Soeben erschien die vierte Ausgabe der Online-Zeitschrift Bildbruch , die von einem in Berlin und Basel ansässigen Redaktionsteam herausgegeben wird und neue Studien im Bereich der Metaphorologie versammelt. Wir haben mit Sina Dell’Anno (Basel) und Simon Godart (Berlin) über das Aufbauen eines eigenen Online-Journals und die Macht der Sprachbilder gesprochen.

von Nora Weinelt und Till Breyer

LiB: Liebe Sina, lieber Simon, vor zwei Jahren erschien die erste Ausgabe von Bildbruch. Seitdem sind wir von immer neuen Vergleichen und Metaphern umgeben, die von Krisen wie der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine geprägt werden. Beeinflusst die Arbeit an Bildbruch die Art, wie ihr die Gegenwart erlebt? Oder bleiben Lebenswelt und Journalprojekt eher getrennt?

Simon Godart: Dass die Lebenswelt voll von verschiedenen Metaphern ist, gehört ja zu den Grundthesen der Metaphorologie im Anschluss an Blumenberg, da gibt es kein Entkommen. Sprachbilder tragen zu den kursierenden ‚Weltbildern‘ maßgeblich bei, auch dort, wo es ganz alltäglich wird. Für uns liegt der Fokus aber doch etwas anders: Wir konzentrieren uns auf Bildbrüche und Katachresen. Gerade wenn es den Anschein hat, dass ständig neue Metaphern aus dem Boden schießen, stellt sich uns die Frage danach, wie man sie als Katachresen genauer bestimmen könnte: also als verblasste Bilder, von denen man schnell oder langsam schon vergessen hat, dass sie Bilder sind. Was sind „notwendige“ Metaphern, die dort in Gebrauch kommen, wo man ohne sie nicht wüsste, wie man sich ausdrücken sollte? Und wo werden die Bilder schief, z.B. in einer unpassenden Kombination?

Mit diesem Programm haben wir uns eher auf die Tropologie und ihre Theorie eingeschossen, zu Ungunsten einer allgemeineren Betrachtung rhetorischer Mechanismen, und sind auf eine historische Perspektive angewiesen. Was gleichermaßen Fluch und Segen ist: Wir stehen ja noch ganz am Anfang. 

Sina Dell’Anno: Natürlich hat man als Beobachter*in von Metaphern einen geschärften Blick für die Bildlichkeit der Alltagssprache, deren aktuelle Militarisierung ja ins Auge springt. Aus dieser persönlichen Sensibilität für das Metaphorische unserer Ausdrucksweise heraus würde ich nicht unbedingt sagen, dass wir uns auf etwas „eingeschossen“ haben. Davon abgesehen kann ich Simons Hinweise aber nur unterstreichen: Es sind die Reibungen und Brüche, die es uns angetan haben, und zwar als Kristallisationspunkte eines grundsätzlichen Nachdenkens über Rhetorizität.

Das Faszinierende an der Katachrese ist ja, dass sie einerseits ‚vor‘ der Metapher im klassischen Verständnis liegt, weil sie eine sprachliche Leerstelle kompensiert. Es handelt sich also um eine ‚notwendige‘ Übertragung: Einen eigentlichen, nicht-metaphorischen Ausdruck für das, was sie bezeichnet, gibt es nicht. In diesem Sinne sind übrigens auch Blumenbergs ,absolute‘ Metaphern genauer als Katachresen zu fassen. Als Bildbruch, als zum Unsinn tendierender Exzess der übertragenen Rede, markiert die Katachrese auch den anderen äußeren Rand des tropologischen Systems. Sie ist also quasi das Noch-Nicht und das Nicht-Mehr des gemeinhin als gelungen empfundenen Ausdrucks. Sich für Katachresen zu interessieren, heißt also, die Grenzbereiche in den Blick zu nehmen, an denen immer auch definitorische Grundsatzfragen virulent werden.

LiB: Habt ihr ein Beispiel?

