Seit 2017 betreibt ein Kollektiv aus aktuell 13 Akademiker*innen und Kulturarbeiter*innen den Schöneberger Projektraum diffrakt | zentrum für theoretische peripherie.

Wir sprachen mit Caroline Adler, Moritz Gansen, Max Grünberg, Sara Morais dos Santos Bruss und Hannah Wallenfels über den Anspruch, Theorie im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, die schwierige Unterscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit im Kollektiv und die große Bedeutung günstiger Umstände.

Interview von Nora Weinelt

Ihr habt diffrakt 2017 als Gruppe gegründet und trefft noch immer alle Entscheidungen gemeinsam. Wie kann man sich eure kollektive Infrastruktur vorstellen?

Hannah Wallenfels: Wir haben einen Vorstand, der aus drei Mitgliedern besteht, aus Sara [Morais dos Santos Bruss], Caroline [Adler] und mir. Unser Kollektivgedanke besagt aber eigentlich, dass das einzig entscheidende Organ unseres Vereins – und diffrakt ist ein gemeinnütziger Verein – die Mitgliederversammlung ist. Wir haben zweiwöchentliche Jours fixes, in denen wir gemeinsam Veranstaltungen, Reihen, Workshops, Lesungen besprechen, uns Gespräche oder sonstige Formate ausdenken. Unsere Gründungsidee war, dass wir sowohl selbst Programm machen können als auch offen sind für Ideen von außen. Inzwischen haben wir uns dahingehend ein wenig institutionalisiert. Wir versuchen, alle Vorschläge umzusetzen, die mindestens eine*r von uns als Pat*in ressourcenmäßig betreuen kann und wirklich gut findet – solange niemand ein Veto einlegt. Alle diffrakt-Mitglieder können grundsätzlich immer ihr Veto einlegen, auch wenn das in der Praxis nicht ständig passiert.

Sara und Caroline, ihr beide seid keine Gründungsmitglieder. Wie genau seid ihr zur Gruppe gekommen?

Caroline Adler: Wir kannten uns alle vom Sehen, auch über Projekte an der Uni. Ich war aber vor allem als Besucherin von Veranstaltungen hier und bin dann oft hinter der Bar gelandet, habe den Kühlschrank eingeräumt und Stühle zusammengestellt. Und ich hatte vorher auch schon einmal aus meinem damaligen Job am Haus der Kulturen der Welt heraus mit diffrakt zusammengearbeitet.

Moritz Gansen: Sara hatte vor ihrem offiziellen Einstieg schon eine Lesegruppe mitkoordiniert. Dann haben wir lange versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie doch wirklich genug Zeit hat, um Mitglied des Kollektivs zu werden.

HW: Zum damaligen Zeitpunkt war es tatsächlich auch wichtig, dass sie kein Mann war. Wir wollten immer eine gewisse Gender-Balance herstellen, was bei Veranstaltungen eigentlich schon immer ganz gut gelungen ist, bei den aktiven Mitgliedern aber eine Zeitlang anders aussah…

Sara Morais dos Santos Bruss: Der Unterschied zwischen Kollektivmitglied und Freund*innen des Hauses, also Personen, die diffrakt seit langem begleiten, ist allerdings oft gar nicht so groß. Es geht vor allem darum, dass man ein bisschen Zeit hat, auch die nervigen Dinge mitmacht, und dass man in die Kommunikation involviert ist.

diffrakt sitzt in Schöneberg, in den ehemaligen Räumen des Merve Verlags, mit dem ihr bis heute auch regelmäßig zusammenarbeitet. Wie kam es zu dieser Verbindung?

MoG: Einige von uns hatten seit ungefähr 2014 auf verschiedene Weisen mit Merve zusammengearbeitet. Als dann mehr oder weniger feststand, dass Merve 2017 nach Leipzig ziehen würde, haben wir darüber nachgedacht, wie man etwas Sinnvolles mit diesem Raum machen könnte, damit er nicht einfach nur zu einem Hotelzimmer umgebaut wird.

HW: Teilweise wollten wir auch einfach eigene Bedürfnisse erfüllen. Viele von uns sind akademisch unterwegs, vielleicht auch eher transakademisch, also bemüht, aus dem akademischen Sumpf auch wieder einigermaßen unbeschadet herauszufinden. Gerade in der Dissertationsphase kann akademische Arbeit ja auch ein sehr solitäres Unterfangen sein. Die Idee war, einen Raum zu haben, der Brücken bauen kann, der dafür sorgt, dass man im eigenen Denken, Lesen, Schreiben, Tun nicht alleine ist, es aber andererseits auch ermöglicht, das, was in unseren Bereichen theoretisch passiert, anders durchspielen zu können – mit Blick auf das Politischere, das Sci-Fi-igere, das Feministischere.

MoG: Das alles bedeutete auch einen etwas überrumpelnden und überrumpelten Start, weil wir ziemlich plötzlich vor unsere eigenen vollendeten Tatsachen gestellt waren. Weil wir mit der Realität konfrontiert waren, jeden Monat Miete zahlen zu müssen, ohne zuvor die Finanzierung geklärt und vor allem den Raum mit Leben gefüllt zu haben. Wir waren also quasi gezwungen, schnell irgendwas zu schaffen, uns auszudenken, wen man einladen könnte und wozu eigentlich. Das ist natürlich heute immer noch so, aber mittlerweile kommt viel mehr von anderen, wir haben viel mehr Anfragen – und müssen auch viel mehr absagen, weil wir einfach nicht die Kapazitäten für alle Vorschläge haben.

Wie viele der Veranstaltungen, die bei diffrakt stattfinden, gehen denn auf Anfragen zurück?

HW: Ungefähr die Hälfte, aber da gibt es auch noch Abstufungen. Es gibt Veranstaltungen, die rein von uns kommen, und manchmal schreiben wir dafür sogar Anträge. Es gibt aber eben auch Veranstaltungsanfragen von außen, und häufig entstehen Veranstaltungen auch aus Lese- oder Arbeitsgruppen, wenn zum Beispiel nach einer Lesegruppe die Idee aufkommt, noch jemanden zum Thema einzuladen oder einen Film zu zeigen.

SM: Das ist was sehr Schönes, weil Menschen, die in unserem Satellitenumfeld unterwegs sind, dadurch oft zu Vorschlägen inspiriert werden. Insgesamt führt diese Praxis dazu, dass die Leute merken, dass es keine großen Hürden gibt und sie einfach mal was ausprobieren können. Ich fand es von Anfang an toll, dass diffrakt ein Raum ist, der die Möglichkeit zum Experimentieren bietet.

© diffrakt | zentrum für theoretische peripherie

Darf ich fragen, wie viel Miete ihr für den Raum zahlt?

HW: Mit allem zahlen wir momentan 1500 Euro im Monat.

Das ist ja relativ günstig…

HW: Wir haben da auch hart verhandelt! Es gab durchaus zwischenzeitlich das Interesse, die Miete zu verdoppeln.

Max Grünberg: Und am Anfang, als wir alle ja auch noch fünf Jahre jünger und weniger Mitglieder im Kollektiv waren, war das schon ein Kraftakt. Ich war damals noch Student, wir haben mehr oder weniger durch Selbstausbeutung dafür gesorgt, den Raum zu erhalten.

Mittlerweile habt ihr die Projektraum-Förderung des Berliner Senats. Ist das momentan eure Hauptgeldquelle?

CA: Wir beantragen immer noch zusätzlich die Förderung einzelner Reihen. Die Senatsförderung deckt die Miete, die laufenden Kosten und eine Produktion.

MaG: Eines unserer Grundideale war und ist, dass der Zugang zum Raum frei sein soll, dass wir keinen Eintritt verlangen wollen und alles auch finanziell so niedrigschwellig wie möglich sein sollte.

