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Das Oxford Dictionary hat am 16. November 2016 den Neologismus „post-truth“ zum internationalen Wort des Jahres 2016 bestimmt.

von Simon Godart

Der Begriff „post-truth“, der sich nicht ganz maßstabsgetreu als „postfaktisch“ ins Deutsche übersetzt, ist ein Adjektiv zur Beschreibung von Diskursformationen oder politischen Haltungen, in denen Fakten oder anerkannte Überzeugungen nicht zur Basis der Argumentation genommen werden. Oder nicht mehr, müsste man sagen; der Begriff hat vor allem zeitdiagnostischen Wert und geht mit der Behauptung einher, dass das Jahr des Post-Faktischen insbesondere wegen des viel diskutierten Präsidentschafts-Wahlkampfes in den USA eine neue Debattenkultur eingeläutet habe. Mit gleichbleibender Begründung und Hervorhebung der steigenden Popularität des Adjektivs zog nun die Gesellschaft für Deutsche Sprache einen knappen Monat später (am 9. Dezember) nach und wählte diese „Lehnübertragung“ auch zum deutschen Wort des Jahres. 

Ob es nun Donald Trumps Selbstwidersprüche und Falschdarstellungen sind, ob man an die Brexit-Debatten und ihre Rechenbeispiele denkt, oder ob es um die Lügenpresse-Kritik deutscher Nationalisten oder die BRD-ungläubigen Reichsbürger geht; auch wenn die Rede von einem „postfaktischen Zeitalter“ vielleicht ein wenig vollmundig, in jedem Fall aber sehr verfrüht scheint, ist das Adjektiv ein dankbares Instrument, um Verhaltensweisen zu bezeichnen, die einer beispielsweise akademischen Wahrheits- oder Faktenkonzeption zuwiderlaufen. Wo ein Konsens geteilter Ansichten nicht mehr benötigt wird, wo die Meinung von Expert_innen nur mehr eine unter vielen ist, wo schließlich wahre Überzeugungen nicht oder nicht mehr anhand objektiver Standards, sondern nach Stimmungen und anhand von Ressentiments begründet werden, ist man, so scheint es, im ungebundenen Relativismus der Meinungen angekommen, jenseits des Unterschieds von Wahrheit und Lüge. Noch diffuser, und den Worterläuterungen folgend, noch post-faktischer, wird es da, wo eine Absage an die Tatsachen mit der Hervorhebung der Gefühle einhergeht, die politischen Subjekten zugesprochen werden. Wenn man beispielsweise davon spricht, die Ängste der Bevölkerung ernst zu nehmen, stimmt dies dort in den Kanon des Postfaktischen ein, wo dieser Ernst den Umstand, dass es sich eben um schlecht begründbare Ängste handelt, stillschweigend übergehen will.

Dass die Kritik des Populismus zur Politik gehört wie die Infragestellung der tradierten Überzeugungen zum wissenschaftlichen Denken oder die Abwertung der Rhetorik zur Philosophie, braucht hier nur am Rande erwähnt zu werden. Jason Stanely hat in der New York Times hervorgehoben, dass schon in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ derselbe Umstand beklagt wird: unter dem Einfluss von Populismus gilt nicht dasjenige als wahr, was sich objektiv einstellt, beispielsweise (dies ist Arendts Beispiel) die eigene Erfahrung oder die sinnliche Wahrnehmung. Der „autoritäre Populist“ bezieht sich nicht auf Fakten, er spricht mit dem Anspruch, sie zu erschaffen. Ich teile Stanleys Ansicht, dass diese Diskursform durch ihre Geschlossenheit und Einfachheit besticht und so diejenigen in ihren Bann schlägt, deren je schon bestehende Ressentiments mit dem offerierten Bild einer Wirklichkeit ineinandergreifen.

Stanley, der das Wort des Jahres in seinem Artikel nicht verwendet, geht dabei stärker auf die Figur des Populisten ein als auf die gesamt-gesellschaftliche Stimmung, die nun mit post-faktisch eine Beschreibung erfahren soll. Das OED trägt dieser weiten Bedeutung Rechnung, indem es in seiner Definition von den Mechanismen des Wahlkampfes abstrahiert und ganz allgemein schreibt:

Posttruth: Relating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief.

