Der Berliner Literaturwissenschaftler Camilo Del Valle Lattanzio hat diesen Sommer zusammen mit Wolfgang Müller-Funk (Universität Wien) einen spanisch-deutschen Band über den Dichter Octavio Paz herausgegeben.
Darin wird das Werk des Literaturnobelpreisträgers als Teil der modernen Tradition des Essayismus beleuchtet. Wir haben mit Camilo über tastendes Schreiben, Poesie, Diplomatie und unterschiedliche literaturwissenschaftliche Schreibweisen gesprochen.
Interview von Till Breyer
Euer Buch Zwischen dem Schweigen und der Kritik. Octavio Paz, die Moderne und der Essay kreist um zentrale Themen der Ästhetik des 20. Jahrhunderts, etwa den Topos, in der modernen Kultur nicht mehr über ein verlässliches Zentrum zu verfügen. Das Zentrum eures Bandes ist nun das Werk von Octavio Paz. Warum ausgerechnet dieser Autor?
Wahrscheinlich ist das Werk Paz’, und davon zeugt das Buch, ein genauso rutschiges Zentrum wie die Landschaft der Moderne. Paz’ Texte sind sehr dicht und voller Referenzen und eine genaue Lektüre jener intellektuell spielerischen Texte ist ein mutiges Unterfangen. Sein Denken ist das immer ausufernde Projekt gewesen, eine Totalität zu erzielen, die sich ihm immer entzogen hat. Die Absicht hinter dem Band war jedoch eine viel praktischere: Ich hatte damals meine Masterarbeit zu Paz’ Poetik unter der Betreuung des Essayexperten Wolfgang Müller-Funk geschrieben, was uns beide dazu gebracht hat, eine Debatte über den Essay zwischen Lateinamerika und Europa zu beginnen. Eine weitere Motivation war, einen im deutschsprachigen Raum eher wenig bearbeiteten kanonischen Denker wie Paz komparatistisch in Dialog mit anderen philosophischen Traditionen und Autor*innen zu stellen, sein Denken genau und ernsthaft zu lesen und es im Kontext einer europäischen Poetik- und Essaytradition (wie jene Benjamins oder Lukács’) zu analysieren. 2016 haben wir gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und der Universität Wien ein internationales Symposium zu diesem Thema organisiert, aus dem dieses Buch entstanden ist. Eine weitere Motivation war eine politische, da die Beschäftigung mit dem Werk Paz’ im Zeitalter der Post-Boom-Literatur und der Bolaño-Faszinationswelle eine verpönte oder zumindest als nicht sehr ‚coole‘ Sache geworden ist. Wir wollten in dieser Hinsicht Paz etwas entstauben, indem wir ihn in einem neuen, komparatistischen Licht lesen: In Kontrast zu Margo Glantz, in Dialog mit Musil, Benjamin oder mit der Frühromantik, als Skeptiker der Literaturwissenschaft oder als klassischer Essayist in der Tradition Montaignes.
Was kam unter dem Staub zutage – was sind für Dich die wichtigsten Ergebnisse des Bandes?
Ein wichtiges Ziel der Publikation war, Paz in einer Essaytradition hervorheben zu können, sein Werk im internationalen literarischen und intellektuellen Austausch als eine wichtige Instanz zu reklamieren, aber nicht ohne einen kritischen Blick auf sein Werk zu werfen. Es ist klar, dass Octavio Paz eine sehr problematische Figur bleibt: der Verräter der kommunistischen Agenda, der am Ende seines Lebens zur rechten neoliberalen Politik wechselte; der wahrscheinlich größte Macho der institutionalisierten Literatur (als Verleger von Vuelta z. B.), unter dessen Schatten die wunderbare Autorin und Exfrau Elena Garro nicht zum Vorschein kommen konnte; der antiquierte neoromantische Dichter, der trotz seiner Vorliebe für Beat-Dichter (wie William Carlos Williams) mit seinen Texten eine eher konservative Poetik in die Literatur einbrachte. In einer von Mode und Trends gesteuerten Disziplin der Literaturwissenschaft ist die Aufgabe der Entstaubung also einerseits eine politische Angelegenheit, die aber andererseits mit Bedacht und kritisch (wie etwa in der Rezeption Martin Heideggers oder Ernst Jüngers) vonstatten gehen sollte. Der Beitrag von Claudia Leitner zur mexikanischen Autorin Margo Glantz in Auseinandersetzung mit Paz weist am Ende des Bandes auf diese kritische Perspektive hin, die für uns sehr wichtig war.
Paz’ Denken und Poetik stehen also im Kontext einer bestimmten Männlichkeit, eines Machismo und Konservatismus. Weisen sie auch darüber hinaus?
Genau, wenn man den Ausdruck „im Kontext“ hervorhebt: Als ich oben über den Macho Paz gesprochen habe, meinte ich den Autor als Person und als politische Persönlichkeit, die er ja auch nicht nur als Botschafter in Indien und Japan, sondern auch als die zentrale intellektuelle Gestalt in Mexiko der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Ich meinte jedoch nicht so sehr sein Werk, obwohl es natürlich von diesen negativen Seiten durchaus geprägt ist (man denke etwa an die Frauenfigur in Piedra de sol). Es geht jedoch darum, Paz’ Werk in seiner Wichtigkeit für eine sogenannte Weltliteratur, trotz seiner negativen Seiten als Person, gerecht zu werden. Paz war nicht ausschließlich eine reaktionäre politische Instanz: Sein Protest und seine Kündigung als Botschafter wegen des Massakers von Tlatelolco zeugen davon.
