Der Exzellenzcluster Temporal Communities, der im Januar 2019 an der Freien Universität seine Arbeit aufgenommen hat, untersucht Literatur als Medium, das Gemeinschaften stiftet. Klassische Begriffe wie der der Nation und der Epoche sollen dabei überschritten werden.

Wir haben mit der Romanistin Anita Traninger, die gemeinsam mit Andrew James Johnston den Cluster leitet, über das groß angelegte Forschungsprojekt gesprochen.

Interview von Till Breyer

Frau Prof. Traninger, gehen wir gleich medias in res: Was sind temporal communities?

Sie sind, unschwer zu erraten, das konzeptionelle Herzstück unseres Forschungsprogramms. Wir sagen, dass Literatur Gemeinschaften stiftet, in der Zeit und durch die Zeit. Dadurch, dass sie – oft über lange historische Zeiträume hinweg – Beziehungen herstellt, wird Literatur global. Der Begriff der community benennt dabei, anders als z.B. jener des Netzwerks, eine bestimmte reflexive Qualität. Ganz zu Beginn war der Titel unseres Projekts „Writing Communities“, was viel eingängiger ist, aber doch suggeriert, dass Literatur in und aus (gedruckten) Büchern besteht. Wir sehen und untersuchen sie aber vielmehr als intermediales und performatives Phänomen.

Mit dem Begriff community kommt eine politische Dimension ins Spiel. Spontan könnte man sagen, dass doch gerade die alte Nationalliteratur Gemeinschaften gestiftet und bestärkt hat. Wie verhalten sich dazu die Gemeinschaften, die bei Ihnen verhandelt werden – können Sie ein Beispiel geben?

Es ist in der Tat so, dass wir mit community einen in den Sozialwissenschaften viel diskutierten Begriff einführen – und ihn anders konturieren. Wir fokussieren gerade nicht auf Kopräsenz, Kontemporarität und geteilte Werte gründende Vergemeinschaftung, sondern denken communities als durch claims, durch behauptete Beziehungen, konstituiert. Das impliziert Ein- und Ausschlussmechanismen und hat natürlich politische Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass gerade Nationalliteraturen nichts anderes als communities sind, die einen starken und politisch unterfütterten Behauptungsgestus durchgesetzt haben.

Interessant ist dabei der Prozess der Naturalisierung, den eine solche Behauptung durchläuft. Gerade die Nationalliteraturen sind hoch prekäre und historisch späte Konstrukte, die aber durch Institutionalisierung – sehen Sie sich die Fächerstruktur der Universitäten an – wirklichkeitsstiftende Kraft bekommen haben. Das Nationalliteratur-Paradigma hat dazu geführt, dass die Fäden, die zwischen Texten historisch aufgespannt wurden, mutwillig abgeschnitten wurden und werden. In der Langfristperspektive betrachtet zeigt sich, dass z.B. der Petrarkismus – der bei uns in einem Projekt als globales Phänomen erforscht wird – gerade kein italienisches oder italianistisches Thema ist und auch keines, das auf die Frühe Neuzeit beschränkt ist, sondern global und auch durch verschiedene Medien produktiv wird. Die communities, über die wir nachdenken, sind auch in dem Sinn offen, als sie jederzeit – und auch nach langen Pausen – wieder adressierbar sind. Am Cluster haben wir derzeit als Dorothea Schlegel Visiting Fellow – das ist unser artist in residence-Programm – Eugene Ostashevsky, der mit seinen Feeling Sonnets direkt in den Dialog mit der petrarkistischen Tradition geht.

Anita Traninger, Co-Sprecherin des Clusters Temporal Communities. © Erika Borbély Hansen

Der Cluster arbeitet also ein Stück weit an der kritischen Infragestellung der klassischen Philologien (wie der Romanistik) und ihrer Gegenstände. Bekamen Sie in der Planungsphase eher Gegenwind, oder rennt man offene Türen ein? 

An der Freien Universität haben wir nur Unterstützung erfahren. Wir bauen ja auch auf eine lange Tradition der interdisziplinären Zusammenarbeit in der geisteswissenschaftlichen Forschung an unserer Universität auf. Aber wir stellen zugleich die Disziplinenlogik in Frage, die kurioserweise in Zeiten der übergreifenden Forschungszusammenarbeit den Weg der Zersplitterung geht. Gerade die Romanistik, die eigentlich – das ist die Besonderheit des Fachs in Deutschland – immer als Komparatistik angelegt war, geht in der Lehre den Weg der Aufgliederung in die Einzelsprachen. Wir würden uns freuen, wenn wir einen Beitrag dazu leisten könnten, Forschung und Lehre näher zusammenzubringen.

Wie sehen Sie insgesamt die Chancen von Einzelsprachlichkeit und Einzelphilologien, über die in letzter Zeit kontrovers diskutiert wurde? Bräuchte man, zugespitzt gesagt, so etwas wie eine staatenlose Literaturwissenschaft?