Überall dort, wo die öffentliche Meinung sich resistent gegenüber „objektiven Fakten“ zeigt, kann man also von einem postfaktischen Zustand sprechen. Die Definition ist sehr offen gehalten, das Wörterbuch gibt zwei Verwendungsbeispiele an, die illustrieren, dass mit „Circumstances“ wahrscheinlich in den meisten Fällen allgemeine Zeitabschnitte gemeint seien (Era, Age). Auch die vielfach aufgeführte Verwendung in Ralph Keyes Monographie „The post-truth era: dishonesty and deception in contemporary life“ (2004) deutet schon darauf hin, dass das Präfix „post“ (anstelle eines „kontra“ oder „anti“, wie auch Jochen Bär von der GfDS erklärt) einen historiographischen Anspruch transportieren soll. In der Erklärung zur Kür des Wortes des Jahres 2016 nimmt Casper Grathwohl dementsprechend auch post festum deutlichen Bezug auf die jüngsten politischen Entwicklungen (hier: Brexit und Trump) und macht deutlich, er sei nicht überrascht, wenn post-truth eines der entscheidenden Worte unserer Zeit werde („[…]I wouldn’t be surprised if post-truth becomes one of the defining words of our time.“).

Aber die angenommene diagnostische Kraft und die faktische Häufung der Verwendung des Begriffes (bezifferbar mit einer Steigerung um 2000 % im Vergleich zu 2015, wie Grathwohl angibt) sind nicht allein verantwortlich für die Auszeichnung. Das Wort, das in der Lage sein soll, den Zeitgeist zu kommentieren („choosing one [word] that captures the ethos, mood, or preoccupations of that particular year“) wird vom OED zugleich eine kritisch-distanzierende Kraft beigemessen. In der Diagnose liegt zugleich die Kraft, Missentwicklungen anzuzeigen und sich ihnen entgegenzustellen. Das Wörterbuch als akademische Institution wird geradezu selbstverständlich einem solchen Zeitgeist widersprechen. Als führendes Wörterbuch für akademische Forschung in der Englischen Sprache (so die Selbstbeschreibung) muss ihm der Anbruch eines Zeitalters, das sich von den Erkenntnissen bspw. der Forschung lossagt, Sorge bereiten. Die Enzyklopädie schreibt an gegen einen medien- und institutionskritischen Relativismus, der die objektiven Fakten hinter sich zurücklassen will.

So verstanden, stellt das OED mit seinen Publikationen und auch mit seinen vielfältigen digitalen Aufbereitungen von gängigen Wortbedeutungen, Etymologien und Begriffsgeschichten ein Gegengewicht zu den postfaktischen Tendenzen dar. Letztere, so heißt es in Grathwohls Erklärung, aber auch überall sonst, wo vom Postfaktischen die Rede ist, sind an die mediale Verfügbarkeit von unterschiedlichsten Quellen insbesondere in den Timelines der sozialen Netzwerke gebunden. Postfaktische Des- und Fehlinformationen sind geteilte Beiträge in den sozialen Medien, die – anders als beispielsweise ein traditionsreiches Wörterbuch – ohne zentrale Redaktion und ohne Peer-Review eine Fülle von Inhalten enthalten, die unterschiedlichsten Interessen folgen. Die Unterscheidung zwischen verlässlichen und betrügerischen Quellen, zwischen Fakten und Fake News, fällt dabei oft schwer, und die Polyphonie der Beiträge macht eine eingehende Prüfung aller sichtbaren Inhalte unmöglich. Die sog. „Echo-Chambers“, die auf Facebook, Twitter etc. entstehen, beinhalten dabei unterschiedlichste Varianten derjenigen Medien, die den eigenen Standpunkt bekräftigen – unabhängig davon, ob diese Inhalte nun den Tatsachen entsprechen oder nicht.

Mit Fokus auf diese mediale Bedingung des postfaktischen Zeitalters scheinen die Kritiker_innen in der Rückbesinnung auf die Fakten auch einen allgemeinen Kanon wieder einzufordern, der das verfügbare und allgemein anerkannte Wissen beinhaltet. Gerade enzyklopädische Projekte wie das OED sind als Teil eines solchen Bezugssystems zu verstehen, dem es darum geht, einen notwendigen Minimalkonsens für die demokratische Debatte bereitzustellen. Die übersichtliche und allgemeine Definition des „post-truth“ im OED trägt dabei zu eben diese Debatte bei, lässt allerdings viele Fragen offen.

