sorgearbeit vor allem in der thematischen Ausrichtung der Vorträge, die sich mehrheitlich mit Care-Beziehungen in familiären Verhältnissen, in der Haus- und Reproduktionsarbeit sowie in der Pflege von Kindern – oder umgekehrt der Pflege kranker Eltern durch die eigenen Kinder – auseinandersetzten.

Fruchtbar gemacht werden konnte dieser Fokus vor allem in den Analysen, in denen merklich literaturwissenschaftlich an und mit den Texten gearbeitet wurde. So widmete sich Diego Léon-Villagrás autobiographischen Texten von Szuzsa Bánk, Mely Kiyak und Charlotte Link, in denen die Pflege krebskranker Angehöriger thematisiert wird. Charlotte Alex untersuchte die Verhandlung von Care und Gender in Douglas Stuarts Shuggie Bain zur Zeit des Bergarbeiterstreiks im Großbritannien der 1980er Jahre unter Margaret Thatcher. Sinnvoll ergänzt wurden diese Beiträge durch Vorträge, die bisher wenig kanonisierte Texte behandelten oder Analysen vornahmen, die sprachlich, räumlich und zeitlich über den Horizont deutsch- oder englischsprachiger Gegenwartsliteratur hinausgingen. Durch die Beiträge von Alena Heinritz zum mittelhochdeutschen Epos Gregorius, in dem die Fürsorgehandlung von der Mutter auf den christlichen Gott übertragen wird, und von Charlotte Carl zu poetologischen Perspektiven auf das Verhältnis von Mutterschaft und Autorinnenschaft zwischen 1800 und 2000 konnte eine historische Perspektive eröffnet werden. Sonakshi Srivastava stellte darüber hinaus in ihrer Untersuchung von Jerry Pintos Em and the Big Hoom und Avni Doshis Burnt Sugar zwei Romane vor, in denen sich die Pflege von Angehörigen als Prisma der (intergenerationalen) Abhängigkeitsverhältnisse in indischen Familien erweist.

Die Konzentration auf die Pflege innerhalb der Familie und auf Mutterschaft als Care-Arbeit wurde am Abend des ersten Tages durch Lesungen und ein Gespräch zwischen Jacinta Nandi (Die schlechteste Hausfrau der Welt), Maren Wurster (Papa stirbt, Mama auch) und Frédéric Valin (Pflegeprotokolle) um die Perspektive von Schreibenden ergänzt, die sich literarisch mit dem Thema auseinandersetzen. Mit Valin war zudem ein Autor eingeladen, der aus seinem Pflegeberuf heraus auch außerhalb familiärer Verhältnisse über seine Care-Arbeit schreibt.

Neue und insbesondere in der Literaturwissenschaft noch nicht ausreichend etablierte Ansätze ergaben sich vor allem in den durch die Beschäftigung mit dem Thema entstehenden kollaborativen Arbeiten. Während sich in den untersuchten Texten immer wieder zeigte, dass Care-Arbeit zu einer übermäßigen Belastung für die Sorgetragenden wird, wenn sie sich nicht auf bestehende Netzwerke, unterstützende Strukturen und gemeinschaftliche Fürsorge verlassen können, hält sich in der Literaturwissenschaft hartnäckig das Ideal des einsamen Genies, das isoliert in seiner Kammer eigene Gedanken entwickelt und ohne fremde Hilfe Texte produziert. Dieses Leitbild, dessen Absurdität sich bereits angesichts der stetigen Beeinflussung durch die Lektüre von Quellen und wissenschaftlicher Literatur zeigt, löst sich zwar in der Akademie durch die Bildung von Forschungsverbünden, Clustern und Graduiertenkollegs langsam auf, doch insbesondere das kollaborative Schreiben ist auch in diesen Zusammenhängen bisher eher verpönt. In dem Workshop waren es daher gerade die Versuche, neue Arbeitsweisen und Ansätze zu entwickeln, die zu produktiven Wechselwirkungen zwischen dem Thema und wissenschaftlicher sowie künstlerischer Tätigkeit führten.

So gestalteten Liza Mattutat und Judith Niehaus ihren gemeinsamen Beitrag als ein persönliches Gespräch in Form eines E-Mail-Briefwechsels, in dem Konstellationen von Sorge-Arbeit in Romanen von Anke Stelling oder Caroline Muhr gemeinsam untersucht wurden. Die Form ihres Vortrags, den sie explizit in die feministische sowie erkenntnistheoretische Tradition von Briefwechseln und -romanen stellten, verstanden Mattutat und Niehaus dabei als unmittelbar mit seinem Inhalt verbunden. Die Briefform als feministische Wissenschaftskritik zeige nicht nur verschiedene Alltagsrealitäten und wissenschaftliche Hintergründe, sondern zeuge im Sinne Donna Haraways auch davon, dass Wissensproduktion nie einsam und anlasslos, sondern immer im Austausch entstehe. Im Versuch, literarische Texte und politische Theorie zusammenzubringen, formulierten Mattutat und Niehaus schließlich sechs Thesen zum Verhältnis von Literatur, Care und politischer Theorie. Es war dabei vor allem die fünfte These zu einer möglichen Funktion von Literatur als politischem Korrektiv, auf die sich auch in späteren Diskussionen bezogen wurde:

„Literatur kann der politischen Theorie als Korrektiv dienen, wenn theoretische Modellierungen mit erzählten Konstellationen konfrontiert werden. Denn Literatur kann diese (auf andere Weise als Beispiele) zur Anschauung bringen.“

Dieses literarische Zur-Anschauung-Bringen, das Sahra Dornick in der Diskussion als eng verbunden mit der Figur der Hypotyposis in der klassischen Rhetorik verstand, trage, so Mattutat und Niehaus, im Unterschied zu beispielhaften Abstraktionen der Komplexität von realen Situationen und Beziehungen Rechnung.

