Die Illustratorin Nadine Merle Stanko kam im Wintersemester 2018/19 im Rahmen des Seminars „Kafkas Erzählungen: Texte und Comicadaptionen“ von Prof. Dr. Irmela Marei Krüger-Fürhoff und Anna Beckmann an die Freie Universität Berlin, um mit Studierenden über ihren noch unveröffentlichten Comic Franz Kafka – Ein Bericht für eine Akademie zu sprechen. Der Comic war 2015 im Kontext eines Kafka-Seminars von Irmela Krüger-Fürhoff entstanden und setzt nicht nur Kafkas Erzählung graphisch um, sondern greift auch auf die Kafka-Forschung zurück. Entstanden ist ein komplexer und farbenfroher Comic, der das Tier-Mensch-Verhältnis, den kolonialistischen Hintergrund und die Strategien des Uneindeutigen in Kafkas Ein Bericht für eine Akademie visuell gestaltet.
Anna Beckmann: In den letzten Jahren sind zahlreiche Comics zu Erzählungen oder Romanen von Franz Kafka erschienen. Ein Bericht für eine Akademie gehört überraschenderweise nicht dazu, obgleich die Geschichte der selbstinitiierten Sozialisation eines Affen zum Menschen sich anzubieten scheint. Was hat Sie an dieser Erzählung gereizt? Und haben Sie Vorbilder für Ihren Comic gehabt?
Merle Stanko: Ich habe im Voraus einige Comic-Adaptionen zu Kafka gelesen. Im Kopf geblieben sind mir zum Beispiel Die Verwandlung von Eric Corbeyran und Richard Horne oder Kafka for Beginners von Robert Crumb und David Z. Mairowitz. Diese Werke waren aber eher so etwas wie Anti-Vorbilder für mich. Sie präsentieren das, was man gemeinhin als das typisch Kafkaeske bezeichnet, in sehr düsteren Bildern. Den Bericht für eine Akademie hingegen habe ich persönlich mit einem Lächeln auf den Lippen gelesen: Da galoppiert dieser Affe geschwind alle Evolutionsstadien hindurch, gelangt zu einer zwar tragischen, aber erhabenen Sonderexistenz im farbenprächtigen Varieté und erteilt der Menschheit mit seinem Bericht eine komische Lektion. Es hat mich sehr gereizt, daraus einen Kafka-Comic zu machen, der frech und bunt ist, aber auch Tiefgang hat, weil er sich mit literaturwissenschaftlichen Theorien auseinandersetzt.
Irmela Krüger-Fürhoff: Welche inhaltlichen Aspekte haben Sie am meisten beschäftigt?
M.S.: Am meisten hat mich beschäftigt, wo die Menschwerdung des Affen anfängt und wo sie aufhört. Wie viel Affe bleibt er, wie viel Mensch wird er und woran kann ich das festmachen? Dabei habe ich mich intensiv mit dem Text beschäftigt, Anhaltspunkte in Textstellen gesucht und natürlich auch viel Sekundärliteratur gelesen. Doch Kafka bleibt in seinem Text stets uneindeutig. Wie kann man die ‚Menschwerdung‘ dieses Affen namens Rotpeter letztendlich beschreiben? Er bleibt ein Sonderling, ist ein Hybrid, eine Mischform. Kafkas Erzählung lässt durch ihre Uneindeutigkeit viele Interpretationsmöglichkeiten zu. Ich musste mir also überlegen, wie ich das Unfassbare dieser Figur sowie ihrer äußeren als auch inneren Entwicklung visuell umsetzen will.
Ein zweites großes Thema war für mich die Charakterisierung des Protagonisten, und wie er seinen Werdegang zum Varietékünstler präsentiert. Die Figur hat etwas so Erhabenes und zugleich Trauriges. Der Protagonist ist der kunstvolle Nachahmer eines Echos, das leer bleibt: Er weiß, dass sowohl die Freiheit der Menschen als auch sein persönlicher Ausweg eine Täuschung sind. Dieser Affe war für mich ein tragischer Held mit viel Biss und Witz; das wollte ich auch durch meine Bilder vermitteln.
Und zuletzt spielten natürlich auch die literaturwissenschaftlichen Ansätze eine große Rolle. Neben meinen eigenen inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem Text habe ich mir also auch viele andere Anreize und Auslegungen angelesen.
A.B.: Ihr Comic ist tatsächlich voller Anspielungen auf literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Kafkas Ein Bericht für eine Akademie. Welche Lektüren oder Theorien haben Sie besonders beeinflusst und wie haben Sie sie umgesetzt?
M.S.: Ich habe mich viel mit Assimilationstheorien auseinandergesetzt und mich dazu entschieden, die erste Seite des Comics mit einer Anspielung auf die Zeitschrift Der Jude zu beginnen, in der die Erzählung ja zuerst erschienen ist. Viele meiner Referenzen habe ich auch aus dem Aufsatz „Genealogie der Schrift“ von Andreas Kilcher und Detlef Kremer, in dem man viel über Kafkas eigene Lektüre und seine Zitierpraxis erfährt. Ich habe Bilder integriert, die sich auf darwinistische und populärwissenschaftliche Diskurse beziehen, den Zirkusdirektor und Dompteur Carl Hagenbeck zeigen und seine umstrittenen Völkerschauen aufgreifen. Außerdem habe ich mich bei der Gestaltung von Rotpeter auf Berichtserstattungen gestützt, die es über den dressierten Affen ‚Consul Peter‘ im Prager Tagesblatt gab.
Dann haben mich auch noch literaturwissenschaftliche Arbeiten über Kafka und das Lachen von Gisbert Kranz und Anna Rutka beeinflusst, die Kafka als heiteren Menschen vorstellen. Mit den bunten Farben in meinem Comic wollte ich die Vorstellung vom Kafkaesken auflockern. Zudem habe ich bewusst Kontraste von bunt und grau eingesetzt. Rotpeter selbst durchläuft zum Beispiel eine ganze Farbwandlung, die für die Wechselhaftigkeit seiner Gestalt steht. Farbe unterstützt hier Interpretationsansätze; so stelle ich ihn am Ende zum Beispiel als grauen Fremdkörper dar, der sich dem Leser in bunten Kleidern präsentiert.
I.K.-F.: Comic-Adaptionen wird häufig vorgeworfen, die literarischen Vorlagen zu vereindeutigen und die Komplexität des Textes durch die Visualisierung zu reduzieren. Was halten Sie von diesem Vorwurf und wie haben Sie die von Ihnen ja schon erwähnten Mehrdeutigkeiten in Kafkas Text graphisch umgesetzt?
M.S.: Natürlich reduziert man einen Text auf etwas Bildliches, aber die Umsetzung dieser Visualisierung muss den Text nicht zwangsläufig vereindeutigen. Ich konnte mir das Medium Comic gerade für die Mehrdeutigkeit zunutze machen. Comics schaffen einen ganz eigenen Leserhythmus, der nicht unbedingt Wort für Wort, Bild für Bild, oder Panel für Panel verfolgt werden muss. Als Zeichnerin kann ich auch bewusst Akzente setzen, den Blick der LeserInnen springen lassen. Zudem entstehen zwischen den Panels und zwischen den Seiten Leerstellen, die die Rezipierenden selbst ausfüllen und logisch verbinden müssen. Das habe ich mir zunutze gemacht: In einem Panel sieht Rotpeter noch aus wie ein Gorilla, im nächsten wie ein Schimpanse. Ist das noch derselbe Affe? Mal ist er groß, mal klein, anfänglich noch bräunlich, dann weiß, dann grau, erst kauernd und zum Ende mit mehr menschlichen Zügen, aufrecht, mit durchschimmernder Haut unter dem sich lichtenden Fell.