Ein anderes enzyklopädisches Projekt widmet sich dem Neologismus in größerer Rahmung: die deutsche Version des kollektiv verfassten Online-Lexikons Wikipedia führt seit dem 19. September einen Artikel „Postfaktische Politik“. Erstellt hat ihn der mittlerweile und bis auf Weiteres gesperrte User Macabu, indem er auf einen Beitrag in der NZZ verwies und die Gemeinschaft bei Wikipedia dazu aufforderte, sich am Verfassen eines betreffenden Artikels zu beteiligen. (Macabu wurde für die Beteiligung an einem sog. „Edit-War“ gesperrt, also dem wiederholten wechselseitigen Rückgängig-Machen von Änderungen an Artikeln zwischen zwei oder mehreren Usern). Wikipedia ist kein reines Sprachwörterbuch, so erklärt ein anderer Nutzer („Wikipedia ist nicht der Duden“, ebd.), weshalb der Eintrag über die einfache Begriffsbestimmung hinausgehen muss (diese wird, in noch komprimierterer Form als im OED, im Wiktionary bereitgestellt). Im Beitrag zur postfaktischen Politik nun wird also eher das Konzept vorgestellt, wird der Versuch unternommen, festzuhalten, welche Formen des politischen Diskurses korrekterweise mit „postfaktisch“ beschrieben werden.

Wikipedia, das sich der Bereitstellung von freiem Wissen für alle verschrieben hat, stellt im Vergleich zum OED einen interessanten Kreuzungspunkt dar, handelt es sich doch zugleich um ein enzyklopädisches Projekt, das alles verfügbare Wissen (oder die Wahrheit, oder die Fakten) beinhalten soll, und um ein Netzwerk, eine mediale Gemeinschaft, deren anonyme Mitglieder sich auf der Plattform austauschen, Artikel erstellen, redigieren, evaluieren und diskutieren. Wie bei anderen enzyklopädischen Projekten entsteht das Werk als Ganzes im Kollektiv – anders wäre die umfassende Aufgabe der Zusammenstellung allen möglichen Wissens nicht zu leisten. Peter Burke hat die Kontinuität des Kollektiven in enzyklopädischen Projekten von Diderots Dictionnaire bis zur Wikipedia hingewiesen und dabei den vor allem quantitativen Unterschied hervorgehoben: Waren in den 1750ern noch 140 Autor_innen an der Verfertigung des Dictionnaire beteiligt, unter der zentralisierten Herausgabe Diderots wohlgemerkt, und wirkten bei der 1881er Ausgabe des OED 750 Freiwillige mit, schreiben 2014 200.000 Nutzer_innen gemeinsam an der Wikipedia. Der redaktionelle Anteil an der Betreuung der einzelnen Artikel allerdings greift bei Wikipedia wesentlich früher: die Kooperation geht soweit, dass die Autorschaft der einzelnen Artikel vollständig geteilt wird, ja selbst – wie im Falle der „Postfaktischen Politik“ – die Bestimmung dessen, was ein Artikel zu sein habe (anhand des sog. Relevanzkriteriums), geht auf das Kollektiv zurück.

Unter dem jeweiligen Schlagwort wird dann mit der ersten Eintragung die Diskussion eröffnet, die, je nach Bearbeitungsgrad und Expertise der beteiligten Autor_innen, Formulierungen verbessert, Quellen einklagt, Darstellungsweisen überdenkt oder auch ex post erneut die Rechtfertigung des Artikels selbst infrage stellt. Die Plattform sieht sich dabei größtmöglicher Transparenz verpflichtet, und alle zum Gegenstand gehörigen Beiträge sind für die Nutzer einsehbar. Damit entsteht immer ein zweifacher Text; die bereinigte und allgemeine Version auf der Oberfläche, die entsprechend der Agenda objektiv, unpersönlich und distanziert Wissen verfügbar macht, und die darunterliegende Geschichte der Genese dieses Wissens, das von den User_innen zusammengetragen und diskutiert wurde.

