Seit der deutschen Übersetzung von Didier Eribons Retour à Reims 2016 und spätestens seitdem Annie Ernaux 2022 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, ist das Phänomen der Autosoziobiographie zum neuen heißen Thema in literarischen Kreisen geworden.

Der Workshop „Autosociobiography: Global Entanglements of a Literary Phenomenon” an der FU Berlin hat den globalen Resonanzen des Genres nachgespürt.

von Mrunmayee Sathye

Der Begriff der Autosoziobiographie ist auf Annie Ernaux zurückzuführen, die ihre Werke als „weniger autobiographisch als auto-sozio-biographisch” beschreibt, weil ihr die Autobiographie in ihrer Konnotation von „Autor*in spricht über sich“ zu reduktiv und unzureichend erscheint. Diese Form des Schreibens wird als Hybrid zwischen (autobiographischer) Literatur und soziologischer Analyse verstanden und gehört zu den aufkommenden Gattungsphänomenen unserer Zeit. Theoretisierungsversuche in den letzten Jahren bestimmen Autosoziobiographien als „Darstellungen individueller Lebensgeschichten, die von einem Klassenwechsel qua Bildung und dessen Hindernissen erzählen und sich zugleich als Analysen der Mechanismen von Reproduktion und Nicht-Reproduktion bestehender Sozialverhältnisse zu erkennen geben“ (Eva Blome).

Eines steht jedenfalls fest: Klasse ist wieder in.

Autosoziobiographische Texte rücken eine eigentlich offensichtliche, aber in Verdrängung geratene Tatsache in den Vordergrund: dass Klassenunterschiede nach wie vor existieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee einer transclasse Erzählung, die als Narrativ eines sozialen Aufstiegs bzw. einer Rückkehr eine Überschreitung von sozialen und räumlich markierten Grenzen verkörpert. Dabei wird die Autor*in durch die doppelte Zugehörigkeit und Zugänglichkeit als „Übersetzer*in des Sozialen” positioniert (Carlos Spoerhase). Zum Kanon des jungen „genre in the making” gehören die französischen Autor*innen Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis und in Deutschland Christian Baron sowie Daniela Dröscher. Marcus Twellmann und Philipp Lammers haben angemerkt, dass sich diese neue Gattung auf die deutsche Übertragung eines französischen Genres bezieht, das wiederum vom britischen Kultursoziologen Richard Hoggart inspiriert ist. Allerdings, auch wenn die Autosoziobiographie hierbei als „travelling concept” inszeniert wird, ist der Begriff bisher global betrachtet und über die zwei literarisch-akademischen Sprachräume hinaus nicht sehr weit gereist.

Diese Erkenntnis nahmen die Teilnehmenden des vom 23.-25. März stattfindenden Workshops „Autosociobiography: Global Entanglements of a Literary Phenomenon” als Ausgangspunkt. Der interdisziplinäre Workshop wurde von Johanna Bundschuh-van Duikeren, Marie Jacquier und Peter Löffelbein an der Freien Universität Berlin organisiert und beschäftigte sich mit möglichen globalen Verwicklungen autosoziobiographischer Erzählpraktiken. Im Vordergrund standen Fragen nach den soziohistorischen, transkulturellen und transdisziplinären Dynamiken, die solchen Texten zugrunde liegen bzw. in den Texten zustande kommen. Wie verhalten sich autobiographische, autoethnographische, autofiktionale Erzählungen einerseits im Rahmen der aktuellen wissenschaftlichen Diskurse und andererseits im Zusammenhang mit dem größeren Spektrum anderer Identitätskategorien?

Nach einer einleitenden Präsentation zum Begriff der Autosoziobiographie von Johanna Bundschuh-van Duikeren und Marie Jacquier waren Sidonie Smith und Julia Watson dran – zwei der wichtigsten Figuren der Autobiographieforschung, und der Hauptgrund für meine siebenstündige Bahnreise nach Berlin. Ich muss gestehen, dass ich die erste Stunde des Workshops damit beschäftigt war, zu realisieren, dass ich mich in demselben Raum befinde wie diese zwei Personen, deren Ansätze mich seit Jahren inspiriert und bewegt haben.

Smith und Watson nahmen die Zuhörer*innen auf einen kurzen Flashback in die zahlreichen Neologismen für autobiographische Erzählakte mit, die seit den 1970er Jahren entstanden sind: unter anderem die Autogynographie, Autobiografiktion, Autoethnographie, die etwas witzigere Gastrographie und die in den letzten Jahren immer relevanter gewordene Autofiktion. Somit war der Elefant im Raum bereits angesprochen – braucht man wirklich noch einen weiteren Gattungsbegriff für autobiographische Erzählungen?

