Die gegenwärtige Literaturwissenschaft sollte sich nicht nur mit ihren kanonischen Werken und Diskursen beschäftigen, sondern auch mit dummen Fragen und populistischen Themen. Würde man diesen Fragen und Themen so gewissenhaft nachgehen wie der Lektüre Kafkas oder Benjamins, könnte sich eine neue Literaturwissenschaft mit einem neuartigen Wissen im öffentlichen Raum etablieren.
von Manuel Clemens
Was für eine Krise der Germanistik ist das, wenn der Spiegel sie für tot erklärt und die Germanistik ein paar Tage später aus der FAZ fröhlich grüßt und sagt, dass die Nachricht über ihr Ableben stark übertrieben ist?
Der Spiegel findet die gegenwärtige Germanistik vor allem nutzlos. Es gäbe zu viele, die sie studierten und erforschten. Darüber hinaus sei ihr Wissen oft zu weltfremd und langweilig. Ihre Studienanforderungen seien allerdings so gering, dass sie hauptsächlich von denen studiert werde, die nicht wüssten, was sie sonst studieren sollten. Dadurch, so könnte man folgern, werde die Germanistik sogar noch nutzloser, weil sich Schmalspurstudenten einem Schmalpurfach widmen und dadurch den Zug dieses Fachs endgültig zum Stehen bringen.
Die Germanisten aus der FAZ halten dagegen, dass die Germanistik nicht sinnlos ist und es dort etwas gibt, das man auch außerhalb des Fachs gut gebrauchen kann: Komplexität. Die Kompetenzen für Beobachtung, Analyse und sprachlichen Ausdruck würden durch ein Germanistikstudium so gut geschult, dass der Wille und die Sensibilität zur Reflexion komplexer Sachverhalte bei den guten Absolventen nahezu unerschöpflich seien.
Wo ist dann aber die Krise? Sie könnte darin bestehen, dass sich der Vorwurf der Nutzlosigkeit und die Verteidigung der Germanistik mit ihren Komplexitätsleistungen nicht richtig aufeinander beziehen, weil der Spiegel nach Inhalten fragt und die FAZ mit Kompetenzen antwortet. Die Schulung des Komplexitätsbewusstseins ist zweifelsohne etwas, das die Germanistik leisten kann. Nur leben wir in einer Welt, in der dieses Bewusstsein nicht immer so viel Ansehen erhält wie in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Dafür muss sie noch nicht gleich postfaktisch sein. Ein gewöhnlicher Pragmatismus reicht dafür schon aus.
Der Spiegel-Artikel sah die Nutzlosigkeit der Germanistik deshalb wohl eher in Bezug auf die pragmatische Welt, die nichts damit anfangen kann, wenn komplexe kulturelle Kompetenzen in der Lehre und Forschung über Hölderlin geschult werden, weil es unklar ist, ob diese überhaupt in die Gesellschaft zurückwirken. Man kann dagegen einwenden, dass Rückwirkungen aus den Geisteswissenschaften nie direkt sichtbar sind, da sie indirekt und über Umwege wirken. Nur überzeugt das aber nicht die pragmatische Welt, die wiederum mehr sehen möchte als nur eine zurückgezogene Germanistik, die im Hintergrund agiert und dort möglicherweise die Fäden zieht.
Wilhelm Meister aus Goethes gleichnamigen Bildungsroman wollte erst einmal eine lange Reise durch die Welt des Theaters, der Außenseiter und Adligen unternehmen, bevor er geformt und geschliffen genug war, um in die bürgerliche Gesellschaft einzutreten. Diesen zweckfreien Raum bietet die Germanistik ihren Studenten auch heute noch zur Komplexitätserweiterung an. Leider sind viele junge Leute nicht ganz so gierig nach Bildungserfahrungen wie Wilhelm Meister und treten – wie Wilhelms Freund Werner – als Akteure in die Gesellschaft ein, wann immer sie es für richtig halten. Kompetenzen allein sind schließlich beliebig; man kann sich diese überall und beispielsweise auch als Handlungsreisender oder in Trainee-Programmen aneignen.
Deshalb ist die von der FAZ beschriebene Hintergrunds-Germanistik der kulturellen Kompetenzen nahezu unsichtbar. Man kann diese nur erkennen, wenn man lange in ihr verweilt hat und bereits am Anfang von ihrem Sinn überzeugt war. Was steht bei einem begeisterten Studium der Germanistik im Vordergrund? Sicherlich nicht die Kompetenzschulung aus dem Hintergrund, sondern die Inhalte des Fachs. Die Kompetenzen kommen nachträglich dazu und sind nur so gut, wie die Intensität mit der man sich für das Fach begeistert.
Ein starker Inhalt würde die Germanistik deshalb sichtbarer machen als eine Kompetenzorientierung. Er könnte in die pragmatische Welt hineinkommunizieren, für Bildungsreisende, die wie Wilhelm Meister auf der Suche nach Welterfahrung sind, attraktiv werden und die Kompetenzschulung nicht im leeren Raum, sondern mit intensiven Inhalten interagieren lassen.
Dafür müsste man keine neuen Inhalte aus dem Hut zaubern. Die Öffnung der Germanistik in Richtung Kultur- und Medienwissenschaft ist da sicherlich ein richtiger Weg. Auch müsste man versuchen, nicht nur die Kompetenzleistungen, sondern auch die Inhalte des Fachs in der Gesellschaft zu vermitteln. Das ist oft nicht leicht und dafür scheint es vielleicht sogar eines Zaubertricks zu bedürfen. Die Beschäftigung mit der Fiktionalisierung der Politik, wie sie der Spiegel vorgeschlagen hat, wäre momentan aber ein geeignetes Thema für diesen Vermittlungsversuch – die Kompetenzen, sich in dieses Themenfeld einzuarbeiten, besitzen die Germanisten ja.
Manuel Clemens promovierte 2013 an der Yale University mit einer Dissertation über „Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Eine kleine Theorie der Bildung.“ Derzeit unterrichtet er German Studies an der Rutgers University in New Jersey. Seine jüngste Veröffentlichung ist der Aufsatz „Dumme Fragen beantworten. Für einen populistischen Turn in der Literaturwissenschaft“ (KulturPoetik, Heft 16, Vol. 2, 2016)