Der Unterschied zwischen beiden Textformen, zwischen denen man durch eine Schaltfläche wechseln kann, könnte größer kaum sein; während der tatsächliche Eintrag so allgemein und neutral wie möglich gehalten wird, herrscht auf der darunterliegenden Ebene eine energische Auseinandersetzung, in der die anonymisierten Nutzer, die am Artikel beteiligt sind, ihre widerstreitenden Ansichten gegeneinanderstellen. Entgegen den egalitären Prinzipien, die die Wikipedia auszeichnen, muss ein System von Überprüfungen und redaktionellen Eingriffen die Diskussion überwachen. Auch wenn jede_r User_in nach Registrierung an einem Artikel mitschreiben kann, sind letzten Endes einige wenige repräsentative Nutzer_innen für die Endabnahme und Freistellung der Artikel verantwortlich. Wie umfangreich diese Eingriffe und -fügung für neue User_innen sein kann, hat bspw. der Theorieblog anhand eigener Erfahrungen veröffentlicht.

Wie in allen anonymen Online-Foren herrscht auch hier kein harmonischer Ton. Das Kollektiv, das sich für jeden Text neu formiert, reagiert mit aggressiver Polemik auf die Beiträge einzelner Mitglieder, und die Hervorbringung des endgültigen Textes ist das Ergebnis einer langen und intensiven Debatte. Abgesehen davon, dass diese Kollektive beispielsweise für die deutsche Version nicht besonders divers organisiert sind – die überwiegende Mehrheit der Autor_innen ist, wie Rachel McCarthy James für die englische Wikipedia angibt und soweit man das trotz der intensiven Wahrung der Anonymität sagen kann, männlich – versucht die Dachorganisation der Enzyklopädie immer wieder, den rauen und angreifenden Tonfall der Diskussionen abzuschwächen. In den vielgestaltigen Richtlinien für Autor_innen wird nicht nur ein Prinzip guter Absichten angemahnt, sondern auch ein neutraler und sachlicher Ton für die Diskussionen eingefordert.

Aber nicht nur der Tonfall unterscheidet Artikel und Diskussion. In der transparent gemachten Redaktionsdebatte kann nachvollzogen werden, wie das Wissen beispielsweise um die „postfaktische Politik“ selbst verhandelt wird. Erste Definitionsansätze werden bald durch eingängigere ausgetauscht, die Quellen, die in den Artikel einbezogen werden, häufen sich, und aus einer dreizeiligen Wortnennung erwächst ein ganzes Diskursfeld. Es widerspricht nicht dem enzyklopädischen Zugriff auf Wissensgegenstände, die eigene Darstellung dabei an anderen Wörterbüchern wie z.B. auch dem OED zu orientieren; zugleich wird die allgemeine Worterklärung flankiert von aktuellen Debatten und politischen Positionen, die im Sinne der Neutralität lediglich referiert werden. Auch in den Diskussionen wird vornehmlich technisch argumentiert; die Überzeugungen der Autor_innen treten nach und nach zurück hinter eine Durchsicht möglicher Referenzen und der Darstellung dessen, was unter dem Schlagwort verhandelt wird.

Die über einen Reiterwechsel erzeugbare Transparenz dieser Debatte stellt den Prozesscharakter des Artikels aus. Aus der Version von Macabu am 21. September ist innerhalb eines Monats mit dem letzten Stand am 21. November (unter Federführung des Nutzers Anton Sevarius) ein völlig neuer Text entstanden, der keine der Formulierungen der älteren Versionen beibehalten hat. Die Hinzuziehung unterschiedlicher Wortverwendungen hat die Definition und Phänomenbeschreibung sichtlich verändert, und entgegen der ersten Version ist die Erklärung nun deutlich allgemeiner als noch zuvor.