HW: Ja, es war eine Grundsatzentscheidung, keinen Eintritt zu nehmen, aber es war auch eine Grundsatzentscheidung – wenn auch eine, die wir immer wieder neu diskutieren –, uns selbst nicht zu bezahlen. Das machen wir nicht nur so, weil wir es nicht könnten, sondern auch, weil eine Entscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb des Kollektivs ein großes Fass aufmachen würde. Was ist sichtbarere und was unsichtbarere Arbeit? Das Kloputzen ist weniger attraktiv als das Anschreiben bekannter Leute. Und für unterschiedliche Menschen sind unterschiedliche Dinge vielleicht unterschiedlich stressig. Wir könnten nie im Leben 13 Vollzeitstellen für alle Kollektivmitglieder bezahlen, und natürlich sind in einer so großen Gruppe manche aktiver und manche weniger. Dafür gibt es auch Gründe – manche haben Vollzeitjobs, Kinder, schwierige Lebenssituationen, das war auch ein wichtiger Aspekt bei der Entscheidung, dass das Kollektiv ehrenamtlich getragen wird.

Hat sich das, was ihr mit dem Raum machen oder erreichen wollt, im Laufe der Zeit verändert? Vielleicht auch durch die veränderten finanziellen Möglichkeiten?

HW: Ich glaube, wir haben stärkere Programmschwerpunkte entwickelt. Am Anfang waren wir sehr verhaftet in dem, was wir selbst gerade gelesen, gelernt oder neu entdeckt haben, dadurch war unser Programm oft ein bisschen zerwürfelt. Rückblickend war da sicherlich auch die ein oder andere Veranstaltung dabei, die ich heute überhaupt nicht mehr interessant fände. Mit der Zeit hat sich uns mehr und mehr erschlossen, wir haben voneinander und von anderen gelernt.

MoG: Finanzierung spielt dabei, abgesehen von der Basisfinanzierung, gar keine so große Rolle. Für nächstes Jahr haben wir noch eine gesicherte Finanzierung, dann müssen wir einen neuen Antrag stellen. In dieser Hinsicht ist es gerade relativ entspannt. Projektgelder machen alles tatsächlich eher komplizierter, weil wir dann wissen: Wir können mit den Geldern etwas machen, aber wir müssen das dann auch. Zum Beispiel Honorare für Veranstaltungen: Bei den meisten Veranstaltungen zahlen wir keine Honorare, bei den finanzierten schon; das ergibt dann ein seltsames Ungleichgewicht. Der Vorteil ist aber natürlich, dass man Reisekosten übernehmen und so auch mal konkret Leute einladen kann, dass man also nicht darauf angewiesen ist, dass jemand sowieso in Berlin ist und man das dann auch noch mitbekommt.

MaG: Andererseits war für uns immer auch das Entführen als kuratorische Praxis wichtig: Man bekommt mit, dass eine größere Kulturinstitution oder eine Universität irgendeine*n Theoretiker*in eingeladen hat und weiß: Die Person ist in der Stadt. Und dann versuchen wir, die Person zu uns zu locken.

HW: Wir ködern sie damit, dass es doch sicher schön wäre, in entspannter Atmosphäre mit netten Leuten ein Glas Wein zu trinken – zufällig auf einer kleinen Bühne.

Wie würdet ihr eure heutigen, spezifischeren Programmschwerpunkte beschreiben?

SM: Sci-Fi-Theorie, immer noch und immer wieder. Und wir haben auch einen stärkeren Schwerpunkt auf Umwelten gelegt, auf Ökologien in einem sehr weiten Sinne und auf die dazugehörigen Narrative.

CA: Ich hatte das Gefühl, dass die spezifischere Schwerpunktsetzung auch ein bisschen mit diesen Anträgen passiert ist, weil man plötzlich eine Logik entwickeln muss: Was macht man eigentlich als Raum? Da haben wir vielleicht erst gemerkt, dass es bei uns extrem gut funktioniert, ein Überthema zu benennen und dort dann Veranstaltungen einzusortieren. So haben wir dann festgestellt: Es gibt bestimmte Themenbereiche, die wir schwerpunktmäßig bespielen.

