Jutta Müller-Tamm ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Interview von Chris Fenwick

Die Friedrich Schlegel Graduiertenschule hat vor kurzem den Hauptpreis der Einstein Stiftung Berlin für das beste Doktorandenprogramm der Stadt gewonnen. Was bedeutet diese Förderung für die FSGS? Was wird sie künftig damit machen?

Zunächst bedeutet dieser Preis eine große Bestätigung: Anregung, Unterstützung, Ermutigung. Ganz konkret ist diese Förderung natürlich Geld wert. Wir haben verschiedene Dinge geplant, die wir jetzt umsetzen möchten. Die erste Idee folgt einer Anregung unserer StipendiatInnen: Wir werden 2017, -18 und -19 jeweils eine Summer School ausrichten. Das zweite Vorhaben soll die Internationalisierung der FSGS vorantreiben: Mit einem Teil des Preisgeldes möchten wir neue Kooperationen in Gang setzen und werden im Hinblick darauf Kontakt mit Universitäten in Südafrika aufnehmen. Der dritte Bereich betrifft unser genuines Geschäft, das heißt wir finanzieren Stipendien mit den Geldern der Einstein-Stiftung. Das ermöglicht uns zum Beispiel, den Jahrgang, den wir jetzt auswählen und im Oktober zulassen werden, tatsächlich vollkommen auszufinanzieren und mit entsprechenden Mitteln für Reisen auszustatten. Wir haben auch ein neues Förderformat eingeführt, die Einstein Projektstipendien, die wir an Bewerber in der Endphase oder kurz nach Abschluss des Masterstudiums vergeben und denen wir mit einem dreivierteljährigen Stipendium ermöglichen, ein Exposé zu schreiben, mit dem sie Stipendien einwerben können. Damit können sie dann Mitglieder der Schule bleiben, so dass wir hoffen, auf diese Weise auch in die weitere Zukunft der Schlegel-Schule zu investieren.

Genau, die Exzellenzinitiative kommt jetzt nach zehn Jahren zum Ende, daher müssen Graduiertenschulen sich andere Fördermittel suchen. Wie würden Sie die Exzellenzinitiative im Nachhinein beurteilen? Hat sie gut funktioniert? Finden Sie es schade, dass manche Programme geschaffen worden sind, die keine Förderung mehr finden?

In der Tat trifft der Einstein-Preis auf eine spezifische Umbruchssituation der Graduiertenschule. Angesichts der auslaufenden Grundförderung durch die DFG gibt uns der Einstein-Preis die Möglichkeit, diese Phase des Übergangs aktiv zu gestalten. Das Förderformat der Graduiertenschulen war im Rahmen der Exzellenzinitiative als Anstoß gedacht, das strukturierte Promovieren an den deutschen Hochschulen zu etablieren. Einerseits kann man sagen, dass es sich bewährt hat und dass Promotionsprogramme nunmehr zu den nicht wegzudenkenden Selbstverständlichkeiten der deutschen Universitätslandschaft gehören. Andererseits ist es natürlich nicht einfach, wenn „Exzellenz normal werden soll“. Es ist für alle Beteiligten eine Herausforderung, die Graduiertenschule in eine grundständige Einrichtung der Freien Universität zu überführen. Aber die Schlegel-Schule ist ein attraktiver und sehr lebendiger Ort des wissenschaftlichen Austauschs und der akademischen Ausbildung und soll als solcher erhalten bleiben; den Prozess des Umbaus haben wir bereits begonnen.

Sie haben strukturiertes Promovieren erwähnt. Inwiefern basiert das Programm der Schlegel-Schule auf einem US-amerikanischen Modell? Es gibt natürlich den Unterschied, dass man in Amerika ohne Master mit der Promotion anfängt. Dort hat man mindestens fünf oder sechs Jahre, wovon die ersten zwei dem Master gewidmet sind. In Deutschland läuft ein Programm in der Regel drei Jahre. Wie passen Sie das amerikanische Modell dem deutschen System an? Was sind die Vorteile eines strukturierten Promotionsprogramms?

