Till Breyer hat kürzlich seine Doktorarbeit bei Joseph Vogl an der Humboldt-Universität abgegeben. Darin geht er den Darstellungsproblemen der politischen Ökonomie nach.
Interview von Dennis Schep
Worum geht es in deiner Arbeit?
In meiner Dissertation („Chiffren des Sozialen. Realistisches Erzählen und politische Ökonomie im 19. Jahrhundert“) habe ich versucht, den Zusammenhang von realistischen Erzählweisen und ökonomischen Wissensgegenständen im 19. Jahrhundert zu beleuchten. In den letzten Jahren sind gerade zum Verhältnis von Realismus und Ökonomie einige Studien erschienen, denen gegenüber ich den Fokus noch einmal etwas verschieben und ausweiten wollte. Zum Beispiel wird häufig ein Schwerpunkt entweder auf die deutsche „historische Schule der Nationalökonomie“ oder auf die Herausbildung der neoklassischen Wirtschaftslehre Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Ich habe demgegenüber versucht, übergreifende Semantiken und begriffsgeschichtliche Konstellationen zu beleuchten, die das ökonomische Wissen im mittleren und späten 19. Jahrhundert insgesamt umtreiben. Vor allem die Genese des historischen Materialismus spielte da für mich eine zentrale Rolle. Die Theoriegeschichte, die sich um Marx und Engels entspinnt, lässt sich in manchen Teilen als ein regelrechtes Spiegelkabinett des ökonomischen Wissens ihrer Zeit betrachten, das mit den wissenschaftlichen, aber auch mit den literarischen Diskursen in engem Kontakt steht und und dabei immer wieder polemisch-rhetorische Leuchtfeuer produziert. In diesem Licht bin ich einigen Fragen nachgegangen: Wo liegen die ästhetischen, rhetorischen und narrativen Dimensionen von ökonomischen Konzepten wie „Produktion“, „Kapital“, „Krise“? Auf welcher Ebene lassen sie sich mit literarischen Erzählverfahren in Verbindung bringen? Welche grundlegenden Probleme werden in ihnen verhandelt, und wie haben sie den Gesellschaftsbegriff und die Wirklichkeitsauffassung des 19. Jahrhunderts geprägt? Von diesen Fragen her habe ich verschiedene Werke von Autor*innen wie Keller, Raabe, Dickens, Gaskell, Zola und anderen analysiert. Nicht so sehr um zu zeigen, dass diese mit Blick auf die ökonomische Wissenschaft „up to date“ waren oder sich auf wissenschaftliche Fragen beziehen – auch das ist natürlich interessant –, sondern weil in der Literatur häufig der Problemgehalt nationalökonomischer Begrifflichkeiten viel ambivalenter und kontexthaltiger zum Tragen kommt. Der rote Faden, der meine Untersuchung zusammenhält, ist dabei die Problemgeschichte des Begriffs der „kapitalistischen Gesellschaft“ oder des „Kapitalismus“. Der Begriff taucht nicht vor 1850 auf und etabliert sich als Schlagwort in Wissenschaft und Publizistik erst allmählich seit den 1880er Jahren. Meine Arbeit fragt nach der Bedeutungs- und Problemkonfiguration, die den Begriff Kapitalismus im 19. Jahrhundert strukturiert und umspielt hat.
Welcher Wirklichkeitsbegriff liegt der politischen Ökonomie im 19. Jahrhundert zugrunde?
Der Philosoph Hans Blumenberg hat einmal die These aufgestellt, dass der moderne Roman erst möglich wurde, als Wirklichkeit nicht mehr als göttlich garantierte Wirklichkeit (wie im Mittelalter), sondern nur noch als kohärente, in sich stimmige Wirklichkeit konzipiert wurde (ihm zufolge seit der Frühen Neuzeit). Ich glaube, dass die politische Ökonomie im 19. Jahrhundert hier neue Probleme hervorgebracht hat oder auf sie gestoßen ist. Dabei würde ich „politische Ökonomie“ als eine bestimmte Wissensform verstehen, die natürlich zuerst auf den historischen Materialismus und die klassische englische Wirtschaftslehre verweist, die aber auch überall dort ins Spiel kommt, wo der Geld- und Warenverkehr nicht als natürliche und harmonische Ordnung aufgefasst wird, sondern mit Formen der Abhängigkeit bis hin zu Gewaltverhältnissen assoziiert oder enggeführt wird. Das wäre die Dimension des Politischen, die in der Nomenklatur von Nationalökonomie oder economics ausgeblendet wird. Diese Dimension bringt im 19. Jahrhundert eine Reihe von offenen Fragen und von Darstellungsproblemen hervor und hinterlässt auch Spuren in dem, was als wirklich erscheint. Da sind zum Beispiel frühe soziologische und sozialethnographische Beobachtungen an solchen neuen, zugleich faszinierenden und erschreckenden Orten wie dem industriellen Manchester. Das kann man bei Autoren wie Cooke Taylor und dem jungen Friedrich Engels nachlesen, deren Texte intertextuell eng verwoben sind und auch noch in die Szenerien bestimmter Romane von Charles Dickens hineinspielen. Hier zeigt sich jedenfalls: Es sind nicht nur Waren und gesellschaftlicher Reichtum, der hier produziert wird. Es sind vielmehr auch neue Abhängigkeitsverhältnisse, neue Lebensformen (das Proletariat), eine neue soziale und politische Wirklichkeit. Manchester ist kein natürlicher Ort, seine Bewohner bilden keinen Organismus. Beide sind künstlich verfertigt worden. Diese Wirklichkeit lässt sich nicht mehr primär über so etwas wie Kohärenz beschreiben, sie ist vielmehr instabil und brüchig. Die frühe Konjunkturforschung versuchte, die Zeichen dieser Brüchigkeit zu erkennen und in eine zyklische Berechenbarkeit zu überführen – mit mäßigem Erfolg, auch wenn der französische Ökonom Clément Juglar eine Weile „prophète des crises“ genannt wurde.
Wie werden diese Darstellungsprobleme in der Literatur verhandelt?
Im Unterschied zur ökonomischen Wissenschaft, die sich – wie vielleicht jede Wissenschaft – den Anschein gibt, als würde sie Probleme lösen oder lösen müssen, scheint mir der methodische Vorteil der Literatur zu sein, dass sie diese Probleme einfach produzieren oder verkomplizieren kann und dabei überhaupt nicht ihre Funktion verfehlt. Gerade realistische Erzählweisen, die sich nicht um das Abspiegeln der Wirklichkeit, sondern gerade um ihre Infragestellung und die Entlarvung konsensueller Auffassungen bemühen, haben die verborgene Wirksamkeit der kapitalistischen Ökonomie bemerkt und aufgezeichnet. Natürlich nicht unvermittelt, so als würden die Romane die ökonomische Wirklichkeit einfach nur abschreiben müssen, sondern jeweils eingebunden in ihre wissens-, begriffs- und problemgeschichtliche Konstellation.
Aber wie tauchen diese Probleme auf? Zum Beispiel wird in zahlreichen realistischen Erzähltexten überall dort, wo sich das Subjekt in ökonomische Verhältnisse eingebunden zeigt, zugleich die Repräsentation dieser Zusammenhänge problematisiert. Geldzeichen lösen sich auf, Verträge sind unzuverlässig, Überweisungen haben nicht funktioniert, begehrte Objekte verpuffen, