Am St Hilda’s College, University of Oxford, findet vom 9.-11. April die Tagung The Self in Verse. Exploring Autobiographical Poetry statt. Dort beschäftigt man sich mit Formen dichterischer Selbstdarstellung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein Bericht

von Marie Lindskov Hansen

Über historische und kulturelle Wandlungen hinweg fasziniert die Lyrik als Modus der literarischen Selbstdarstellung. Schon in der Antike schrieben römische Dichter wie Catull und Ovid lateinische Verse, die von ihren Leben und von zentralen Episoden wie z.B. der Exilerfahrung handelten. Im Mittelalter verwendeten französische und deutsche Minnesänger wie Chrétien de Troyes und Walther von der Vogelweide Elemente des self-fashioning in ihren höfischen Liedern. Und auch seit der Renaissance haben sich etliche große Dichter mit ihren Werken in die Tradition der autobiographischen Lyrik eingeschrieben, siehe z.B. Dantes Vita Nuova, Petrarcas Canzionere, Shakespeares Sonnets, Goethes Sesenheimer Lieder, Wordsworths Prelude, um nur einige kanonische Beispiele zu nennen. Die autobiographische Repräsentation und Narration eines Selbst fungiert hier jeweils als Kern der lyrischen Praxis und verleiht dieser besonderes Potenzial: Liebesgedichte, religiöse Lyrik, historiographische und epische Gedichte oder andere Subgenres der Lyrik sind nur einige Ausdrucksformen, bei denen sich das Leben der Dichter und Dichterinnen besonders stark mit der Literatur verflochten zeigt. Im 20. und 21. Jahrhundert kann man gleichermaßen eine fortwährende autobiographische Tendenz in der Lyrik beobachten, prominent vertreten von modernen und postmodernen Autoren wie z.B. Arthur Rimbaud, Gottfried Benn und dem türkischen Dichter Nâzım Hikmet (“Otobiyografi”, 1961), die allesamt die Grenzen der autobiographischen Lyrik auf unterschiedliche Weisen ausgelotet haben. Ähnlich autobiographisch aufgeladen zeigt sich außerdem u.a. die Bekenntnislyrik Robert Lowells und Sylvia Plaths sowie die facettenreichen lyrischen Songtexte z.B. von Leonard Cohen und von Bob Dylan, dem Nobelpreisträger von 2016. Ganz aktuell bietet das literarische Phänomen „Autofiktion“ sowie die anwachsende Neigung zur Selbstdarstellung, medialen Selbstinszenierung und performativen Entfaltung innerhalb der literarischen Praxis dem Autobiographischen wieder neue Möglichkeiten – nicht nur für Prosaisten, sondern eben auch für Lyriker.

Vor dem Hintergrund dieses weitgefächerten historischen Rahmens beschäftigte sich die Tagung The Self in Verse. Exploring Autobiographical Poetry mit Formen dichterischer Selbstdarstellung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem 20. und 21. Jahrhundert. Die Tagung verdankte sich der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen der University of Oxford (dem St Hilda’s College, dem Oxford Centre for Life Writing Wolfson College, der Faculty of English Language and Literature sowie der Faculty of Medieval and Modern Languages) und der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien (FSGS) der Freien Universität Berlin und fand Anfang April 2017 im St Hilda’s College in Oxford statt. An der Tagung nahmen 22 Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler vor allem aus Berlin und Oxford, aber auch aus der Schweiz, aus Polen und aus Dänemark teil.

Die Tagung wurde mit einem Keynote-Vortrag von Jutta Müller-Tamm (Berlin), der Direktorin der FSGS, eröffnet. Müller-Tamm ging in ihrer Lektüre von Jan Wagners Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012) der kuriosen literarischen Aufspaltung des Autors in drei fiktive Dichter nach. Wagners Gedichte wurden somit einerseits als poetische Formung imaginierter Autobiographien gelesen und anderseits als eine versifizierte Untersuchung (s)eines Selbst, bei dem der Autor eine heteronyme Bewegung im Sinne Ferdinand Pessoas durch die Multiplikation von sich selbst schaffe. Im Anschluss las die Lyrikerin Ulrike Draesner (Berlin), die sich gegenwärtig als Fellow in Oxford aufhält, eine Auswahl aus ihren Gedichten.

Dieter Burdorf (Leipzig) eröffnete den zweiten Konferenztag mit einem Keynote-Vortrag über die Funktion von Personennamen in Gedichten und ihren Paratexten. Burdorf unterstrich die nobilitierende Funktion der Inkorporation realweltlicher Namen in Gedichten und deutete Namen als Indizien für Nichtfiktionalität in zunächst fiktionalen Texten.

Im Fokus des ersten Panels standen Beiträge zur autobiographischen Lyrik der ästhetischen Moderne vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Neuen Sachlichkeit. Martin Kindermann (Berlin) behandelte die lyrische Bearbeitung der Bekehrung zum Katholizismus bei dem britischen Lyriker und Jesuiten Gerard Manley Hopkins als autobiographische Begebenheit und spirituelle Entwicklung im Dialog mit dem Göttlichen Du. Kate Kennedy (Oxford) kreiste in ihrem Vortrag um die Lyrik von Ivor Gurney aus seinen Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen und fragte danach inwiefern die Biographie Gurneys durch seine Lyrik lesbar bzw. erst erschließbar wird. Johannes Görbert (Freiburg/Bern) untersuchte die deutschsprachige autobiographische Lyrik der 1920er und 1930er Jahre mit einem besonderem Fokus auf Gedichte von Mascha Kaléko und Bertolt Brecht. Dabei zeichnete er nach, wie gerade das Spannungsfeld zwischen der Selbstkonstruktion und dem poetischen Ausdruck den Text zum Ort der Selbst-Formung werden lässt.

