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Ein neuer Sammelband bietet „Perspektiven auf Autor und Werk“.

Eine Rezension von Maximilian Mengeringhaus

Im Traditionshaus J. B. Metzler hat man sich einiges vorgenommen, um auch nach weit über 300 Jahren erfolgreicher Verlagsgeschichte weiterhin am Puls der Zeit zu bleiben. Neben die einschlägigen Handbücher zu Leben, Werk und Wirkung literarhistorischer Kanongrößen von Ingeborg Bachmann bis Robert Walser tritt fortan die Reihe Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Angekündigt für 2018/19 sind Monographien und Sammelbände zu Netzwerkpoetiken, Christian Krachts Ästhetik sowie zum Gesamtwerk Frank Witzels. Dem Verlag will damit zentrale Debatten und AutorInnen der Gegenwart einer literaturwissenschaftlich interessierten Leserschaft vorstellen. Die Literaturwissenschaft wiederum soll auf der Höhe der Zeit und in Zeitgenossenschaft mit ihren Gegenständen präsentiert werden.

(c) Metzler Verlag

Den Auftakt der Reihe hat nun ein „grundlegender und einführender“ Sammelband über Marcel Beyer gemacht, der „Perspektiven auf Autor und Werk“ in Aussicht stellt und auch hält, was er verspricht. Es handelt sich um den gelungenen Versuch, ein Standardwerk zu etablieren, dass die bisherige Forschung zusammenträgt und als Ausgangspunkt für künftige Untersuchungen dienen soll. Die gebotenen „Perspektiven“ sind dementsprechend nicht durchweg neu – obwohl durchaus auch noch nicht näher betrachtete Arbeiten Beyers wie beispielsweise seine Libretti Erwähnung finden –, aber allesamt profund: Sie bieten vielgestaltige Zugänge zu einem Werk der Gegenwartsliteratur, dem zweifelsohne weiterhin die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen wird. Die Tagung Durch Worte in die Zeit verzweigt – Perspektiven auf den Schriftsteller Marcel Beyer, die im Herbst 2015 an der Bergischen Universität Wuppertal stattfand und auf die der vorliegende Sammelband zurückgeht, wird nicht die letzte gewesen sein, die sich dem Werk des 1965 geborenen und vielfach ausgezeichneten Lyrikers, Romanciers, Essayisten und Librettisten – um der Kapiteleinteilung des Sammelbands zu folgen – Marcel Beyer widmet.

Das erste der vier fachwissenschaftlich konzipierten Kapitel verschreibt sich grundlegend und guter LeserInnenführung eingedenk der „Poetik und Rezeption“. Der Herausgeber Christian Klein zeichnet zu Beginn Grundzüge einer Poetik Marcel Beyers nach, was in doppelter Hinsicht gelingt: Zunächst, da Klein teils auch auf entlegene Texte Beyers eingeht, die in manch anderer Bibliographie des Autors bisher übersehen wurden. Des Weiteren lässt Kleins Analyse Beyer selbst mit vielen repräsentativen Zitaten zu Wort kommen oder kann sich unmittelbar auf Angaben Beyers berufen, wie es an der ein oder anderen Stelle die Fußnoten kenntlich machen, die auf schriftliche Korrespondenz zwischen dem Verfasser des Beitrags und dem Autor Marcel Beyer verweisen. Dies darf als ein Signum und eine Stärke des Bands herausgestellt werden: Der Autor ist anwesend. Nicht nur durch den einleitenden Originalbeitrag „Schreiben im Traum“ oder das, nach ein wenig Anlaufschwierigkeiten schließlich ziemlich pfiffige, den Band beschließende Werkstattgespräch zwischen Klein und Beyer, sondern auch als Ansprechpartner im akademischen Diskurs, der Auskunft zu Detailfragen gibt. Ebenso ist lobend hervorzuheben, dass den vertretenen BeiträgerInnen ihrerseits kein Zacken aus der akademischen Krone bricht, wenn sie bedarfshalber klärende Rücksprache mit dem Autor halten. Dass hier beiderseitig jene gegenseitigen Vorurteile und Vorwürfe der Unkenntnis über Disziplin und Methode ausgehebelt werden, die die Literaturwissenschaft der gegenwärtigen Literatur gegenüber (und vice versa) nicht selten erhebt, ist zu begrüßen und macht hoffentlich Schule. Der auf die Ausführungen zur Poetik Marcel Beyers folgende Beitrag Christoph Jürgensens rollt die feuilletonistische Rezeption des Autors, beginnend mit dessen in der Regel als Debüt auf großer Bühne verstandenem Roman Das Menschenfleisch (1991), auf. Mit angenehm lockerer Feder zeichnet Jürgensen Beyers Schriftstellerkarriere, prototypisch unterteilt in Etablierungs-, Konsolidierungs- und sogenannte Klassikerphase, nach – was manches über die Mechanismen des deutschsprachigen Literaturbetriebs verrät, ohne die Qualität der Arbeiten Beyers in Abrede zu stellen; der Autor muss nicht everbody’s darling, um allerseits angesehen zu sein.