Anhand einer Reihe von Fragen haben die Vortragenden den Autosoziobiographiebegriff problematisiert: Was leistet der Begriff bei der Theoretisierung und Analyse von Life Writing (als Oberbegriff für verschiedene Arten autobiographischen Schreibens), was in dieser langen Liste an Genrebezeichnungen nicht bereits abgedeckt ist? Auf welche Weise genau ist die Autosoziobiographie eine systematische Zusammenführung von autobiographischem Schreiben und soziologischer Analyse? Wie genau ist „Expertise” (in Bezug auf das Soziologische) und „Authentizität” (in Bezug auf das Autobiographische) zu verstehen? Wenn man den Kanon erweitert und inklusiver gestaltet, ab welchem Punkt könnte er zu schwammig werden, um als effektives Analyseinstrument zu funktionieren? Wie genau stellt man sich das vor, die Autosoziobiographie nach hinten in die Vergangenheit sowie nach außen in die Welt zu erweitern?

Wenn es davor noch nicht klar war, wurden während des Vortrags zwei Sachen sehr deutlich: dass die beiden Vortragenden über viele Jahrzehnte hinweg eine unübertreffbare Expertise im Bereich Life Writing erarbeitet haben, und dass das Wort Autosoziobiographie furchtbar schwer auszusprechen ist.

Nach einem Sektempfang beim öffentlichen Abendprogramm kam dann die Soziologie unmittelbar ins Gespräch mit der Literatur: im Rahmen eines Vortrags von der Soziologin Julia Reuter (Universität zu Köln), die Mitherausgeberin des Sammelbands Vom Arbeiterkind zur Professur ist, und einer Lesung von der Autorin Daniela Dröscher aus ihrem autosoziobiographischen Buch Zeige deine Klasse.

Dem Ziel des Workshops, die Autosoziobiographie als „travelling concept” in ihrem Potenzial zu globalen Verwicklungen zu überprüfen, ist die thematische Vielfalt im Programm jedenfalls gerecht geworden. Mit Teilnehmenden aus dem Spektrum der polnischen, deutschen, spanischen, japanischen, nigerianischen, französischen, griechischen, US-amerikanischen und schottischen/englischen Literaturwissenschaften war bereits eine breitaufgefächerte, transnationale Gesprächsebene etabliert.

In seinem Vortrag gab Paweł Rodak (Universität Warschau) spannende Einblicke in die polnische Tradition von Memoir-Wettbewerben, die zwischen 1918 und 1939 durch das Polnische Soziologische Institut organisiert wurden. Die Teilnehmenden waren (hier wird bewusst nicht gegendert, da es ausschließlich um männliche Personen handelte): Bauern, Arbeitslose, Arbeiter, Migranten, Jugendliche – prekäre soziale Gruppen, die häufig als Leser und Autoren der ersten Generation die Möglichkeit ergriffen, vom eigenen Leben zu erzählen. Faszinierend dabei ist einerseits die schiere Anzahl an Memoiren, die bei mehr als 1500 Wettbewerben in diesem relativ kurzen Zeitraum entstanden sind, aber auch die Art und Weise, wie sich dabei Soziologie und Literatur gegenseitig verhielten. Im Gegensatz zum heutigen Begriff der Autosoziobiographie lag der Fokus nicht auf dem sozialen Aufstieg als Beispiel einer erfolgreichen Flucht/Bewegung, sondern auf der (mitunter kritischen) Beschreibung einer klassenbewussten Erfahrungswelt.

Workshop „Autobiography: Global Entanglements of a Literary Phenomenon“ (c) P. Löffelbein

Darüber hinaus behandelten die Vorträge autobiographische Ausdrücke des postkolonialen Subjekts in nigerianischen Texten (Ayodeji Isaac Shittu, Redeemer’s University Ede), autofiktionale Texte aus Spanien (Jobst Welge, Leipzig), autosoziobiographische Aufstiegsnarrative in japanische Bildungsromanen (Christopher Schelletter, Kobe University), autobiographische Texte an der Grenze zwischen Geschlecht und Aristokratie bzw. Klasse und Nation in der griechischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Michail Leivadiotis, FU Berlin), Bezüge auf das Erbe James Baldwins in zeitgenössischen Texten von Schwarzen US-amerikanischen Autor*innen (Florian Sedlmeier, Bochum), postkolonialtheoretische Referenzen in Eribons Schriften (Christina Ernst, ZfL Berlin) und dynamische Temporalitäten, working class-Identität und Armutserfahrungen in schottischen Autosoziobiographien (Peter Löffelbein, FU Berlin).

Beim letzten Vortrag brachte Marc Ortmann (LMU München) den Workshopraum zum Kern des autosoziobiographischen Kanons nach Frankreich zurück – mit einer Diskussion des ganz frisch erschienenen Buchs von Geoffroy de Lagasnerie, das Ende 2023 mit dem Titel 3 – Ein Leben außerhalb: Lob der Freundschaft auf den deutschen Markt kommt. Der grundlegende Gegenstand der Erzählung, nämlich die Freundschaft zwischen Lagasnerie, seinem Lebenspartner Didier Eribon und Édouard Louis, spielt unmittelbar in der crème de la crème der Pariser Gegenwart. Als Passagen aus dem Buch vorgelesen wurden, in denen die drei Protagonisten sich Wein schlürfend über Literatur unterhalten, kam der Raum zu einem amüsanten Konsens: Das sei einfach so französisch, was sie da tun.

