• Beitrags-Kategorie:Kritiken

Können ästhetische Spekulationen dabei helfen, den Anthropozentrismus zu überwinden? Und wie wäre eine nicht-anthropozentrische Literaturwissenschaft zu verstehen? Das Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« eröffnet die Debatte.

von Troels Thorborg Andersen

Im Nachgang zum Symposium »Ästhetiken des Spekulativen«, das 2017 an der Universität der Künste in Berlin stattfand, ist soeben der Band Das Ästhetisch-Spekulative (Fink Verlag) erschienen, der von Kathrin Busch, Georg Dickmann, Maja Figge und Felix Laubscher vom Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« herausgegeben wurde. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage, welche Formen von Wissen aus ästhetischen Objekten und Werken zu gewinnen sind.

Philosophisch gesehen ist die Verquickung von Spekulation und Ästhetik eigentlich ein problematisches Vorhaben. Ludger Schwarte zufolge bedeutet das Verfahren der Spekulation in der Philosophie vor allem, über das hinauszugehen, was sich erfahren oder nacherzählen lässt, um den vollen Begriff von etwas, die Idee von etwas, den systematischen Zusammenhang jenseits seiner »okkasionellen Instantiierung« zu erfassen. Spekulieren heiße folglich, etwas in seiner Realität und jenseits seiner Erfahrbarkeit zu bestimmen (S. 184). Unter Ästhetik hingegen versteht man seit Kants berühmter Definition zumeist das freie, lustvolle Spiel des Verstandes. Ästhetische Erfahrungen brächten uns demnach zwar Genuss, aber keinerlei Wissen ein. Das proklamierte Ziel von Das Ästhetisch-Spekulative ist es, ausgehend von diesem philosophischen Problem zu untersuchen, ob eine Reevaluation des Verhältnisses von Spekulation und Ästhetik eine »heilsame, nicht-anthropozentrische Sicht« (S. 19) auf die Welt ermöglichen könnte. Dabei misst der Band ästhetischen Erfahrungen und dem aus diesen Erfahrungen potenziell hervorgehenden Wissen eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Herausgeber:innen schreiben in der Einleitung, dass ästhetische Darstellungsformen spekulativ seien, wenn sie weder repräsentieren noch bloß präsentieren, sondern aus ihren Artikulationen neue Denkmöglichkeiten gewinnen. Mit Das Ästhetisch-Spekulative versuchen die Herausgeber:innen im Anschluss daran, mit dem Format ›wissenschaftlicher Tagungsband‹ zu brechen. Viele der Beiträge sind nicht im traditionellen Sinne wissenschaftlicher Art, sondern Kunstwerke, Dokumentationen, Interviews und Manifeste. Diese Mischung soll zeigen, dass Theorie, Dokumentation und Kunst als verschiedene epistemische Genres zu verstehen sind, die auf je spezifische Weise neue Denkmöglichkeiten anregen.

© Wilhelm Fink Verlag

Marian Kaiser bringt in ihrer Einführung in James Hoffs fotografisches Werk Virus Paintings, das die Lesenden durch den Band begleitet, das Ästhetisch-Spekulative auf den Punkt: Eine Änderung von Symbolen habe, so Kaiser, immer auch eine Änderung unserer Vorstellungen zur Folge. In Hoffs Werk werde »ein Schad-Code, der entwickelt wurde, um iranische Atomanlagen und Ölraffinerien auszuspionieren (und ggf. lahmzulegen), in Digitalfotografien monochromatischer Oberflächen und gemalter Bilder injiziert« (S. 34–45). Die Symbolik des Schad-Codes ist ursprünglich ‚Krieg‘, der Schad-Code eine digitale Waffe. Indem Hoff diesen Code von seinem ursprünglichen Zweck befreit und ihm eine abstraktere Symbolik in der digitalen Fotografie zuweist, ändert er gleichzeitig die mit dem Code verbundenen Vorstellungen. Aus der digitalen Waffe des Codes wird ein digitaler Künstler: Die monochromen Oberflächen werden nicht von Hoff, sondern vom Code bemalt.

Eine ähnliche Umdeutung der Symbole, die neue Denkmöglichkeiten eröffnet, geschieht auf literarischer Ebene in Monika Rincks Gedicht Der Späher. Darin wird zunächst ein älterer Topos aufgegriffen: Die Sprache unterliege dem Zwang oder der Erwartung, als Erkenntnis oder Vermittlerin von Erkenntnis zu dienen und im ökonomischen Sinne Werte steigen lassen. Der Späher ist einer, der nützliche, wertvolle Informationen einholt. In Rincks Gedicht ist der Späher allerdings stumm. Damit wird der Späher – der zwar viel weiß, weil er sorgfältig beobachtet, der im Öffentlichen aber eher verborgen bleibt und sich ungern über irgendetwas äußert – zum Vorbild für den ästhetisch-spekulativen Umgang in und mit der Welt. Die Devise des Gedichts lautet: »So: OPT FOR STRONG THOUGHTS.« (S. 12) Man müsse für ein starkes Denken eintreten, statt zu versuchen, die Welt auf Begriffe zu bringen.

