Im Rahmen des Workshops “Language – Gender – Transmigration” konnten Studierende und Forschende mit der Schriftstellerin Itō Hiromi in Kontakt treten und ihr Werk durch sie und ihren Übersetzer Jeffrey Angles erleben.
Ein Bericht von Christopher Scholz
Schreibende zu ihrem Schreiben zu befragen, das kann zuweilen ein zweischneidiges Schwert sein. Insbesondere, wenn Autor_innen es nicht gewohnt sind, über ihre Werke in universitären Kontexten Auskunft zu geben, mögen Antworten auf eigene Interpretationen oder nach einem tieferen Sinn der Texte unbefriedigend ausfallen. Manchmal zeigen sich die Befragten trotz einer Einladung sogar völlig unwillig, dabei behilflich zu sein, ihre Literatur zu ergründen. Auf der anderen Seite ist die Gelegenheit, eine Autorin, mit deren Texten man sich in einem Seminar oder der eigenen Forschung befasst, einmal wirklich kennenzulernen und sich mit ihr auszutauschen, sowohl für Studierende als auch für Forschende verlockend.
Glücklicherweise ist die japanische Schriftstellerin Itō Hiromi (伊藤比呂美, *1955) nicht nur bereit, über ihr Leben und Schreiben Auskunft zu geben, sie ist darüber hinaus ein stets anregender und erfrischend unkonventioneller Gast auf Tagungen und Veranstaltungen. Ihre Lesungen sind eindrückliche Performances, in denen sie ihrem Ruf als „Schamanin der Poesie“ gerecht wird. Aus diesem Grund war der englischsprachige Workshop „Language – Gender – Transmigration“, den die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit am 1. Februar 2019 gemeinsam mit den Studierenden aus ihrem M.A.-Seminar zum Schaffen Itōs an der FU Berlin veranstaltete und dazu die Autorin selbst sowie Jeffrey Angles, ihren Übersetzer ins Englische, einlud, für die Teilnehmenden ein außerordentliches Erlebnis.
Itō Hiromi gilt als eine der bekanntesten und erfolgreichsten japanischen Lyrikerinnen und Essayistinnen. Seit den 1970er-Jahren veröffentlicht sie mit Preisen ausgezeichnete Gedichte, in denen sie sich in für diese Zeit ungewohnter Direktheit mit dem weiblichen Körper, Sexualität und Mutterschaft auseinandersetzt und dabei die Sprache selbst wie auch das eigene Leben kunstvoll und schonungslos seziert. Über die Aufmerksamkeit, die sie für die Behandlung von in der japanischen Öffentlichkeit tabuisierten Themen erhielt, gelangte sie dazu, Essays und Ratgeber für japanische Frauen zu verfassen. Sie konnte sie so über die Dinge informieren, über die sie sonst mit niemandem sprechen konnten. Seit ihrem Umzug in die USA verfasst Itō auch Prosawerke, in denen neben der Migrationserfahrung die Mehrsprachigkeit und Probleme in der zwischenmenschlichen Verständigung eine zentrale Rolle spielen. Im Mittelpunkt steht dabei nach wie vor die Sprache, die Itō unaufhörlich dekonstruiert, bricht, wieder zusammenfügt und mit neuen Bedeutungen auflädt.
Jeffrey Angles, Itōs Übersetzer, ist nicht nur ein enger Freund der Autorin, sondern auch Professor für japanische Literatur. Er verfasst seinerseits ebenfalls japanischsprachige Lyrik, für die er 2017 als erster Nicht-Japaner mit dem prestigeträchtigen Yomiuri-Preis ausgezeichnet wurde.
Der Workshop mit dem Titel „Language – Gender – Transmigration“, der die drei wichtigsten Felder in Itōs Werk zu fassen versuchte, war inhaltlich zweigeteilt: Während in der ersten Hälfte Expert_innen Einblicke in das Schaffen der Autorin gaben, hatten die Studierenden des Seminars im zweiten Teil der Veranstaltung die Gelegenheit, der Schriftstellerin ihre eigenen Interpretationen zu präsentieren und ihr zusammen mit den anderen Teilnehmenden Fragen zu stellen.