Dabei wird auch hier deutlich, dass trotz der Optimierung der Prozess nicht abgeschlossen ist. Weitere Änderungen werden erfolgen, allein schon, um die vom OED angestoßene und von der GfDS aufgegriffene Debatte um den Begriff abzubilden. Das Erstaunliche daran, dass hier eine Enzyklopädie in nahezu Echtzeit Diskursprozesse abbilden will und die technischen Möglichkeiten dazu hat, zeigt die Kraft, die aus dem technischen Dispositiv in die Textform eingreift und ihre Inhalte mitgestaltet („Wiki“ kommt aus dem Hawaiianischen und heißt so viel wie „schnell“). Waren Enzyklopädien immer schon das Ergebnis kollektiven Arbeitens und Teil einer republique de lettres, so ist die Beschleunigung im digitalen Wörterbuch keine rein quantitative Veränderung des enzyklopädischen Anspruchs. Die Offenheit der Gestaltung und der Debatte ist nicht nur eine demokratische Öffnung des Textes hin zu potentiellen Autor_innen; der Text als solcher bleibt offen, weil veränderbar, und behält seinen prozessualen Charakter bei. Was als Frage nach dem Postfaktischen begann, wird zum Kristallisationspunkt unterschiedlicher Standpunkte zur Thematik und entwickelt sich zur Definition und Phänomenbeschreibung, bleibt dabei aber Revisionen und Veränderungen gegenüber offen. Sobald die Community mehrheitlich Änderungen vorschlägt oder akzeptiert, wird sich der Eintrag dem letzten Stand der Diskussion anpassen. Wissen für alle ist so zugleich Wissen unter Vorbehalt.

Man kann, wie der Artikel „Postfaktisches Wissen“ selbst es tut, hier die „Ideale der Aufklärung“ wiedererkennen. Das Projekt verschreibt sich in seiner demokratischen Charta der Offenheit und der Aushandlung, an der sich jede_r beteiligen kann, der_die bereit ist, den Benimm- und Belegregeln der Gemeinschaft zu folgen. Während jede der entstandenen Versionen des Artikels im digitalen Gedächtnis der Redaktionsgeschichte abrufbar gehalten wird, lässt sich – wenngleich mit etwas Mühe – der Artikel als vorläufiger Endpunkt dieses Prozesses verstehen, zu dessen (bis auf weiteres gültigen) Gelingen sie alle auf ihre Art beigetragen haben. Wissen für alle, das auch Wissen von allen sein kann oder sein soll, steht nicht für sich, sondern ist Gegenstand einer kontinuierlichen Hervorbringung und Optimierung.

Wenn wir nun in postfaktischen Zeiten leben, stellt sich die Frage, wie ein solches prozessuales Wissen für alle sich zu der diagnostizierten Abkehr von der Wahrheit verhält. Spiegelt die Idee einer kontinuierlich zu verbessernden Kollektiv-Enzyklopädie nicht etwas wider vom Verhältnis zu den Fakten, zum Wissen und zur Wahrheit?

Man könnte in der Diskussion zum Artikel „Postfaktischen“ eine gewisse autoreferentielle Qualität erkennen, wie Nutzer Neudabei es in der Diskussion auch bald tut:

Ich finde auch, dass wir auch in der WP oft einen postfaktischen Diskurs fahren. Wer kritisiert wird, beißt zurück – ohne sich ums Argument zu kümmern. […] Wir haben einfach keine Datengrundlage um zu beschreiben, dass wir in postfaktischen Zeiten leben. Dennoch finde ich, dass der Artikel Potenzial hat und an anderer Stelle überabeitet werden sollte. [25.09.2016]

Die Enzyklopädie selbst kann nicht von sich behaupten, dass in ihr nur das Argument zähle, dass es nur um die objektiven Fakten und die Wahrheit gehe. Oder genauer, dass es unter der bereinigten Oberfläche des Textes eben auch Raum gibt für dasjenige, was sich mit der Kritik am postfaktischen Diskurs identifizieren lassen soll. Dem Einwurf Neudabeis folgen bald eben diejenigen Stimmen, die hier und andernorts als Belege für ein neues postfaktisches Klima angeführt werden – in der Diskussion schlägt ein anonymer User vor, die Darstellungen der „Lügenpresse“ zur Kriminalität von Migranten (17. Nov. 2016) als einschlägiges Beispiel postfaktischer Diskurse zu verwenden, während ein anderer Nutzer (am 20. Nov. 2016) den Artikel als Ganzen disqualifiziert sieht, weil dieser selbst postfaktisch durchsetzt sei, wenn aufgeführt wird, die Anschläge vom 11. Sept. 2001 seien islamistische Taten gewesen. Die Diskutant_innen und Autor_innen gehen gegen diese Ansichten vor, und die mehr als fragwürdigen Thesen finden keinen Einzug in den Artikel, wenngleich die Beiträge in der obligatorischen zweiten Textebene erhalten bleiben. Es ist gerade diese Selbstverpflichtung zur Transparenz und Offenheit, die dafür sorgt, dass die Wikipedia auch Verschwörungstheorien, tendenziöse Ansichten, politisch motivierte Behauptungen und Halbwahrheiten in sich aufnehmen muss. Indem sie die Genese des Artikels in dessen Hintergrund aufbewahrt, bleiben diese Beiträge bestehen, (wenngleich auch nicht oder nicht in jedem Fall unwidersprochen) und lassen so sehen, dass die Fakten, dass das Wissen für alle eben kein unbestrittenes und unbestreitbares Wissen darstellt. Dieser Streit unter der Oberfläche ist keine reine Wortklauberei; es geht hier nicht nur um die richtige Erklärung eines Begriffs, einer Tatsache, eines Konzeptes, sondern immer auch um die Deutungshoheit.