Für Literaturwissenschaftler:innen mag außerdem die Übersetzung von Roger Caillois’ Bericht des Entwohnten durch Elisabeth Heyne von Interesse sein. Die kurze Geschichte des französischen Schriftstellers, Philosophen und Soziologen Caillois (1913–1978) berichtet von einem Mann, der eines Tages eine Auflösung seiner Konturen wahrnimmt. Er verliert folglich seine körperliche Identität und wird »eine Art Muschel«, »gar eine Vielzahl von Muscheln.« (S. 44) Caillois untersucht in diesem Text mittels der Fiktion eine philosophische These zum Verhältnis von Subjekt und Welt. Die Fiktion erlaubt dem Schriftsteller, sich in die Dinge der Welt hineinzuleben, seine menschliche Wahrnehmung und seinen menschlichen Verstand zu verlassen, um die Welt »nicht-anthropozentrisch« zu erleben. Dieses Unternehmen erinnert an Viktor Šklovskijs Analyse von Tolstojs menschlich wahrnehmendem Pferd in Die Kunst als Verfahren. Auch wenn man den russischen Formalismus nicht rundweg als anti-anthropozentrisch etikettieren sollte, bekommt man Lust, die Thesen von Das Ästhetisch-Spekulative mit älteren Schulen der Literatur- und Kunsttheorie zu vergleichen. Dennoch ist Bericht des Entwohnten viel postmoderner als der Formalismus, und man könnte diese kurze Fiktion auch als ein literarisch-praktisches Beispiel des von Jean-François Lyotard proklamierten »inhumanen Denkens« lesen, das Kathrin Busch in ihrem Beitrag mit dem Ästhetisch-Spekulativen zusammenbringt.

Die theoretische Grundeinstellung des Bandes ist der spekulative Realismus. Diese Theorie erfuhr in Deutschland in den 2010er Jahren eine Hochkonjunktur, u. a. mit einem Sonderband der Texte zur Kunst (Heft 93, 2014), mit der Veranstaltung »Zeitgenössischer Realismus und Materialismus« im Haus der Kulturen der Welt und mit dem Merve-Band Realismus Jetzt!, der 2013 von Armen Avanessian herausgegeben wurde. Der französische Philosoph Quentin Meillassoux entwickelte in Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz (frz. Ausgabe 2006) den spekulativen Realismus in dem Versuch, die korrelationistische Welterfassung zu überwinden. Als ›Korrelationismus‹ bezeichnet Meillassoux die Vorstellung, dass Sein und Wahrgenommen-Sein unauflöslich miteinander zusammenhängen. Martin Beck schreibt in seinem Beitrag über die ›Verkörperungslogik des Korrelationismus‹:

Die Dezentrierung der korrelationistischen Perspektive auf die Welt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, soll der Weltsicht und Handlungskraft nicht-menschlicher Akteure zu ihrem Recht verhelfen und diesen ein Mitspracherecht einräumen.

(S. 114)

Diese Dezentrierung des Menschen weg von der Position des primären Beobachters der Welt wird im vierten Kapitel anhand zahlreicher Beispiele vogeführt – vom KollektivARK, das sich als »changing association of musicians, producers, writers, scientists and electronic Musicking/Things« (S. 243) präsentiert und in seinen Installationen den ›synthesizers‹ und ›drum machines‹ genauso viel kreative Macht einräumt wie den menschlichen Mitgliedern des Kollektivs, bis zu Sascha Pohflepp und Chris Woebken, die ein »semantisches Kartenspiel« entwickelt haben, das den Spielenden zum Verlernen, zur Selbstentfremdung und letztendlich zur Dezentrierung des Menschlichen verhelfen soll (S. 287).

Georg Dickmann und Felix Laubscher untersuchen in ihren Beiträgen das Verhältnis von spekulativem Realismus und ‚weird‘-fiction bzw. science-fiction. Dickmann geht auf zwei Texte von H. P. Lovecraft ein und zeigt, wie fiktive Räume und Orte Orientierungslosigkeit evozieren (S. 145) – eine literarisch-ästhetisch erzeugte Orientierungslosigkeit, die zum Nachdenken über das Verhältnis von Subjekt und Welt verleitet. Laubscher analysiert Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey und zeigt, wie der berühmte Monolith als ästhetisch-spekulatives Objekt par excellence zur Spekulation antreibt, indem er sich der Unterordnung innerhalb eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses entzieht.

Reinstallation zu Kubricks »2001: A Space Odyssey« bei der Ausstellung The 14th Factory in Los Angeles 2017 (© wikimedia commons)

An der matt-schwarzen Oberfläche prallt der fragende Blick genauso ab wie jede Bedeutungszuschreibung, und den vielstimmigen Chorgesang, der seine Auftritte begleitet, können wir vernehmen, nicht aber entschlüsseln. Und auch wenn der Monolith die Handlung immer wieder in Gang zu setzen scheint, wird er selbst nie von ihr berührt.