Es ist natürlich erkennbar die Idee gewesen, das deutsche System in gewisser Weise dem amerikanischen Modell anzunähern. Ich würde aber betonen, dass letzlich doch ziemlich viele Unterschiede bestehen. Für unsere Graduiertenschule würde ich daran festhalten, dass der hauptsächliche Vorteil in dem lebendigen Forschungs- und Arbeitszusammenhang, in den die Stipendiatinnen und Stipendiaten von Anfang an hineinwachsen, besteht. Ich sehe in einer Einrichtung wie der Schlegel-Schule eine verkleinerte Abbildung, oder sagen wir: eine Familienversion der Scientific Community. Man wächst in die akademische Welt hinein, man tauscht sich aus, man entdeckt gemeinsame Interessen, man organisiert zusammen Veranstaltungen, man geht von dort aus in die akademische Welt, auch international. Die Einübung in wissenschaftliche Kommunikation, in eine professionelle Existenz im akademischen Bereich und auch darüber hinaus – das lernt man dort, unterstützt durch diverse Seminare und Veranstaltungen, vor allem aber im Rahmen einer Gruppe. Ich würde immer diesen „Schulgedanken“ hochhalten und weniger das im engeren Sinn „strukturierte“ Angebot an Seminaren, das selbstverständlich auch seinen Wert hat.

Die SchlegelSchule weist allerdings eine große Vielfalt an Disziplinen auf – Japanologie, Arabistik, reine Literaturtheorie… Ist es nicht problematisch, Kurse zu organisieren, die von allen besucht werden können? Wie gehen Sie mit dieser Vielfalt an Disziplinen um?

Das könnte ein Problem sein, ja; selbstverständlich gibt es, wenn so viele Menschen an unterschiedlichen Themen aus unterschiedlichen literatur- und kulturwissenschaftlichen Gebieten arbeiten, gewisse Fliehkräfte. Meiner Meinung und der Erfahrung von mittlerweile neun Jahren nach ist die disziplinäre Vielfalt aber eine Chance und gehört zu den besonderen Stärken der Schule. Zentraler Ort, an dem das in diesem Sinn interdisziplinäre Gespräch stattfindet, sind die von allen besuchten Jahrgangskolloquien; weiterhin die Methodenseminare, die Jahrestagungen, Lesekreise, Workshops und Veranstaltungen der Schule. Über einen gewissen Zeitraum ergibt sich gerade in den Kolloquien so etwas wie eine gemeinsame Diskussionskultur; und unter solchen Bedingungen birgt die Vielfalt der Disziplinen dann vor allem Anregungspotenzial, erweitert den Horizont und veranlasst zur Prüfung der eigenen Ansätze, Methoden und Fragestellungen.

Meine letzten Fragen sind eher persönlich. Sie haben dieses Jahr einen Universitätspreis für Ihre Arbeit als Promotionsbetreuerin bekommen. Wie wichtig ist die Betreuungsarbeit für Sie als Literaturwissenschaftlerin?

Die Betreuung von DoktorandInnen ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit als Literaturwissenschaftlerin. Jedes Betreungsverhältnis ist anders. Manche Fragestellungen hat man selber angeregt, andere bewegen sich in größerer Distanz zur eigenen Forschung. Dann gibt es auch enorme individuelle Unterschiede im Hinblick auf Selbstständigkeit, Wunsch nach Anleitung oder Bestätigung, Diskussionsbedarf; für manche ist es zum Beispiel hilfreich, wenn sie genötigt werden, in regelmäßigen Abständen etwas abzugeben. Immer wieder beziehe ich auch Anregungen aus der Forschung meiner Doktorandinnen und Doktoranden, man lernt viel in diesem über Jahre sich entwickelnden Austausch. Grundsätzlich aber steht bei Betreuungsverhältnissen die Qualifikation der zu Betreuenden im Zentrum: Ich bin da, um jemandem zu helfen, eine möglichst gute Arbeit in möglichst kurzer Zeit zu schreiben.

Könnten Sie noch etwas über Ihre aktuelle Forschung erzählen? Sie haben in der letzten Zeit zum Thema Farben gearbeitet. Schreiben Sie immer noch darüber?

Die Literatur- und Kulturgeschichte der Farbe ist ein, wie ich finde, extrem reizvolles, aber auch sehr heterogenes Feld. Ich habe einige Aufsätze dazu veröffentlicht und im letzten Semester eine Vorlesung darüber gehalten. Es ist allerdings nicht leicht, durch dieses uferlose Gebiet eine Linie zu ziehen, will man nicht, wie das zum Beispiel Michel Pastoureau gemacht hat, die Geschichte einer Farbe erzählen – was im übrigen auch ein gewaltiges Unterfangen ist. Die Vorlesung hat einen Bogen gespannt von der frühaufklärerischen Lyrik eines Bartold Heinrich Brockes über Goethes Farbenlehre bis hin zu Rilkes Cézanne-Rezeption und zur expressionistischen Lyrik. Die Vorlesung möchte ich zu einem Buch ausarbeiten, allerdings ist das ein Zukunftsprojekt. Aktuell schreibe ich einen Vortrag über imaginäre Dichter und ihre autobiographische Lyrik.