Dass es uns, wie neudabei beklagt, an einer ausreichenden Datengrundlage mangele, um die Ära des Postfaktischen auszurufen, zeugt deutlich vom vereinfachenden Potential der preisgekürten Redewendung. Handelt es sich doch bei der Rede vom Postfaktischen selbst um ein diffuses Gefühl, das seinen Wahrheitsanspruch aus einer allgemein wahrgenommenen Tendenz ableiten will und dem es dabei selbst an einer belastbaren faktischen Grundlage mangelt. Noch zu Beginn der Diskussion über den Artikel, begegnete der Ersteller macabu Einsprüchen, die die Rede von der postfaktischen Politik für unhaltbar und daher irrelevant hielten, seinerseits quantitativ: „Dem Löschen steht eindeutig die Abrufstatistik entgegen.“ (macabu, 25.09.2016). Wir können neudabeis Stick to the Facts kaum widersprechen, selbstverständlich. Aber so sympathisch und wertvoll die Ideale einer unpersönlichen und sich stetig vervollkommnenden Diskussion im Dienste der Wahrheit auch sein mögen – reichen sie aus, sich auf Objektivität und Faktenglauben einzuschwören, um den zweifelsohne bedenklichen Tendenzen des öffentlichen und insbesondere politischen Diskurses etwas entgegenzuhalten? Ist denn das Problem, das man im erstarkenden (insb.) Rechts-Populismus in westlichen Staaten erkennen kann, ausschließlich ein zu lässiger Umgang mit den Fakten?

In ganz ähnlichem Sinn hat auch Benjamin Schlodder eingeklagt, dass die Gegenüberstellung von verfügbaren und allgemein geteilten Fakten einerseits und diffusen und gefährlichen Gefühlen andererseits nostalgisch eine ideale Ausgangslage herbeiredet, die so nie gegeben war. Wenn es gerade eine Tendenz gibt, seine politischen Überzeugungen unabhängig von den etablierten Fakten und Ansichten zu vertreten, fordert uns das weit eher zur Kritik unserer Wahrheitsansprüche und -konzepte auf als dazu, an diesen entgegen ihrer Wirkungslosigkeit nostalgisch festhalten zu wollen. Sicher sind die Fakten, was sie auch sein mögen, unverzichtbarer Bestandteil der möglichen Erkenntnis, und um keinen Preis dürfen sie einem allgemeinen Relativismus zum Opfer fallen. Aber der Widerstreit, wie er sich beispielsweise im Subtext der Wikipedia findet, ist ebenso Teil dessen, was Wahrheit ist – und hier ist oder wird wahr, was geteilte Ansicht ist, was überzeugt, sich plausibilisieren kann und was der Kritik standhält. Die nackten Tatsachen, das Statistische, das Faktische usw. sind immer Gegenstand und Produkt des Verstehens und des Versprachlichens. Eine Begrenzung des Wahrheitsbegriffs auf das bereits Gegebene streicht diesen Aspekt aus, und gerade um ihn sollte es in einer Erkenntniskritik gehen, die sich gegen ein „Zeitalter der Lüge“ richten will. Wir müssen uns letzten Endes fragen, ob die Übersetzung von „truth“ mit „faktisch“ die einzig mögliche ist. Ob unser „danach“ denn tatsächlich ein „nach der Wahrheit“ ist, und ob diese Wahrheit seinerzeit die Summe aller Fakten war.

(Ich danke Sara Ehrentraut und Rebecca Mak für die redaktionelle Betreuung des Beitrags.)

Simon Godart ist seit 2016 Doktorand an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.