In einem ersten Vortrag ging Hiraishi Noriko, Associate Professor an der japanischen Universität Tsukuba, auf die Vorreiterrolle ein, die Itō Hiromi in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper und Sexualität in Japan einnimmt. Mit Verweisen auf verschiedene Genres und Kunstformen, wie zum Beispiel den shōjo manga (Comics, deren primäre Zielgruppe heranwachsende Mädchen sind), in denen vor allem in den 1970er- und 80er-Jahren weibliche Sexualität und Verlangen ausschließlich romantisch verklärt und losgelöst von realistischer Körperlichkeit dargestellt wurden, zeigte sie, wie die Lyrikerin mit den von männlichen Phantasien geprägten Darstellungen weiblicher Sexualität brach und diesen eine eigene, nüchterne Perspektive entgegensetzte. Sie trat damit eine Welle japanischer Lyrik von Frauen los, die sich gegen den Absolutheitsanspruch männlicher Lyrik und ihrer Sicht auf Frauen positionierte. Dass dieses Streben gegen einen patriarchalischen Herrschaftsanspruch über die gesellschaftliche Rolle von Frauen in Japan nach wie vor relevant ist, demonstrierte Hiraishi anhand popkultureller Inszenierungen aufopferungsvoller Mutterschaft, die sich mit den neokonservativen Bewegungen in der japanischen Politik seit den frühen 2000er-Jahren wieder vermehrt in Film, Musik und Fernsehen finden lassen. Bei der Rezitation von Itōs Gedichten bestand die Schriftstellerin darauf, diese selbst zu lesen und bewies ein erstes Mal, welche Wirkung ihre Lyrik in einem mündlichen Vortrag entfaltet.
Niels Bader beleuchtete in seinem Vortrag Itōs 2010 veröffentlichte Übersetzung und Interpretation des „Herz-Sutras“ (Yomitoki han’nya shingyō), einer der zentralen Lehrreden des Mahayana-Buddhismus. In persönlichen Reflexionen und einer zeitgenössischen Übersetzung bekannter buddhistischer Texte in ein modernes Japanisch versucht die Autorin, diesen poetischen Monolog für sich zu erschließen und ihn auf das eigene Leben zu übertragen. Itō gewährte dazu Einblicke in die Mechanismen des japanischen Buchmarktes: So war es ihr nicht möglich, ihr Buch trotz der Einbettung in eine Erzählung und einen zeitlichen Verlauf als Roman zu veröffentlichen, da die Verleger aufgrund ihrer Bekanntheit als Essayistin auf der Bezeichnung des Werkes als Essay bestanden, um die Verkäuflichkeit zu erhöhen.
Einen tiefen Einblick in die Sprachspiele und sprachlichen Eigenheiten im Schreiben Itōs gab schließlich Jeffrey Angles, der über seine Übersetzungen ihrer Werke ins Englische berichtete und in einer gemeinsamen Lesung von Texten mit Itō ein synchrones Erleben von Original und Übersetzung ermöglichte. Er zeigte, dass die Forderung von „Faithfulness“ (Werktreue) gegenüber dem Original für die Übertragung von Itōs Literatur kein produktiver Begriff ist, da ihre ständigen Dekonstruktionen von Wörtern, die Loslösung einzelner Zeichen und Silben und die damit einhergehenden Sinnverschiebungen kreative Lösungen erfordern, die sich nicht immer penibel am Inhalt des Originals orientieren können, wenn diese zusätzliche Bedeutungsebene vermittelt werden soll.
Angles begreift Itōs Schreiben als eine „Positionierung der Poetin gegen die Sprache“ („positioning herself against language“) und hob besonders Momente hervor, in denen die Sprache vorhersehbare Strukturen verlässt und so die psychologischen Prozesse der Erzählstimme offenbart. Über die Stimmen von Pflanzen in Itōs Langgedicht Kawara arekusa (2005, Wildes Gras am Flussufer), die die Grenzen zwischen belebten und unbelebten Dingen aufbrechen und als Metapher für Migration dienen, veranschaulichte Angles, wie charakteristische Elemente (zum Beispiel Wiederholungen, Brüche und der Verlust von Linearität) ins Englische übertragen werden können. Diese sprachlich vermittelten Anzeichen für Traumata, die im Text immer wieder auftauchen, und ihre doppelten Bedeutungen lassen sich so auch in der Zweitsprache erfahrbar machen.