Das ist schon etwas ganz anderes! Wie, würden Sie sagen, haben sich Ihre Forschungsinteressen entwickelt? Gibt es eine klare Leitlinie zwischen Promotion, Habilitation und späteren Projekten? Finden Sie, dass Sie jetzt frei sind, ab und an eine neue Richtung zu erforschen?

Das mit der Freiheit und der neuen Richtung ist ein eigenes Thema. Ich habe im Leben vielfach die Beobachtung gemacht, dass man meint, aus freien Stücken und rein interessensgeleitet sich ein Thema zu wählen, und im Nachhinein dann festgestellt, dass man am Bändel irgendeines Diskurses dorthin gezogen wurde. Das ging mir zum Beispiel mit dem Gebiet von Literatur und Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte so. Ende der 80er Jahre, nach der Lektüre von einigen Franzosen – Foucault, Canguilhem und Bachelard – dachte ich, das interessiert mich, und ich habe begonnen, über die Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zu Ästhetik und Literatur zu arbeiten. Am Anfang hat meine Umgebung (jedenfalls die germanistische) das eher mit Desinteresse oder einer gewissen Irritation aufgenommen. Bis dann irgendwann ‚Literatur und Wissen’ ein überaus prominentes Forschungsfeld wurde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man auf einer Welle mitschwimmt, die man noch nicht gesehen hat, weil sie gerade erst im Steigen ist.

Zu Literatur- und Wissensgeschichte habe ich also vielfach gearbeitet, mit unterschiedlichen historischen und thematischen Schwerpunkten. Immer wieder beschäftige ich mich in Lehre und Forschung auch mit Gegenwartsliteratur; wie zum Beispiel in dem erwähnten Vortrag, der sich vor allem mit Jan Wagners „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“ befasst. Grundsätzlich fühle ich mich frei, meine Themen zu wählen und neue Richtungen einzuschlagen; leider hat man nie genügend Zeit, um all das, was einen reizt, auch weiterzuverfolgen.

Könnten Sie etwas mehr zur Gegenwartsliteratur sagen? Was ist ihr Status innerhalb der Wissenschaft? Ist es gefährlich, über Literatur zu schreiben, die vielleicht bald komplett vergessen sein wird? Was ist das Verhältnis zwischen der Literaturwelt im allgemeinen – zwischen Kritikern und Verlagen – und dem akademischen Bereich?

Zu Ihrer ersten Anmerkung, dass es problematisch sei, über Gegenwartsliteratur zu schreiben, weil man nicht weiß, ob das Werk oder der Autor überdauert – das Argument kann ich überhaupt nicht gelten lassen. Die Frage ist doch, was man damit oder daraus macht – nicht welchen (im übrigen ja historisch wandelbaren) Kriterien ein Gegenstand genügt. Ein Text muss nicht unbedingt dem Kanon zugehören, um ihn im Rahmen interessanter Forschung zu behandeln. Man sieht etwas daran, kann etwas daran zeigen. Unter Umständen ist gerade die im Kanon weniger angekommene oder vielleicht auch als schlechter empfundene Literatur besonders aussagekräftig für bestimmte Diskursphänomene.

Das andere betrifft aber die Frage nach dem Verhältnis von Literaturproduktion, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Aus meiner Perspektive sind das unterschiedliche Institutionen, die man als solche beschreiben kann. Gleichzeitig gibt es ein hohes Maß an Verflechtung: So sind im deutschen Raum die meisten Schriftsteller studierte Literatur- oder Kulturwissenschaftler. Ähnliches gilt für die Zunft der Literaturkritiker. Manche von ihnen schreiben auch essayistisch; wiederum betätigen sich auch Schriftsteller als Kritiker oder arbeiten kulturjournalistisch. Die Bereiche sind, was die Seite der Produktion und Genese betrifft, stark verquickt. Dennoch muss man festhalten, dass Literaturkritik definitiv nicht das Geschäft der Literaturwissenschaft ist. Literaturwissenschaft kontextualisiert literarische Texte, aber kritisiert sie nicht (auch wenn sie selbstverständlich zu Prozessen der Kanonbildung beiträgt). Literaturkritik ist das Geschäft, sich für ein breiteres Publikum über Literatur zu beugen, Literatur vorzustellen, zu besprechen, zu beurteilen, zu empfehlen oder zu verwerfen, wie auch immer.