Den Stellenwert zu unterstreichen, den Marcel Beyers Gedichte im Literaturbetrieb, in Forschung und unter DichterkollegInnen einnehmen, treten Michael Braun, Frieder von Ammon, Achim Geisenhanslüke und Jörg Döring in dem der Lyrikproduktion des Autors verschriebenen Kapitel an. Im Unterschied zur darauffolgenden Sektion des Sammelbands, welche die vier Romane Beyers zumeist gesondert voneinander untersucht, arbeiten die Aufsätze zur Lyrik verbindende Motive heraus. An mancher Stelle verheben sich die Analysen vielleicht ein wenig, etwa wenn Frieder von Ammon darauf aufmerksam macht, dass Beyers Das Rheinland stirbt zuletzt mit seinen 160 Versen über ebenso viele verfüge, wie Hölderlins Brod und Wein, was Beyer sicher nicht entgangen sei – was sein kann, jedoch nicht weiter wichtig ist, wenn es alleine bei dieser numerologischen Parallele bleibt, weitere Bezugnahmen jedoch nicht ausgearbeitet dargelegt werden. Achim Geisenhanslüke erweitert derweil die Insekten-Symbolik bei Beyer und Thomas Kling um Subtexte von Francis Ponge und Michael Hamburger, um hieraus Parameter für den Rhythmus des Gedichts in und seit der Moderne abzuleiten. Auf die Lautebene der Lyrik zielt auch Jörg Döring ab: Er wertet dafür Lesungsmitschnitte auf jenes Phänomen hin aus, das er den performativen Epitext tauft: Kommentare des Autors, welche die Lesung eines Gedichts flankieren, es kontextualisieren und vorbeugend vor dem Verdacht der Unverständlichkeit protegieren. Döring legitimiert am Beispiel Beyer nicht nur die Lyriklesung (gegenüber dem Lyriklesen), sein Beitrag bietet auch bedeutende Ausgangspunkte für die lyrikologische Performance-Forschung. Er schließt mit einer Sentenz, die auch aussagekräftig für das Rollenspiel des lyrischen Dichters im literarischen Feld ist, wenn er über Beyers Vortragsqualitäten sagt: „Es gibt derzeit wenige Dichter, deren Vorleseton sich so stark unterscheidet von ihrem Gesprächston.“

Wie kaum anders zu erwarten, kommt den Romanen mit sechs Beiträgen die meiste Aufmerksamkeit zu. Am deutlichsten tritt in den Analysen Eva Erdmanns, Matías Martínez‘, Antonius Weixlers, Monika Schmitz-Emans‘, Aleida Assmanns und Matthias Aumüllers zutage, dass die noch junge Beyer-Forschung häufig einer Meinung ist. So ist man sich einig, was die Bedeutung von Referenztexten von Michel Serres oder Jacques Derrida angeht; einig, dass es sich bei Geschichte und dem stets prekären Zugriff auf ihre Überlieferung, dass es sich beim Thema Sprache um zentrale Themenkomplexe des Werks handelt. D’accord geht man zudem mit Marcel Beyer selbst: Was er im Schreiben der von ihm geschätzten Autoren (Mayröcker, Johnson oder Jürgen Becker) beobachtet, wird nun im Rückschluss bei ihm ausgemacht. Romane wie Flughunde oder Kaltenburg werden an Diskurse angedockt, die sie selbst befeuerten. Die Beiträge vernachlässigen somit die Chance, der weiteren Forschung alternative Wege und Zugänge aufzuzeigen. Demgegenüber ist festzustellen, dass jeder der Beiträge in seinem jeweiligen Argumentationsverlauf zu überzeugen weiß; an den Haaren herbeigezogen oder ‚überinterpretiert‘ wirkt hier nichts, methodisch ist das alles einwandfrei und bis auf Weiteres nach wie vor durchaus ergiebig. Das gilt für Matías Martínez erzähltheoretischen Zugriff, der genauer jene Fingerzeige bezeichnet, mit denen der Autor im Text Lesarten nahelegen kann, ohne eigens das Wort zu ergreifen. Hervorzuheben ist exemplarisch ebenfalls Monika Schmitz-Emans‘ Analyse von Beyers Spione – die den Türspion, das Auge, die Kameralinse assoziiert, Parallelen zu weiteren Foto-/Familienromanen zieht, gekonnt bis zu Roland Barthes und Stephane Mallarmé, der Unterscheidung zwischen Buch und Album führt. Parallel wird in einigen der Beiträge mit dem postmemory-Konzept die Generationenfrage gestellt, das unzuverlässige Erzählen als Schlagwort hinterfragt. Zumindest für die drei zuletzt publizierten Romane kann gelten, was Aleida Assmann zur Poetik von Kaltenburg feststellt: „Beyer schreibt einen Erinnerungsroman, in dem gerade das Nicht-Wissen und Noch-Nicht-Wissen eine große Rolle spielt.“

