Die Ausstellung „Literatur als koloniale Beute? Provenienzgeschichten 1910–2021“ an der Freien Universität Berlin zeigt bis 21. Juli 2023, wie die historische Avantgarde und der Literaturmarkt von Texten aus den Kolonien profitierten.

von Andreas Schmid

In vielen gut, mittelmäßig oder schlecht sortierten Buchhandlungen gibt es einen Tisch, oft im Eingangsbereich, mit günstigen Reprints von diversen Klassikern – Platons Politeia, Boccaccios Decameron, Grimms Kinder- und Hausmärchen. Daneben: Geschenkbücher mit den schönsten Gedichten zu Weihnachten, zum Geburtstag, für den Frühling. Kürzlich fand ich darunter auch einen Band aus dem Anaconda-Verlag mit dem Titel Märchen aus Afrika für 4,95 Euro. Als Buch nicht gerade schön gestaltet, waren sämtliche Exemplare leider auch noch eingeschweißt – im Interesse der Forschung kaufte ich die Katze im Sack. Heute steht das Exemplar in einer Vitrine in der Philologischen Bibliothek der FU Berlin.

Das Forschungsinteresse, das dem Buch diese Karriere bescherte, haben Irene Albers und ich zusammen mit den Studierenden unseres zweisemestrigen komparatistischen MA-Seminars unter dem Titel „Looted Literature?“ formuliert, diskutiert und weiterentwickelt. Im Seminar untersuchten wir Texte, die Missionare oder Ethnolog*innen in den Kolonien aufgezeichnet hatten, die dann in Europa veröffentlicht und wiederholt abgeschrieben wurden, bevor sie auf dem Markt der ‚Weltliteratur‘ als Ware zirkulierten. Zu den prominentesten Abschreiber*innen gehörten Blaise Cendrars, Carl Einstein und Tristan Tzara, kanonische Autoren der europäischen Avantgarde, die sich von den außereuropäischen Texten eine ästhetische Verjüngungskur erhofften. Besonders Prosatexte wurden als ‚Märchen‘ und ‚Legenden‘ teilweise sehr profitabel in Geschenkbüchern und bibliophilen Reihen immer wieder neu herausgegeben, neu arrangiert oder manchmal auch einfach nur neu gedruckt.

Die besagten Märchen aus Afrika von Anaconda, erschienen 2018, gehören zur letzten Kategorie. Sie sind ein Nachdruck der 1917 erstmals im Diederichs-Verlag erschienenen Afrikanischen Märchen, die der Sprachwissenschaftler Carl Meinhof während seiner Tätigkeit am Hamburgischen Kolonialinstitut herausgegeben hatte. Zu seiner Zeit erschien der Band als Teil von Diederichs’ Reihe „Märchen der Weltliteratur“, die das Projekt der Brüder Grimm unter dem Zeichen einer globalen Erweiterung fortzusetzen versprach. Die Hoffnung auf eine Weltgemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg und die Kolonialnostalgie nach dem Verlust der deutschen Überseegebiete griffen in diesem Projekt ineinander.

Auch der Fischer-Verlag verkaufte ‚Afrikanische Märchen‘ – in sechsstelliger Auflage. (Foto: Bernd Wannenmacher)

Eine literaturwissenschaftliche Provenienzforschung, wie wir sie im Seminar ausprobiert haben und in der Ausstellung exemplarisch vorstellen, kann bei einem Fund wie den Märchen aus Afrika ansetzen, um dann die Übernahmen einzelner oder mehrerer Texte aus anderen Quellen zu rekonstruieren. Solche Provenienzketten bleiben in beide Richtungen unabgeschlossen: Die oft aus der mündlichen Überlieferung – man könnte sagen: vom Körper der Erzählenden – abgeschriebenen Oraturen lassen sich so gut wie nie auf ein ‚Original‘ zurückführen oder als Eigentum einer bestimmten Person identifizieren. Auf der anderen Seite endet das verlegerische Recycling solcher Texte nicht – das Abschreiben hat System und der nächste Reprint kommt bestimmt.