Bei der Lesung ihres Gedichtes imi no gyakutai (The Maltreatment of Meaning), einer Reflexion über die eigene Sprache und Bedeutung, inszenierten Angles und Itō den Monolog im Gedicht auf Japanisch und Englisch als Streitgespräch zwischen zwei Sprachen, lasen abwechselnd, gleichzeitig, übereinander, lasen zueinander und gegeneinander und führten so die Unmöglichkeit der Kommunikation im Gedicht als gescheiterte Kommunikation zwischen zwei Sprachen auf, die aufeinandertreffen und nicht zusammenfinden. In der englischen Übersetzung des Gedichts heißt es: „language is nothing more than raw material (kotoba wa tada no sozai da) […] / Rip off meaning (imi o hagasu) / Sound remains (oto ga nokoru)“ – diese Behandlung von Sprache im Gedicht vermittelte sich durch die gemeinsame Rezitation auf einer zweiten sprachlichen Ebene.
Im zweiten Teil des Tages konnten mit Yvonne Kröll, Sven Schelhas und Marina Staack drei Teilnehmende des M.A.-Seminars der Autorin in Kurzreferaten ihre eigenen Gedanken zu einzelnen Texten präsentieren und sie dazu befragen. Dies führte mit weiteren Lesungen und einem kurzen Vortrag Itōs zu Reflexionen über ihre derzeitige Tätigkeit als Gastdozentin an der Waseda-Universität in Tokio, über ihr Schreiben, ihre Migrationserfahrung und ihr Verhältnis zu den Sprachen, in denen sie sich bewegt. Auch wenn hier die Antworten der Autorin auf die Fragen der Studierenden nicht immer die eigene Interpretation bestätigten oder nicht so auf die behandelten Textstellen eingingen, wie sie es sich möglicherweise wünschten, so war es doch gerade dieser Abschnitt des Workshops, der die größte Nähe zu der Schriftstellerin herstellte.
Es ist schwierig, nicht von Itō Hiromi begeistert zu sein, wenn sie unbeschwert von der Wiederentdeckung der eigenen Sprache in der Emigration über frei zugängliche Klassiker in der Online-Bibliothek Aozora Bunko, der Rückkehr nach Japan oder über ihr Verhältnis zu den Studierenden an der japanischen Universität spricht. Ihre Bereitschaft, mit ihnen über geschlechtsbezogene Themen zu sprechen („My whole life is a gender study!“), ihre jahrelange Erfahrung in der Beantwortung der Fragen von hilfesuchenden Leserinnen und nun die Betreuung von jungen Lernenden, die sie und ihre Werke gar nicht kennen, sowie der Versuch, ihre Probleme gemeinsam mit ihnen zu lösen, zeigen eine Schriftstellerin, die stets am Austausch mit anderen interessiert ist und die nach eigener Aussage dadurch das Gefühl hat, tausende Leben mitgelebt zu haben. Als Dozentin fühle sie sich nicht mehr wie ein Säugetier, sondern wie ein Fisch, der 400 Eier legt und trotzdem versucht, die zahlreichen Kinder zu nähren und großzuziehen.
Während Itō sich noch vor einigen Jahren gelangweilt von der aktuellen japanischen Literatur zeigte und sich hauptsächlich dem Buddhismus sowie japanischen Klassikern zuwandte, scheint sie mit ihrer Rückkehr nach Japan auch wieder ein Interesse an neuen Themen und Formen gefunden zu haben. So plant sie z.B. nach eigener Aussage ein Libretto über die Seppuku-Fälle in Japan nach der Öffnung des Landes zum Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Faszination für klassische Autoren wie Mori Ōgai, Kōda Rohan oder Dazai Osamu und morbide Themen („I used to be interested in sex, now I am mostly interested in death“) hat sie dabei jedoch keineswegs abgelegt. In welcher Gattung oder Sprache sie sich auch bewegt, als Schriftstellerin bleibt Itō Hiromi stets innovativ und fesselnd. Wie die Begegnung mit Schreibenden in der Universität funktionieren kann, hat der Workshop „Language – Gender – Transmigration“ damit erfolgreich bewiesen.
Christopher Scholz studierte Japanologie, Neuere Deutsche Philologie und Philosophie in Berlin und Tokio und promoviert an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien zu Repräsentationen des Körpers in der Gegenwartsliteratur japanischer Autorinnen.