… bei diesem Massaker wurden 1968 in Mexiko-Stadt mehrere Hundert demonstrierende Studenten erschossen. Wie würdest Du die politische Bedeutung eures Themas heute einschätzen?
Wir haben tatsächlich versucht, Paz’ politische Essays (El laberinto de la soledad, Itinerario oder El ogro filantrópico) eher in den Hintergrund zu verlegen, da diese die meistbesprochenen und im deutschsprachigen Raum meistbekannten Bücher des Autors sind. In unserem Band stehen die poetologischen Texte im Vordergrund (Los hijos del limo oder El arco y la lira). Trotzdem ist bei Paz das Politische gar nicht zu vermeiden, weil sein Werk – von den kommunistischen Frühgedichten bis zu einem seiner letzten Bücher Itinerario – von politischen Fragen durchzogen ist. Daher filtriert sich das Thema zwangsläufig immer wieder in den Beiträgen, insbesondere bei Luis Alfonso Gómez Arciniega.
In Deinem eigenen Aufsatz charakterisierst Du den Paz’schen Essay als tastenden, ihren Gegenstand umkreisenden, dialogischen Prozess – vielleicht ja eine Art ‚poetische Diplomatie‘. Siehst Du die Stärke dieser Form auch heute? Oder passt sie besser in eine weniger polarisierte und angespannte Zeit?
Diese ist eine sehr komplexe Frage, da ich bis jetzt diese Form des umkreisenden Denkens Paz’ nicht in ihrer politischen Reichweite gedacht habe. Allerdings habe ich auf der Tagung ursprünglich über Paz’ Liebesbegriff in Bezug auf die Form des Essays gesprochen – und Liebe ist ein sehr politisches Thema! In meinem Beitrag versuche ich aber eine implizite Kritik von Paz an der Literaturkritik zu rekonstruieren. Er kritisiert die Literaturkritik als eine, die das Wesen des Poetischen völlig verfehlt, wenn sie aus einer souveränen Perspektive das Poetische bis zum Ende zu erfassen glaubt. Die Literaturkritik müsse daher nicht nur in Dialog mit der Literatur treten, sondern sogar dieses Andere, also Literatur werden. Wenn man diese literaturtheoretische Überlegung auf das Feld der Politik erweitert, dann kann man darin schon einen impliziten Appell an eine dialogische, nicht-invasive Form der Annäherung und des Denkens über das Andere erkennen. Dies vor allem in einem Werk, das ständig das radikal Fremde (la otra voz) erotisch aufgesucht hat, indem es einen stetigen kulturellen Dialog mit Japan und Indien führt.
Zuletzt eine Frage zu eurer Kooperation: Die Beiträger*innen kommen von Universitäten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Mexiko. Gibt es auf den beiden Seiten des Atlantiks unterschiedliche Traditionen der Literaturwissenschaft – und unterschiedliche Bilder von Octavio Paz?
Absolut. Die Literaturwissenschaft in Lateinamerika versteht sich als estudios literarios (wie auf englisch literary studies) und nicht als ciencia de la literatura, was die buchstäbliche Übersetzung von Literaturwissenschaft wäre. Die estudios literarios stehen ihrem Gegenstand näher, wie eine essayistische Literaturwissenschaft, die den aus den Naturwissenschaften übernommenen Wissenschaftsanspruch in Frage stellt. Das kann man sehr gut an Dante Salgados Beitrag sehen, aber auch im wunderschönen Text der Schweizer Professorin Maya Schärer-Nussberger, die als eine der größten Kenner*innen des Paz’schen Werkes gilt. Man bemerkt also den Unterschied zwischen den Beiträgen von den deutschen oder österreichischen Germanist*innen – wie Nübel oder Müller-Funk – und den von den Romanist*innen bzw. Lateinamerikanist*innen (Gómez Arciniega, Leitner oder Schärer-Nussberger), die sozusagen die Schreibweise vom anderen Ufer des Atlantiks erkennen lassen. Aus diesem Grund kann man sagen, dass unser Band zwei unterschiedliche Annäherungen an die Literatur in Dialog gebracht hat, was ich in meinem Text auch ausgehend von Paz’ Poetik reflektiere: Wie kann man über Dichtung prosaisch schreiben? Das Bild von Paz, um zum anderen Punkt der Frage zu kommen, ist auch ein sehr unterschiedliches: Paz wird in Lateinamerika zwar als Klassiker wahrgenommen, als politische Figur jedoch stark kritisiert. Das beeinflusst auch die akademische Rezeption seines Werkes. Daher sind die negativen Seiten des Autors in der lateinamerikanischen Literaturwissenschaft viel präsenter.
Vielen Dank für das Gespräch!
Camilo Del Valle hat in Wien Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Derzeit promoviert er an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der FU Berlin zum Verhältnis von Religion und Homosexualität bei Josef Winkler und Fernando Vallejo.