Simon Godart: Eines meiner liebsten Beispiele für eine Katachrese wäre die „Revolution“. Die Vokabel prägt unser Verständnis von Politik in der Moderne wie kaum eine andere und evoziert unweigerlich die Epochenumbrüche der Französischen Revolution, der Glorreichen Revolution oder der Februarrevolution etc. Dass es sich hierbei allerdings um eine metaphorische Übertragung und Entlehnung handelt, hat man mittlerweile – man könnte sagen: weil es so gut gepasst hat – schlicht vergessen. In der ebenfalls wirkmächtigen Prägung bei Kopernikus meint der Begriff nicht einen Umsturz, sondern die kreisförmige Bewegung von Himmelskörpern zurück zum Ausgangspunkt. Zwischen beiden Verwendungen klafft ein Spalt, der sich nur retrospektiv beschreiben lässt und über den hinweg einiges in Bewegung geraten zu sein scheint: Das Rotieren der Himmelskörper wurde zum Namen für politische Umwälzungen. Das Vergessen der Entlehnung und der damit verbundenen Bildlichkeit hat aber dem Erfolg des neuen Namens keinen Abbruch getan hat – ganz im Gegenteil. 

Sina Dell’Anno: Als Philologin muss ich hier natürlich noch auf die literarische Bedeutung des lateinischen Wortes hinweisen: revolvere meint wortwörtlich das Wiederaufrollen, sprich das Wiederlesen einer Buchrolle. Der Literaturwissenschaft in diesem Sinne, als einer Praxis des Wiederlesens, einen revolutionären Kern zu attestieren, wäre dann wiederum ein schönes Beispiel für das, was Gerald Posselt in seiner Monographie zur Katachrese als ,Resignifikation‘ beschreibt, als Operation, bei der ein (abstrakter) Begriff – katachrestisch – mit neuem Bedeutungsgehalt ausgestattet wird. Hier wird die Tropologie dann natürlich eminent politisch. Wir interessieren uns aber, wie gesagt, weniger für die politische Performanz der Katachrese, sondern vor allem für die Reibungen und Brüche, die katachrestische Übertragungsprozesse produzieren – und für die Möglichkeiten ihrer Beschreibung. Unser drittes Heft hat den etwas sperrigen Titel „Katachresen der Latenz“…

LiB: … das ist tatsächlich ein nicht ganz intuitiver Titel. Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Sina Dell’Anno: (lacht) Unter dieser Überschrift gehen wir den sprachbildlichen Überschreitungen nach, die das notorisch heikle Konzept der Latenz, also des schlechterdings Verborgenen, sich Entziehenden produziert. Es geht also quasi, um eine mir selbst liebe Katachrese der Latenz zu benutzen, ans Eingemachte – ich kann die Lektüre nur wärmstens empfehlen.

LiB: Aus dem Nachlass von Hans Blumenberg, auf den das Projekt einer Metaphorologie zurückgeht, sind in den letzten Jahren drei neue Bände erschienen, dazu kommen intellektuelle Biografien wie diejenige von Rüdiger Zill, selbst ein Dokumentarfilm wurde gedreht. Überhaupt scheint die literaturwissenschaftliche Arbeit an Metaphern gerade eine Renaissance zu erleben. Wie positioniert sich Bildbruch in dieser Fülle neuer Veröffentlichungen, aus welchem Desiderat ist es entstanden?

Sina Dell’Anno: Bei Blumenberg können bestimmt noch viele sehr lesenswerte Dinge aus dem Archiv gehoben werden. In unserer dritten Ausgabe haben wir sogar selbst ein solches Kleinod veröffentlicht, Blumenbergs „Fabel von der Fabel“, ediert und kommentiert von Janina Reibold. Dass im Zuge dessen das Interesse an der Metapher als Leittrope und Figur der Figuralität ebenfalls wieder zugenommen hat, sehen wir auch so. Man hatte ja schon fast das Gefühl, dass nach den Arbeiten von Derrida und de Man die Fragen nach der Bildlichkeit und Uneigentlichkeit von Sprache ein wenig ausgereizt waren.