Diese Wechselhaftigkeit spiegelt sich auch in der Anordnung der Panels und Gutter, in ihrer Rahmung und Füllung, die Rotpeter in seiner Vielfältigkeit nicht greifen können. Mal hockt er hinter den Gitterstäben, mal steht er davor, mal greift er über die Panels hinaus, mal bleibt er von ihnen eingeschlossen, mal ist er sich selber im Weg. Die Darstellung springt, und mit ihr springt die Handlung, und daraus ergibt sich ein Leserhythmus, der komplex und anspruchsvoll zu dekodieren ist.
Die Stile gleichen sich nicht; einige Seiten sind farbig hinterlegt, andere bleiben weiß; einige Seiten sind nach eher traditioneller Comic-Manier gestaltet, andere lösen diese Konventionen auf. Man schaut und man liest, aber was zuerst? Die Schrift ist wackelig, wie vor kurzem erst erlernt. Sie wuselt in den Textpanels umher, verpasst geometrische Abstände und Einheitlichkeit. Man muss sich beständig auf die neue Gestaltung der nächsten Seite einlassen, auf die unterschiedlichen Größen der Panels, wenn es denn welche gibt, und die Vielfältigkeit in Form, Größe, Farbgebung und Anordnung. Dieser Rhythmus spiegelt einen Teil der (Vor-)Urteile, die über Kafkas Texte bestehen: Sie scheinen unzuverlässig erzählt zu sein, rätselhaft, bedrohlich oder unruhig und sind vor allem eines – schwierig zu dekodieren.
A.B.: Wie war es für Sie, mit diesem Comic wieder in die Universität zurückzukehren und mit Studierenden darüber zu sprechen?
M.S.: Ich fand es richtig spannend, vor allem die Eindrücke und Interpretationsansätze von den Studierenden zu hören und mit ihnen über meine ästhetischen Entscheidungen zu sprechen. Bei solchen Gelegenheiten fällt mir immer wieder auf, dass es mindestens so viele Lesarten wie LeserInnen gibt, so viele verschiedene Blickwinkel. Und es gibt immer wieder Feedbacks und Kommentare zu dem Comic, die mir im Nachhinein nochmal verdeutlichen, wie viel andere in meinem Werk entdecken und wie sie es deuten; manchmal auch Dinge, die bewusst vielleicht nicht beabsichtigt waren. Ich finde es sehr wichtig, dass die Leserschaft sich auch ganz individuell mit dem Werk auseinandersetzt und dass gerade Studierende dazu animiert werden, sich zu äußern und aktiv an Diskussionen zu beteiligen. Das hat richtig gut geklappt und ich war begeistert, wie interessiert die Studierenden waren.
I.K.-F.: Welche Pläne haben Sie mit dem Comic?
M.S.: Am liebsten würde ich viele kleine Adaptionen von Kafkas Erzählungen zusammentragen und als Comic-Anthologie veröffentlichen. Schakale und Araber, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, Der Bau, Forschungen eines Hundes – alles so spannende Texte, mit denen ich mich gerne genauso intensiv wie mit dem Bericht auseinandersetzen würde. Das ist allerdings ein Mammut-Projekt, das finanziert sein will und einige Jahre in Anspruch nehmen würde. Ich hoffe dennoch, es irgendwann einmal umsetzen zu können.
Merle Stanko hat Anglistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin studiert und ist freiberufliche Illustratorin in Sankt Augustin. Nähere Informationen unter www.illumerle.de.
Irmela Marei Krüger-Fürhoff ist Professorin für neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und leitet ein Forschungsprojekt zu Krankheitserzählungen in Literatur und Comics (www.fsgs.fu-berlin.de/pathographics).
Anna Beckmann ist Stipendiatin an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin und promoviert über unzuverlässiges Erzählen im Comic.