(S. 168)

Laubscher betont das ästhetisch-spekulative Potenzial der literarischen Fiktion: »Die Grenzen der experimentell zugänglichen Welt überschreitet die Fiktion gerade im ästhetischen Überschuss.« (S. 176)

Unklar bleibt nach der Lektüre von Das Ästhetisch-Spekulative gleichwohl, wie eine nicht-anthropozentrische Literaturwissenschaft abgesehen vom Verfahren der Fiktion aussehen könnte. Ein Problem nicht-anthropozentrischer Literaturwissenschaft ist ja, dass Literatur mit menschlichen Sprachen arbeitet und in diesem Sinne Teil der ‚humanities‘ bleibt. Egal ob Sprache begrifflich oder metaphorisch verwendet wird, sie kann vom menschlichen Weltbezug nie vollständig entkoppelt werden. Kennzeichnend für alle Versuche literaturwissenschaftlicher Art in Das Ästhetisch-Spekulative ist, dass sie sich mit der literarischen Fiktion befassen. Wäre es aber auch möglich, die Fiktion zu verlassen und mittels anderer literarischer Verfahren die Welt jenseits des gewöhnlichen Subjekt-Objekt-Paradigmas zu erleben? Laut dem Philosophen Hans Heinz Holz ist »der eigentliche Sinn von ›spekulativ‹ und ›Spekulation‹ in philosophischer Terminologie« die »Reflexion der Reflexion«, der »Begriff des Begriffs«.[1] Die Genitivkonstruktion dieser Aussage zeigt das Paradox der spekulativen Philosophie: Alles, was sie sagt, handelt von ihr selbst. Die Fiktion kann als ästhetisches Verfahren die Illusion erzeugen, dass ein literarischer Text von etwas anderem handle als von gewöhnlichem menschlichem Narzissmus. Die Fiktion dürfte aber nicht die einzige literarisch-ästhetische Kategorie sein, die in einer nicht-anthropozentrischen Literaturwissenschaft ins Spiel kommen kann.

Auch wenn es, wie im dritten Teil des Bandes, um die zeitliche Dimension des Ästhetisch-Spekulativen geht, zeigt sich der Bedarf eines Weiterdenkens über die Kategorien einer nicht-anthropozentrischen Literaturwissenschaft. Aus germanistischer Sicht wünschte man sich in diesem Teil an mehreren Stellen einen näheren Blick auf die Theoriegeschichte. Man fragt sich zum Beispiel, wie weit Susanne Witzgalls Begriffe »gegenwärtige Zukunft« und »zukünftige Gegenwart« (S. 199) von Walter Benjamins »Jetztzeit« entfernt sind? Und wenn Ludger Schwarte proklamiert: »Kunst ist nicht, sondern wird« (S. 181), und sich zur Aufgabe macht, die Bedeutung von »zu kunsten« und »das Werden der Kunst« zu erklären, dann kommt ein wenig das Gefühl auf, solche Gedanken schon anderswo gelesen zu haben, zum Beispiel bei Ernst Bloch. Dabei ist interessant, dass Monika Rinck mit der Ortsangabe »Ludwigshafen, am 16.03.2018« am Ende ihres Gedichts womöglich auch einen Bezug zu Bloch versteckt hat. Ludwigshafen war die Heimatstadt Ernst Blochs, und Bloch sah seine Philosophie als geistiges Ergebnis einer Jugend, die er zwischen Mannheims Kulturgütern auf der einen Seite und Ludwigshafens Industriekultur auf der anderen Seite des Rheins verbrachte.[2] Solche literatur- und philosophiegeschichtlichen Verbindungen zwischen dem ästhetisch-spekulativen Vokabular und Theorien der Moderne bleiben nach Das Ästhetisch-Spekulative noch zu ziehen. Daran könnte man – spekulativ – den Verdacht knüpfen, dass wir angeblich postmoderne Menschen seit der Moderne gar nicht viel weiter gekommen sind. Ob es sich beim Ästhetisch-Spekulativen und beim spekulativen Realismus möglicherweise schlicht um theoretische Modephänomene handelt?

Wie auch immer, die Mode ist die Vergangenheit in spe, und mit Bloch gesagt ist der Mensch – und fügen wir hier hinzu: seine Wissenschaften – stets im Werden.

Troels Thorborg Andersen studierte Germanistik und Philosophie in Kopenhagen. Seit 2019 ist er DAAD-Stipendiat an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien in Berlin. Er promoviert mit einem Projekt zur ›Utopie der Gegenwart bei Ernst Bloch und Rainald Goetz


[1] Hans Heinz Holz: Wiederspiegelung. Bielefeld: transcript Verlag 2003, S. 72.

[2] Vgl. Ernst Bloch: »Ludwigshafen-Mannheim« (1928), in: Verfremdungen II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1964, S. 13-17.

© Titelbild (aus Kubricks »2001: A Space Odyssey«): wikimedia commons