Ohne also wie bei der kunsthistorischen Provenienzforschung Eigentumsverhältnisse im europäischen Sinn klären zu können, lernt man bei der philologischen Quellenforschung viel. Wenn man die Märchen aus Afrika von 2018 mit der Vorlage von 1917 vergleicht, findet man zum Beispiel heraus, dass das neue Buch die ursprüngliche Widmung verschweigt (aus nachvollziehbaren Gründen) und dabei bequem den historischen Kontext unkenntlich macht: Meinhof widmete die Afrikanischen Märchen „den tapferen deutschen Männern und Frauen in Afrika“. Die ‚Märchen‘ lassen sich historisch aber noch weiter zurückverfolgen. Meinhof hatte die meisten davon wiederum aus anderen ethnologischen oder missionarischen Quellen übernommen. Zum Beispiel aus Leonhard Schultzes Aus Namaland und Kalahari (1907), das auf Forschungen während des Genozids an Ovaherero und Nama in Namibia basierte.

Die Lektüre von Paratexten ist entscheidend bei der Provenienzforschung. Hier: das Vorwort von Carl Meinhof in der Erstausgabe der Afrikanischen Märchen (1917). (Foto: Bernd Wannenmacher)

Meinhofs Märchen-Band wurde von Diederichs mehrfach neu aufgelegt, auch in Schmuckausgaben mit Einbänden aus Leder oder gar „Madagaskar-Matte“. So wurden die Anthologien als Sammlungen von Geschichten selbst zu Sammlerobjekten. Später übernahmen Bertelsmann, Rowohlt und Weltbild die Nachdrucke der Diederichs-Märchen, und so finden sich bis Ende der 1990er Jahre mehrere neue Auflagen von Meinhofs Band. Die Widmung verschwand schon früh und später bemühte man sich um ein einordnendes Nachwort. Da Meinhof 1944 starb und im rechtlichen Sinne als Urheber galt, war der Band ab 2014 gemeinfrei. Damit war der Weg bereitet für das Anaconda-Reprint, in dem weder das alte Vorwort noch das neuere Nachwort enthalten sind, dafür aber das Logo des Diederichs-Verlags, ein Löwe, der hier nur noch als Buchschmuck fungiert.

Die Vitrinen der Ausstellung sind mit Verben im Infinitiv überschrieben, die für einzelne Medienpraktiken stehen und als solche für die trajectoire der Texte entscheidend sind. „Anonymisieren“ heißt zum Beispiel die Vitrine, in der die Märchen aus Afrika heute als Beispiel der zweiten, dritten, vierten, n-ten Verwertung von Bänden wie dem von Meinhof stehen. In einer Verlagswerbung von Diederichs ist von „namenlosen Poeten“ die Rede, womit die afrikanischen Texte in ein romantisches Programm von „Volkslied“ und „Volksseele“ eingepfercht werden sollten. Diese gewollte Namenlosigkeit lässt sich durch Provenienzforschung in einigen Fällen rückgängig machen. Die Namen von Erzähler*innen, die wir im Seminar ermitteln konnten, sind gerastert auf den Vitrinenscheiben angebracht – als Folie, durch die man auf die europäischen Publikationen schaut.

Nach einem theoretischen Aufschlag konzentrieren sich die folgenden acht Vitrinen auf Medienpraktiken, die für den kolonialen Literaturtransfer relevant waren. (Foto: Bernd Wannenmacher)

Damit sollen die Texte nicht aus dem einen Extrem in ein anderes, aus der neu-romantischen Anonymität in ein europäisches Verständnis individueller Autorschaft übertragen werden. Es geht zunächst um eine Aufmerksamkeit auf die Situiertheit der Texte: Die zweite Vitrine beschäftigt sich deshalb mit der Aufzeichnungssituation und ihren vielen Variablen. Erzähler*in, Übersetzer*in und Ethnolog*in hatten Einfluss auf den Text, konnten ihn kürzen, ergänzen, neu deuten oder dem Geschmack des Publikums anpassen. Wurden die Geschichten und Lieder freiwillig preisgegeben oder kamen Zwang und Gewalt zum Einsatz?

An dieser Frage setzt auch die Forschung von Mèhèza Kalibani an, der als Kurator bei der Stiftung Historische Museen Hamburg an einer postkolonialen Erinnerungskultur arbeitet. Seine Masterarbeit Das koloniale Ohr beschäftigt sich ebenso wie die kürzlich eingereichte Dissertation mit dem Phonogrammarchiv des Ethnologischen Museums Berlin. In den Archivbeständen finden sich kaum Erzählungen und „Märchen“ – die Wachswalzen waren für längere Aufnahmen ungeeignet. Stattdessen ging es den Gründern um eine Sammlung der Lieder der Welt, ein musikethnologisches Projekt, an dessen Material sich aber erneut die Avantgarde, zum Beispiel Tristan Tzara, bediente.