Moderne Staaten sind ja mit der Literatur, wenn man sie in ihrer historischen Tiefendimension betrachtet, ohnehin nur schwer verrechenbar. Das hat derzeit auch die Konsequenz, dass Figuren wie Erasmus von Rotterdam, der ausschließlich auf Latein schrieb und von dauerhafter gemeineuropäischer Relevanz ist wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen, akademisch-institutionell heimatlos ist. Ich meine, dass es unbedingt Schwerpunktsetzungen geben muss, Expertise ist nicht beliebig ausweitbar. Insofern wird auch in Zukunft jede und jeder von uns bestimmte Felder beackern. Dass deren Grenzen die Disziplinengrenzen sein müssen, bezweifle ich. Wir brauchen mehr Durchlässigkeit, nicht zuletzt im Hinblick auf die wissenschaftlichen Karrieren der nächsten Generationen. Derzeit werden aus – berechtigter – Sorge um „Passfähigkeit“ und „Stallgeruch“ Disziplinenlogiken reproduziert und so der Status quo zementiert. 

Ich möchte noch einmal auf das artist in residence-Programm zurückkommen, das die Forschung des Clusters ja ein Stück weit mit ihrem eigenen Gegenstand zusammenführt. Wie sieht dieser Austausch zwischen den Forschungsprojekten und der literarischen Praxis aus? 

Unter dem Vorzeichen, dass wir Literatur als Praxis begreifen, ist es naheliegend, mit Autor*innen, aber auch Akteur*innen des Literaturbetriebs zusammenzuarbeiten. Ein Auftrag großer Verbundprojekte ist ja Wissenstransfer, aber uns geht es um mehr. Was wir zu tun versuchen ist, die Leistungsfähigkeit unseres Konzepts im Dialog mit denen auszuloten, die Literatur heute praktizieren. Wir haben neben unseren internationalen akademischen Partnern, von Tokyo bis Berkeley, auch neun Berliner Einrichtungen aus dem Literatur- und Kulturbereich an Bord, vom Literarischen Colloquium über die Lettrétage bis zur Schaubühne, mit denen wir gemeinsame Projekte und Aktivitäten realisieren. Einen ersten Eindruck davon gibt unser Grand Opening, das von 24.-26. Oktober 2019 an vier Schauplätzen in Berlin stattfinden wird. Statt des üblichen Festvortrags haben wir ein kleines Festival organisiert; es wird Gebärdensprachpoesie geben, Tanz- und Musikperformances, Lesungen, aber auch einen wissenschaftlichen Workshop sowie eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wer darf Literatur?“.  

Woran arbeiten Sie selbst gerade im Zusammenhang mit dem Cluster? Gibt es Tuchfühlung mit der Praxis?

Es gibt drei größere Projekte, mit denen ich mich gerade beschäftige. Zum einen habe ich mir den Begriff „Serendipity“, mit dem ich mich vor einiger Zeit unter dem Vorzeichen einer Logik des Neuen befasst habe, nochmal neu vorgenommen. Horace Walpole prägte den Begriff im 18. Jahrhundert im Rückgriff auf einen im 16. Jahrhundert auf Italienisch erschienen Text, der eine Übersetzung aus dem Persischen zu sein vorgibt, wobei die darin erzählte Geschichte sich bis in das Delhi des 14. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt – aber gerade nicht im Sinn von geradliniger Rezeption, sondern im Sinn von transformierender Appropriation. Das Beispiel eignet sich hervorragend, um über Literaturgeschichte als Beziehungsgeschichte nachzudenken. Und dabei auch den Casus der aggressiven Negation (Walpole ignoriert Voltaire, der in Zadig die gleiche Geschichte erzählt) zu reflektieren. Das ist im Hinblick auf die Modellierungsfragen, die uns im Kontext der Research Area 5 „Building Digital Communities“ interessieren, ein guter Testfall. 

Als zweites arbeite ich mit Kollegen aus der Nordamerikanistik und der Neogräzistik, Frank Kelleter und Miltos Pechlivanos, an einem Projekt zur Aufklärung als globalem Phänomen, und zwar nicht so sehr im Hinblick auf Ideengenealogien, als vielmehr auf mediale Praktiken und Entwürfe, die uns gerade aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit und der gemeinschaftsstiftenden Funktion dieser Widersprüche interessieren.

Drittens schließlich beginne ich mit Michael Gamper, Cornelia Ortlieb und Jürgen Brokoff, alle aus der Germanistik, Anfang 2020 ein Projekt zu Digitaler Autorschaft, das wir gerade vorbereiten. Hier ist natürlich ein unmittelbarer Praxis- und Gegenwartsbezug gegeben, den wir gemeinsam mit weiteren Partnern explorieren werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: Casa di Giulietta, Verona © wikimedia commons