SM: Trotzdem kann man sagen, dass sich diese Schwerpunkte aus den Interessen entwickelt haben, die ganz am Anfang standen. Da gibt es immer noch eine Verbindung hin, zu Sci-Fi, zu Science and Technology Studies, zu „Umgebungen“ und ganz aktuell zu verschiedenen Formen des Spekulativen Feminismus. Max macht immer mal wieder was zu cybersozialistischen Utopien und kybernetisch-marxistischen Positionen. Und generell das Thema Posthumanismus – da gibt es immer wieder aktuelle Iterationen, die wir spannend finden.

MoG: Vor Kurzem war McKenzie Wark hier und hat am Ende ein bisschen über „Low Theory“ gesprochen. Ich finde, dass vieles, was wir machen, in diese Richtung geht. Ich weiß gar nicht genau, was „Low Theory“ bei Wark letztendlich genau bedeutet, aber ich kann mit dem Begriff viel anfangen. Zumindest wollen wir wegkommen von dem Anspruch, „High Theory“ zu machen.

HW: Ich glaube, man könnte sagen: Wir machen Theorie im gesellschaftlichen Kontext. Am Anfang haben wir uns noch viel mehr an Uni-Lektüren und an Fragen von „Was lesen?“ und „Wie lesen?“ abgearbeitet, aber das hat sich eher hinbewegt zu einem „Wozu?“. Was passiert mit diesen Themengebieten, wie passiert das damit, was kann man damit machen?

MoG: Wir haben momentan vier laufende Lesegruppen, die alle in der ein oder anderen Weise auch mit diesen Fragen befasst sind. Die eine heißt „Storytellings“, da geht es um Narrative über Welten, was es also heißt, konstitutiv eine oder mehrere Welten zu bewohnen – das ist also sehr breit angelegt. Aber die Themen, die in diesen Lektüren wichtig sind, kommen alle auch irgendwann wieder in Veranstaltungen vor. Wir haben seit einiger Zeit außerdem eine Gruppe zu Infrastrukturen, wo es auch ganz praktisch um Organisation geht, und damit auch um die Frage: Wie funktioniert eigentlich so ein Kollektiv und was braucht man, damit man einen solchen Raum bespielen kann? Und was würde das im breiteren gesellschaftlichen Kontext bedeuten? Das wiederum beschäftigt natürlich auch die feministische Lesegruppe, die schon lange existiert …

HW: Eigentlich gab es die schon vor der Gründung. Die ist quasi von einem privaten Sofa in den Raum umgezogen. Was ganz gut passt: Die Gruppe heißt „das persönliche ist theoretisch“ und versucht, den Abstand zwischen persönlichen Erfahrungen und Theorie in beide Richtungen zu überwinden.

MoG: Und sie prägt sehr stark einen Teil des Programms. Außerdem haben wir seit letztem Sommer noch eine Science-Fiction-Lesegruppe, die auf eine Reihe zu Philosophie und Science Fiction in den Jahren 2018/19 zurückgeht, ganz konkret aber vorgeschlagen wurde von Eric Macedo, mit dem wir schon lange immer wieder zusammenarbeiten, etwa am Projekt „a perfect storm“.

diffrakt | zentrum für theoretische peripherie "und dann sind die Leute einfach nicht gegangen"
© diffrakt | zentrum für theoretische peripherie

Diese Antragslogik, von der ihr gesprochen habt, gibt es im akademischen und künstlerischen Bereich ja überall, und ich habe selten gehört, dass jemand dem etwas abgewinnen kann, außer natürlich dem Geld, das man dann hoffentlich irgendwann bekommt. Bei euch klingt es eher so, als säht ihr diese Anträge als Chance, als etwas, das euer Profil schärft. Kann man das so sagen?

CA: Für uns sind diese Anträge nicht unbedingt eingrenzend, eher eine Gelegenheit zur Reflexionsarbeit.

HW: Das erste Mal, als wir etwas beantragt haben und dann beschreiben mussten, wer wir sind, hat das schon etwas mit uns gemacht. Wir saßen unglaublich lange am ersten Absatz, in dem diese Frage in irgendeiner Form abgebildet und beantwortet werden muss. Da gab es schon immer wieder Momente, wo uns diese doofe Antragslogik gepusht hat. Aber auch welche, wo sie nervt, vor allem wegen der ganzen administrativen Arbeit.