Was wir mit Bildbruch versuchen, will aber auch gar nicht so unmittelbar daran anschließen, weder an die Poststrukturalisten – die wir zugegebenermaßen sehr mögen! – noch an das Programm von Blumenbergs Metaphorologie. Unser Vorschlag, nicht die Metapher im Allgemeinen, sondern die Katachrese im Besonderen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken, soll uns hier theoretisch und thematisch ein wenig Freiraum schaffen. Etwas nonchalant gesagt, sind uns die Konjunkturen der Forschung ziemlich egal; wir haben unserem Projekt einfach ein gemeinsames Interesse zugrunde gelegt – wenn sich dieses Interesse an solche Konjunkturen anschließen lässt, umso besser.

LiB: Ihr habt Euch bewusst dafür entschieden, Bildbruch als unabhängiges Projekt ausschließlich online und Open Access zu veröffentlichen. Einerseits ermöglicht das eine sehr niedrigschwellige Teilhabe für alle – andererseits seid Ihr darauf angewiesen, dass potentielle Leser*innen Euch auch abseits von OPAC-Recherchen und institutioneller Werbung irgendwie finden. Welche Erfahrungen habt Ihr bisher mit dieser Art der OA-Publikation gemacht?

Sina Dell’Anno: Die Entscheidung, unser Journal online und mit Open Access zu veröffentlichen, wurde uns eigentlich eher abgenommen. Wir wollten schnell, ansprechend und vor allem selbstständig veröffentlichen, und dabei auch erst einmal herausfinden, wie ein Journal, so wie wir es uns wünschen, aussehen könnte. Dass es natürlich schön wäre, insbesondere mit einem Independent-Verlag zusammenzuarbeiten und die Reichweite für unser Nischenthema ein wenig zu vergrößern, steht außer Frage. Aber durch die Möglichkeiten der Gestaltung und der Distribution online sind wir nicht auf größere Finanzierungen oder auf Zuschüsse angewiesen, ohne dass darunter die Qualität unserer Publikationen leiden müsste. Für einen Verlag würde das Format nur bedingt Sinn ergeben – wenn wir uns hier täuschen, können sich die Verantwortlichen aber bei uns melden! 

Open Access spielt für uns eine Nebenrolle, in dem Sinne, dass es eigentlich wünschenswert wäre, wenn deutlich mehr Publikationen von Forschungsarbeit frei zugänglich wären. In der Schweiz wird ja zurzeit der Standard in diese Richtung verschoben, was wir sehr begrüßen. Durch die DIY-Manier, in der wir Bildbruch aufgezogen haben, kann man allerdings die langwierigen Prozesse von Mittelbeantragung und Verlagsplanung einfach umgehen – was natürlich auch bedeutet, dass man frei von den Preisvorstellungen der Großverlage operieren kann.

LiB: Ihr beide habt Bildbruch gegründet und fungiert als Herausgeber*innen, an der redaktionellen Arbeit sind aber noch vier weitere Wissenschaftler*innen beteiligt. Wie koordiniert Ihr dieses relativ große Team? Wie läuft die Arbeit an einer neuen Ausgabe konkret ab?

Simon Godart: Ja, die Verantwortung für das Journal teilen wir uns seit der ersten Ausgabe mit einem größeren und recht flexiblen Team. Sina und ich sind vor allem Initiator:in, und wir freuen uns sehr, dass unser Team – das zu gleichen Teilen in Basel und in Berlin verortet ist – stetig wächst und sich in die weitere Gestaltung von Bildbruch einbringt. Zum Beispiel hat unser Redaktionsmitglied Tobias Klein die Gestaltung und den Satz des Heftes hauptverantwortlich übernommen und damit unsere Publikation erst möglich gemacht, und Emmanuel Heman war für unsere dritte Ausgabe, „Katachresen der Latenz“, gemeinsam mit Sina Hauptherausgeber des thematischen Schwerpunkts.