In der spannenden, bereichernden Diskussion über drei Tage hinweg sind im Endeffekt mehr Fragen aufkommen als Antworten, was der Wissenschaft durchaus guttun kann. Aber auch mein eigenes Unbehagen mit dem Begriff der Autosoziobiographie hat sich im Laufe des Workshops verstärkt:

Der bisherige autosoziobiographische Kanon besteht aus stilistisch sowie inhaltlich hervorragenden literarischen Erzählungen, deren Autor*innen man allerdings auch anmerken muss, dass sie persönlich aus einem sehr spezifischen (weiß-europäischen) Identitätskomplex stammen. Das ist weniger ein Problem der Erzählungen selbst, die im Kontext der Selbstbildung auch Sachen wie Geschlecht und sexuelle Orientierung thematisieren und mit Klassenerfahrungen ins Gespräch bringen. Spätestens der wissenschaftliche Autosoziobiographie-Diskurs selbst ist allerdings auf das Konzept der Klasse fixiert, und das führt zu Irritationen. Erstens werden allzu oft jegliche weiteren Identitätserfahrungen als sekundär eingeordnet – als würde die Erfahrung von Klasse in einem weiß-europäischen Innenraum existieren und mit anderen Identitätskategorien höchstens als Fußnote interagieren. Zweitens entsteht der Eindruck, als wäre eine legitime, ernstzunehmende Darstellung von Klasse als Differenzerfahrung ausschließlich durch einen sozialen Aufstieg erzählbar – und das nicht einmal bloß finanziell wie beim altbewährten Narrativ des American Dream, sondern noch abgehobener – wissenschaftlich, intellektuell, eine gewisse Qualifikation der Analysefähigkeit voraussetzend.

Da kommen weitere Fragen auf: wie verhält sich das autosoziobiographische Projekt jenen Erzählungen von Klassenerfahrungen gegenüber, deren Autor*innen keinen sozialen Aufstieg erlebt haben und keinen Zugriff auf diese Art von „akademischer Expertise“ haben? Wie positioniert es sich zu der Beobachtung, dass die Wahrnehmung von Herkunft bei der Lektüre von autobiographischen Erzählungen migrantischer Autor*innen häufig auf Ethnie, Religion, „kulturellen Unterschieden“ und Race verlagert wird, aber nicht gleichermaßen auf Klasse? Oder gibt man sich weiterhin mit der unterschwelligen Annahme zufrieden, dass die deutsche oder französische Gesellschaft noch heute als primär weiß-christlich verstanden wird, in der die Hauptdifferenzkategorie die Klassenzugehörigkeit ist?

Ist es heute im globalisierten, neokapitalistischen 21. Jahrhundert nicht problematisch, Klasse als abgekapselte Kategorie innerhalb einzelner westlichen Gesellschaften zu lesen, ohne ausdrücklich auf post- und neokoloniale Verwicklungen Bezug zu nehmen, die den Erfahrungshorizont von Klassenunterschieden in Europa weiterhin stark beeinflussen? Ist es nicht eventuell zu kurz gedacht, die Wahrnehmung „der Soziologie“ als Disziplin primär auf einen französisch-deutschen Korpus an Denker*innen, Quellen und Kontexten zu basieren, wenn es für die Soziologie in den USA oder in Indien unabdingbar ist, sich mit sozialen und kulturellen Strukturen von Race oder Kaste im Zusammenhang mit Klassenunterschieden und Hierarchien auseinanderzusetzen? Deutet ein eingeschränkter Fokus auf Klasse als selbstständiges und als selbstverständlich deutsch-französisches Phänomen nicht auf eine veraltete Perspektive kolonialer Wissenschaftskultur? Bis der Kanon der Autosoziobiographieforschung sich erweitert und verkompliziert, wird diese Weise, Soziologie, Autobiographie und Klassenerfahrung zu denken und zu theoretisieren, wahrscheinlich weiterhin ein wenig reduktiv wirken. Und darin steckt dann die Frage der Fragen: Wenn dieser Kanon auch Erzählungen von BIPOC, queeren, migrantischen Autor*innen und Autor*innen mit Behinderung integriert und sich dadurch auf Intersektionen von Klasse und diversen weiteren Differenzerfahrungen konzentriert, bräuchte man dann noch den Begriff?

Mrunmayee Sathye hat Geschichte, Philosophie und Literatur- und Kulturtheorie in Pune und Tübingen studiert. In ihrer Dissertation behandelt sie intersektionale Subjektivitäten in zeitgenössischen auto/biographischen Narrativen.

(c) Titelbild: C. Lodge, St Ives/Cornwall, 1906 (wikicommons)