CA: Ich kam ja aus der Kulturarbeit, da war diese Antragslogik für mich ein eher kleines Übel, weil man weiß, wie der Laden läuft.

HW: Du warst total hilfreich, weil du pragmatisch warst. Uns fehlte dieser Pragmatismus vorher völlig.

SM: Wir hatten manchmal Sorge, dass bestimmte Formulierungen auch etwas Bestimmtes für unsere Zukunft bedeuten, und Caroline meinte: Das ist völlig egal. Schreibt es einfach rein. Es geht um Antragssprech, und mittlerweile ist diese Angst, dass das, was man in den Antrag hineinschreibt, das Projekt über Gebühr prägt, auch verflogen.

Wie würdet ihr eure Zielgruppe beschreiben? Wer kommt zu euren Veranstaltungen, wen wollt ihr erreichen?

HW: Das ist zum Teil sprachabhängig, wir machen ja Veranstaltungen auf Deutsch und auf Englisch (und ab und zu auch in anderen Sprachen). Außerdem sind die Veranstaltungen jeweils mit verschiedenen Kollektivmitgliedern und Schwerpunkten verknüpft, die sehr verschiedene Gruppen ansprechen, teilweise auch sehr unterschiedliche Altersdurchschnitte.

Bei welcher Veranstaltungsart ist der Altersdurchschnitt denn besonders hoch?

Alle: Merve.

HW: Merve-Veranstaltungen oder Verlagsveranstaltungen sprechen ein ganz anderes Publikum an als queer-feministische Performances. Bei unserer queer-feministischen Lesegruppe haben wir das Alter mal erhoben, die Anwesenden waren zwischen 19 und 51. Aber es geht auch manchmal hoch bis über 70.

Ich vermute, eure Besucher*innen kommen zum Großteil auch eher aus einem akademischen oder kulturell sehr interessierten Umfeld?

HW: Ich glaube schon, dass es eine Kipplast in diese Richtung gibt. Insgesamt waren wir aber überrascht davon, wie gut es funktioniert, dass wir keine Werbung machen. Wir haben einen Newsletter, in den man sich auf unserer Webseite oder bei Veranstaltungen allerdings erstmal aktiv eintragen muss, wir haben eine Facebook-Seite, neuerdings Instagram – und das war’s. Dass dann Leute kamen, die nicht nur unsere Friends waren, dass es da also durchaus ein Bedürfnis und Interesse gab, hat uns erstmal selbst gewundert.

CA: Das liegt auch daran, dass diffrakt als Veranstaltungsort anders funktioniert. Die Leute kommen nicht nur zu uns, weil wir dieses und jenes Programm machen. Viele haben uns gesagt, dass sie uns über die zwei Pandemie-Jahre nicht nur wegen des theoretischen Inputs vermisst haben, sondern wirklich als Raum, als Gemeinschaftsort. Als etwas, wo man hingeht und weiß: Es wird ein schöner Abend.

HW: Es ist auch eine bewusste Entscheidung, dass unsere Veranstaltungen nach dem Bühnenteil nicht vorbei sind. Der Raum ist und bleibt offen, es gibt Musik und Getränke. Der Austausch ist einer der existentiellen Momente dieses Raums.

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Wie viele Kollektivmitglieder sind an so einem Abend anwesend? Moderiert ihr die Veranstaltungen immer selbst?

HW: Mindestens zwei. Eine*r ist zu wenig, aber es sind auch auf keinen Fall immer alle 13 da.

SM: Und was die Moderation angeht, ist der Begriff ‚Moderation‘ für uns eigentlich immer schon etwas fragwürdig. Wir wollen keine ‚klassischen‘ Veranstaltungen wie Buchpräsentationen, so nach dem Muster: Hier ist mein Produkt, hier ist meine Theorie, hier ist meine Expertise. Und wenn es doch mal um ein Buch geht, dann steht das eher im Hintergrund der Veranstaltung. Das Buch ist ja da, das können die Leute lesen. Unsere Veranstaltungen funktionieren eher im Sinne von: Lass mal miteinander quatschen. Wir haben ohnehin selten nur ein oder zwei Menschen auf der Bühne und versuchen auch dadurch, Hierarchisierungen aufzuheben.