Darüber hinaus haben wir aber mit der Gründung des Heftes beschlossen, Bildbruch auch als Plattform zu begreifen und den Kreis von Beteiligten weiter zu öffnen, vor allem, indem wir Externe dazu einladen, Themenschwerpunkte für unser Heft vorzuschlagen, die wir im Anschluss gemeinsam redaktionell betreuen. So haben wir im zweiten Heft, „Mythologies: Nach Barthes“ mit Anne Eusterschulte und Andreas Kappe, die als Gastherausgeber*innen quasi schon unser erstes ,Sonderheft‘ gestaltet haben, ganz wunderbare Erfahrungen sammeln können. Für die aktuelle Nummer, „Utopie und Idylle“, konnten wir Andreas Strasser als Mitherausgeber gewinnen, er und ich haben die Beiträge aus zwei Workshops in Berlin und Princeton gesammelt und mit dem Bildbruch-Team für die Publikation vorbereitet.

LiB: Wie läuft Euer Lektoratsprozess ab?

Sina Dell’Anno: Da wir ein No-Budget – oder, vielleicht hübscher: ein Liebhaber*innen-Projekt sind, haben wir uns gegen ein aufwändiges peer-review-Verfahren mit externen Gutachter*innen entschieden. Der Aufwand, das zu koordinieren und zeitlich einzufassen, schien uns kaum zu bewältigen – noch, vielleicht können wir hier in Zukunft weiterdenken. Für den Moment arbeitet die Redaktion mit einem doppelten Lektorat für jeden Beitrag, das wir in regelmäßigen Redaktionssitzungen besprechen. Die Terminfindung ist die eigentlich größte Herausforderung an uns als Koordinator*innen, die konkrete Arbeit in der Redaktion läuft hingegen ganz wunderbar, wir sind schon recht eingespielt und sehr dankbar für das große Engagement unserer Mitwirkenden.

Simon Godart: Im Großen und Ganzen handelt es sich bei dem Ablauf ansonsten aber um dasjenige, was wir alle von anderen akademischen Publikationsformaten kennen; vielleicht mit dem feinen Unterschied, dass wir uns im Heft sowohl thematisch als auch stilistisch ein paar Freiheiten erlauben können.

LiB: Könnt Ihr uns abschließend noch einen kleinen Teaser zur aktuellen Ausgabe geben?

Simon Godart: In „Utopie und Idylle“ gehen wir auf die Suche nach literarischen Orten, die auf je eigene Weise Glücksversprechungen inszenieren: Utopien als ideale soziale, politische und historische Heterotopien, Idyllen als Enklaven unberührter und ungestörter Freude oder des „Vollglücks in der Beschränkung“, von dem Jean Paul gesprochen hat. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass eine bloße Gattungsgeschichte oder -defintion für beide Begriffe nicht hinreichend ist. Vielmehr wurden die Beiträger*innen eingeladen, sich mit Konzepten und Reflektionen auf „das Idyllische“ und „das Utopische“ zu befassen – und dabei zu untersuchen, wie die beiden Namen als Leitbegriffe ohne feste und letztgültige Bestimmung sich historisch bewegt haben, wie sie Vorstellungen und Erwartungshaltungen triggern und somit auch selbst mehr als Sprachbilder denn als fixe literarische Kategorien verstanden werden müssten.

Sina Dell’Anno: Da wir die Beiträge aus zwei Workshops zusammengeführt haben, ergibt sich für Bildbruch Nr. 4 eine schöne Mischung aus zwei benachbarten Themenfeldern; während wir am EXC 2020 „Temporal Communities“ nach den unterschiedlichen Zeitlichkeit von Idylle und Utopie gefragt hatten, stand der verwandte Workshop in Princeton, den Andreas gemeinsam mit Kathrin Witter konzipiert hatte, unter dem Gesichtspunkt ihrer wechselseitigen Bezogenheit in kritischer Perspektive. Wir freuen uns herzlich, dass das Heft nun erscheint und dass die Diskussion über beide (Nicht-)Orte sich so fortführen lässt.

Vielen Dank für das Gespräch!


Sina Dell’Anno ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Basel. Ihre Dissertation satura – monströses Schreiben in Antike und Aufklärung erscheint im Frühjahr 2023.

Simon Godart hat Philosophie und Literaturwissenschaften studiert und wurde an der Friedrich-Schlegel-Schule für Literaturwissenschaftliche Studien mit einer Arbeit zu Michel de Montaigne und Pierre Bayle promoviert. Seither arbeitet er am EXC 2020 Temporal Communities der Freien Universität Berlin.