Das zweite Panel widmete sich die Lyrik des englischen und amerikanischen Modernismus und wurde mit einem Vortrag von Rey Conquer (Oxford) eingeleitet. Mit Bezug auf ausgewählte Werke von I. A. Richards beleuchtete Conquer die Möglichkeiten, ein Gedicht als eigenständige Aktivität zu lesen sowie das Gedicht als ein Embryo, das nach seinem Werden strebt. Hugh Foley (Oxford) analysierte in seinem Vortrag autobiographische Elemente im Gedicht Memories of West Street and Lepke von Robert Lowell, in welchem der Autor seine aufgrund von Kriegsdienstverweigerung verbrachte Zeit im Gefängnis lyrisch verarbeitet. Georgina Paul (Oxford) betrachtete Gedichte von Elizabeth Bishop ähnlich wie Conquer als quasi-organische Entitäten, bei deren lebensweltlicher Konstituierung auch dem Leser eine entscheidende Rolle zukomme.

Im dritten Keynote-Vortrag diskutierte Patrick Hayes (Oxford) Lyrik und life-writing aus feministischer Perspektive. Hier standen Gedichte sowie poetologische Überlegungen von Adrienne Rich und Denise Riley im Mittelpunkt. Ein Gedicht ist dabei keine autobiographische Anekdote im politischen Diskurs, sondern eine sprachliche Konstruktion eines Ichs, die nur so kenntlich gemacht werden kann. Dabei zeigen beide Dichterinnen auch eine sehr differenzierte Bandbreite von Interventionsmöglichkeiten im feministischen Diskurs. Während Rich mit den magischen Qualitäten der Sprach-Praxis spielt und durch Konstruktion einer Multitude eine klar nachvollziehbare Agenda verfolgt, zeigen Rileys komplexe Ironisierungen einen Ansatzpunkt, in dem autobiographisches Sprechen als Aneignungsverfahren im feministischen Diskurs verstanden wird.

Das dritte Panel zur Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit einem Vortrag von Mikolaj Golubiewski (Berlin) zur realistischen Positionierung und Perspektivierung in der Lyrik des polnischen Dichters Czesław Miłosz eingeleitet. Hierauf schloss sich als eine Art Gegenpol den Vortrag von Izabela Rakar (Oxford) an, in dem stärker einer lyrischen ‚Phantastik‘ verpflichteten Aspekte der Autorinszenierung in Texten von Thomas Kling analysiert wurden.

Im Panel zur Lyrik im digitalen Zeitalter, das den zweiten Konferenztag eröffnete, lieferte Jolene Mathieson (Hamburg) eine multiperspektivische Lektüre von Harry Giles’ Abbildung der Zirkusartistin und Tattoo-Künstlerin Maud Wagner in ASCII-Kodesprache, die zusammen mit der Soundperformance Giles’ und dem tätowierten Körper Wagners einen mehrdimensionalen Einblick in die Ästhetik der digitalen Lyrik lieferte. Katharina Warda (Berlin) analysierte in ihrem Vortrag die Aspekte der autobiographischen Lyrik im Art-House Videospiel Cibele, das 2015 von der amerikanischen Game-Designerin Nina Freeman veröffentlicht wurde.

Das fünfte Panel kreiste um die bemerkenswert große Welle autobiographischer Literatur in Skandinavien, die seit Anfang der Jahrtausendwende die Literatur sowie den Literaturbetrieb in Dänemark, Schweden und Norwegen revolutioniert hat. Der erste Vortrag von Marie Lindskov Hansen (Berlin) skizzierte drei markante Stimmen der autobiographischen Gegenwartslyrik Skandinaviens und diskutierte das lyrische Potenzial der autobiographischen Merkmale. Stefan Kjerkegaard (Aarhus) lieferte anhand von Lyrikbeispielen und Facebook-Einträgen weitere poetologische und theoretische Überlegungen zum Phänomen der literarischen Selbstdarstellung in Skandinavien und darüber hinaus.

Das abschließende Panel widmete sich lyrischen Selbstdarstellungen in der vormodernen Literatur des 18. Jahrhunderts und des Mittelalters. Sonja Klimek (Bern) belegte eine fortschreitende ‚Autobiographisierung‘ von Gedichten Albrecht Hallers, die sie anhand von lyrischen Texten und Paratexten nachzeichnete. Und David Bowe (Oxford) führte am Beispiel von Guittone d’Arezzo u.a. vor, wie Lyrik schon im 13. Jahrhundert eher assoziativ als durch und durch stringent und eher im Präsens als im Präteritum Lebensgeschichten zur Sprache bringt.

Insgesamt bot die Tagung eine erste Kartierung eines in der Autobiographie-Forschung noch immer deutlich unterrepräsentierten Forschungsfelds. Wiederholten Anlass zu Diskussionen boten u.a. die Unterschiede zwischen autobiographischer Epik und Lyrik, die Dialogizität der behandelten Gedichte, das Spannungsfeld zwischen Enthüllen und Verbergen lebensweltlicher Bezüge und die Äußerungsmöglichkeiten, die Gedichte gesellschaftlich marginalisierten Gruppen und nicht zuletzt dem ‚Eigenleben‘ der Literatur selbst bieten. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist in Planung.