MoG: Ein anderes Beispiel dafür: Ich erstelle meistens die Webseiten-Posts und halte mich dabei streng daran, die Teilnehmenden einfach nur alphabetisch nach Nachnamen zu ordnen. Manchmal gibt es dann Leute, die sagen: „Jetzt schreib doch mal die bekannte Person an erster Stelle, die sieht man hier ja gar nicht so richtig.“ Das ist aber eine Art von Diskussion, die ich gar nicht erst anfangen will. Wonach entscheidet man denn, wer wichtiger ist?

Gab es in den fünf Jahren eine Veranstaltung, die ihr als Highlight betrachtet? Die besonders gut funktioniert oder euch überrascht hat?

SM: Eigentlich funktionieren alle Veranstaltungen immer ziemlich gut!

MoG: Das war aber auch ein Lernprozess. Wir haben ja von Anfang an gesagt, dass wir Vorträge möglichst vermeiden wollen, stattdessen setzen wir auf Gesprächsformate. Wir haben schon oft gemerkt, dass Gäste Schwierigkeiten haben, sich darauf einzustellen. Wenn wir sie gebeten haben, ein Input-Statement von maximal 10 Minuten vorzubereiten, haben manche trotzdem erstmal eine halbe Stunde geredet. Daraus ergibt sich dann nicht die Dynamik, die wir uns eigentlich wünschen würden: dass man Theorie im Gespräch erleben kann, keinen vorbereiteten Vortrag. Das ist auf jeden Fall etwas, das wir gelernt haben: Mehr Freiheit hilft den Menschen auf der Bühne nicht immer und macht die Veranstaltung nicht unbedingt besser, gerade wenn man es mit Akademiker*innen zu tun hat, die es gewohnt sind, lange zu reden.

SM: Ich meinte auch eher die Atmosphäre im Raum – die empfinde ich immer als sehr warm. Das liegt auch an den Leuten, die kommen, die haben Bock, sich auszutauschen. Es ist so schön für uns, zu sehen, dass es vielen Menschen etwas gibt, diesen Ort zu haben, um andere Leute kennenzulernen, gar nicht mal unbedingt uns. Um einfach mit anderen abzuhängen und ein Bier oder sonstwas zu trinken.

MoG: Und auch nicht nur mit anderen Menschen aus dem Publikum, sondern auch mit der Person, die da auf der Bühne saß. Es ist cool, dass die meisten unserer Gäste das mitmachen. Manchmal passiert es aber, dass die Eingeladenen dann nach der Veranstaltung Hunger haben. Das ist eigentlich immer das Blödeste, wenn die Leute vorher nicht gut versorgt waren und dann gleich weg wollen, um noch was zu essen. Das ist aber auch etwas, was wir gelernt haben: Man muss sich auch bei Theorieveranstaltungen erstmal um die basalen Bedürfnisse der Leute kümmern. Um aber nochmal auf die Frage zurückzukommen, mein Highlight ist keine konkrete Veranstaltung, sondern die Storytellings-Lesegruppe, die Sara und ich seit Sommer 2019 betreuen. Ich glaube, ich hatte noch nie eine Lesegruppe, die so lange gelaufen ist. Die Gruppe entstand aus einer Veranstaltung, die mir in Erinnerung geblieben ist, weil sie so überraschend voll war. Das war im Sommer 2019, die letzte Veranstaltung vor der Sommerpause. Da haben wir diesen Film über Donna Haraway gezeigt, der schon oft in Berlin gelaufen war. Wir dachten, da kommen vielleicht nochmal 30 Leute. Aber es war megavoll. Wir hatten den Besucher*innen vor der Veranstaltung gesagt: Wenn ihr Lust habt, an dem Thema weiterzuarbeiten, bleibt doch danach da, wir überlegen dann nachher, was man vielleicht machen könnte.

SM: Und dann sind die ganzen Leute einfach nicht gegangen. Die saßen auf dem Boden und sind einfach geblieben. Und daraus ist etwas sehr Schönes entstanden.

Vielen Dank für das Gespräch!