Julia Abel betont zu Beginn der abschließenden Sektion zu den „Essays und Libretti“ – die leider nur zwei Beiträge, einen zu jedem der beiden Themen, umfasst – vor allem die Vielseitigkeit der Ausdrucksformen Beyers, zu denen in bedeutendem Maße eben auch die Essays gehören. Wobei sie die Gattungszuordnungsprobleme nicht verschweigt, sondern offen die Frage stellt, was überhaupt Teil des essayistischen Werks sei. Abel summiert unter dem Begriff in der Folge eine Fülle von Auftrags- und Gelegenheitsarbeiten, inkludiert Vorträge und Dankesreden, weist auf die Mehrfachverwertung einiger Texte hin, die zunächst in Zeitungen oder wissenschaftlichen Publikationen erschienen sind und später dann in Kompilationen wie Sie nannten es Sprache gesammelt werden. Diesen Essaysammlungen wird auch von Julia Abel der Status poetologischer Schlüsseltexte zugesprochen; der Zugang zum Werk des Schriftstellers Marcel Beyer wird über die Lektüreerfahrung des Lesers Marcel Beyer gesucht. Erfreulich ist, dass mit Annette Kappelers Beitrag erstmals ein wissenschaftlicher Kommentar zu Beyers Arbeit als Librettist vorliegt. Kappeler verweist auf die bedauerliche Verfallsgeschichte der Wertschätzung des Librettos, hält dieser den Stellenwert, den es in der Vortragskultur bis ins 18. Jahrhundert innehatte, entgegen. Die spezifische Mündlichkeit sieht sie bei Beyer gewahrt, dessen Präferenz für die siebensilbigen Verse, die in Vierergruppen zu Strophen organisiert werden, Kappeler ausmacht. Beyer selbst begreife offensichtlich das Libretto als konzentrierte Form des Dramas.

Solche verhältnismäßig unterbeleuchteten Aspekte zur Geltung zu bringen, wirkt erfrischend. Es wäre nur zu begrüßen, würden sich künftige Beiträge etwas wagemutiger etwa mit Beyers einstiger Arbeit als Musikkritiker für die Spex auseinandersetzen. Auch die Übersetzungen – bspw. von William S. Burroughs, Gertrude Stein oder eines Lyrikauswahlbands von Michael Hoffmann – verdienen sicherlich nähergehende Betrachtung. Es bleibt erfreulich viel zu entdecken und zu tun in der Beyer-Forschung, die in diesem Sammelband aber erst einmal einen sicheren Ausgangspunkt für weitere Expeditionen gefunden hat.

Christian Klein (Hg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk [= Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 1], J. B. Metzler, Stuttgart 2018, 250 Seiten, 69,99 €, ISBN 978-3-476-04580-5

Maximilian Mengeringhaus studierte Deutsche Sprache u. Literatur und Philosophie in Köln. Im Anschluss an das Studium war er als Volontär, dann als Pressereferent im Suhrkamp Verlag tätig. In seinem Dissertationsprojekt an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der FU Berlin untersucht er die Diskursgeschichte des deutschsprachigen Langgedichts.

 

Veranstaltungshinweis:

Marcel Beyer ist diesjähriger Festredner im Rahmen des 10-jährigen Jubiläums der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien und der Begrüßung des neuen Jahrgangs am 8. November 2018 im ICI Berlin. Um Anmeldung wird bis zum 25.10.2018 an fsgs@fu-berlin.de gebeten. Informationen finden Sie hier.