Mèhèza Kalibani hielt den Gastvortrag zur Ausstellungseröffnung: „Stimmen als Beute: Wie Gesänge und Sprichwörter von Kolonisierten nach Berlin gelangten“. (Foto: Bernd Wannenmacher)

Für den Eröffnungsabend der Ausstellung konnten wir Mèhèza für einen Gastvortrag gewinnen. Der Aufhänger: „Sali Bonani“, ein auf TikTok viraler Ohrwurm, in dem „Rosy“ vor Spielplatzkulisse ein „Wach-auf-Lied“ aus Simbabwe singt und trommelt – und damit über 20.000 Euro Umsatz gemacht hat. Von hier ging es über die Geschichte des Archivs bis zu einem Zitat des Ethnologen Karl Weule, der beschreibt, wie er einen blinden Sänger gewaltsam vor den Trichter des Phonographen zwang, weil er sich der Aufnahme widersetzte. Solche konkreten Belege für gewaltvolle Aufzeichnungssituationen sind selten. Die meisten Forschungsberichte sparen sie aus.

Schon deshalb darf eine Provenienzforschung, wie wir sie verstehen, nicht bei dem Versuch, Aufzeichnungskontexte zu rekonstruieren, stehen bleiben. Es geht auch darum, die Texte aus ihrer exklusiv europäischen Verwertungs- und Deutungsspirale zu lösen. „Righting wrongs“ nannte es Prof. Te Kahautu Maxwell von der University of Waikato, mit dem wir über ein besonders prominentes Beispiel von ‚looted literature‘ gesprochen haben. Stefan Schawe, Doktorand von Irene Albers, hat die lange und verzweigte Provenienzkette von „Toto Waka“ rekonstruiert, einem Kanugesang der Māori, der wahlweise als rein pragmatisches Arbeitslied, als Lautgedicht oder als linguistisches Beispiel für einen semantisch leeren Text angeeignet wurde. Te Kahautu konnte uns in einer minutiösen Lektüre die Fehler schon der ersten Übersetzung durch den Ethnologen Edward Shortland (1854) vorrechnen und so die davon ausgehenden Fehldeutungen erklären. Der genealogische Sinn, der in vergleichbaren Liedern bis heute erhalten ist, ging völlig verloren.

Ein Exzerpt aus der Interpretation von Te Kahautu ist in der letzten Vitrine zu sehen, samt zweier Vorschläge für eine neue Übersetzung des Anfangsteils von ‚Toto Waka‘. Ist das schon Restitution? Kann man Literatur, in Analogie zu geraubter Kunst, überhaupt zurückgeben? Die Frage bleibt auch am Ende der Ausstellung offen. Neben Beispielen kollaborativer Forschung stellen wir die Verschiebung der Teilhabe am globalen Buchmarkt sowie zwei Gedichte im Sinne eines ‚Writing Back‘ als Ansatzpunkte für eine literarische Restitution vor. „poetry is here to slap a face“, heißt es im Gedicht „IT IS NOT WRITTEN“ von Prince Kamaazengi Margena I, und: „ours is not literature but Orature“. Ist also die Frage, ob man Literatur zurückgeben kann, schon falsch gestellt?

Besucher*innen am Abend der Eröffnung. (Foto: Oliver Nickel)

Die Ausstellung versteht sich als Zwischenfazit eines fortlaufenden Forschungsprojekts und wirft deshalb bewusst mehr Fragen auf, als sie beantworten kann. Einzelne offene Fragen haben wir auf schwarzen Stickern in die Vitrinen geklebt: „Was ist hier eigentlich Literatur?“, zum Beispiel, oder unter einer Reclam-Anthologie mit dem Titel Die schönsten Märchen aus Afrika (2021): „Will das jemand geschenkt haben?“ Bisher hat sich noch niemand gemeldet.

Noch bis 21.07.2023 ist die Ausstellung „Literatur als koloniale Beute? Provenienzgeschichten 1910–2021“ zu den Öffnungszeiten der Philologischen Bibliothek der FU Berlin zu sehen. Eine Publikation ist in Vorbereitung.

Andreas Schmid ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin und promoviert an der University of Oxford. Seine Doktorarbeit beschäftigt sich mit Bildbänden und Anthologien zwischen 1890 und 1930, in denen afrikanische Objekte und Texte als Kunst und Literatur gesammelt wurden. Im Fokus stehen die Medienpraktiken, die dieses kollaborative Projekt von Avantgarde und Ethnologie ermöglicht haben.