Das Kollektiv Writing with Care / Rage © care-rage.de
Das Kollektiv Writing with Care / Rage © care-rage.de

Ute Kalender und Aljoscha Weskott unternahmen in ihrem Vortrag über Narrative der digitalen Sorgearbeitsdebatte ein gemeinsames Schreibexperiment, in dem sie in einer flanierenden Ethnographie Figuren entwarfen, die in Begegnungen auf fiktiven Veranstaltungen Gedanken entwickeln und als Repräsentant_innen verschiedener Feminismen und Perspektiven Einstiegspunkte in die Debatte bilden sollten. Auch sie begriffen die Form ihres Vortrags als Intervention – in diesem Fall in die digitale Sorgearbeitsdebatte. Sie sprachen sich damit gegen die im digitalen Kontext wiederholte Entwertung von Theorien als Identitätspolitik aus und unterstrichen die gleichwertige Existenz verschiedener Zugänge zu Subjektivierung.

Die beiden Beiträge demonstrierten nicht nur für die Literaturwissenschaft ungewohnte Methoden, sie vollzogen auch in ihrer Form einen Bruch mit akademischen Gepflogenheiten. Gerade in deutschsprachigen wissenschaftlichen Texten wird nach wie vor häufig auf eine sichtbare Autor_innen-Position verzichtet, um so den Anschein einer losgelösten Objektivität zu erwecken. Die Beiträge von Niehaus und Mattutat sowie von Weskott und Kalender stellten daher Versuche dar, diese klassische Struktur des wissenschaftlichen Vortrages aufzubrechen und zu demonstrieren, dass Gedanken stets aus Begegnungen und Dialogen und nicht in einem Vakuum entstehen.

In dem von Stephanie Marx moderierten Gespräch zwischen Lene Albrecht, Katharina Bendixen und Barbara Peveling über Schreiben, Care-Arbeit und den Literaturbetrieb am zweiten Abend des Workshops wurden darüber hinaus weitere Zusammenschlüsse von Schreibenden über das Thema Care sichtbar. Das Kollektiv Writing with CARE / RAGE versteht sich als vielstimmiges Projekt. Sowohl einzeln als auch gemeinsam arbeiten die Beteiligten an Konferenzbeiträgen, Texten und anderen literarischen Formen und wollen so verstärkt Aufmerksamkeit auf das Schreiben mit Care-Verantwortung lenken. Der präsentierte Film FRAGMENT EINS von Ella Zwietnig entstand aus dem gemeinsamen anonymen Schreiben in einem Google-Doc-Dokument anlässlich der ersten Writing with CARE / RAGE-Konferenz im letzten Jahr. Mit other writers need to concentrate wurde eine weitere Plattform vorgestellt, auf der Schreibende ihre Texte über Autor_innenschaft und Elternschaft teilen.

Screenshot des Headers von other-writers.de

Die verbleibenden blinden Flecken in Bezug auf das Thema des Workshops wurden in dem Gespräch und auch in der darauffolgenden Abschlussdiskussion benannt. Wie auch die Veranstaltung selbst zeigte, birgt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Care die Gefahr, auf die Untersuchung kanonisierter Texte und die Behandlung vertrauter Themenkomplexe wie Mutterschaft und Elternschaft zurückzufallen, die zudem häufig aus einer weißen cis-heteronormativen Perspektive betrachtet werden. Es würde aus diesem Grund helfen, den sehr weiten Begriff Care stärker zu profilieren, um über ihn nicht nur konkrete Praktiken von Sorge, sondern auch seine Funktion in Systemen zu untersuchen. Auch müssten in einer umfassenderen Auseinandersetzung neben nicht-weißen und transkulturellen Perspektiven nicht nur realistisch erzählende Prosa-Texte, sondern zum Beispiel auch Jugendliteratur oder Lyrik und fiktionale Gestaltungen utopischer Alternativen einbezogen werden. Das große Bedeutungsspektrum von Care bietet in dieser Hinsicht ein Potential, das im Workshop allenfalls angedeutet werden konnte.

Zwar wurden in den Diskussionen und Gesprächen auch immer wieder die Rolle des Schreibens und das mögliche Begreifen von Schreiben als Sorgearbeit im Sinne einer Selbstfürsorge sowie die Relevanz des behutsamen Schreibens („writing with care) im Zusammenhang mit Care-Arbeit angerissen, nähere Untersuchungen dieser Komplexe blieben aber genau wie zum Beispiel detaillierte narratologische Analysen von Texten oder Close Readings aus. Der Workshop bildete somit einen Einstiegspunkt für eine weitere Beschäftigung mit Literatur und Care, die zukünftig vor allem von einer stärkeren literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Texten profitieren würde. Eine intensivere Fokussierung auf die Frage danach, wie erzählt wird, könnte die Analyse dessen, was erzählt wird, erheblich schärfen – und so weiter dazu beitragen, die im Workshop adressierten Forschungslücken zu schließen.

Christopher Scholz studierte Japanologie, Neuere Deutsche Philologie und Philosophie in Berlin und Tokio und promoviert an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien zu Repräsentationen des Körpers in der Gegenwartsliteratur japanischer Autorinnen.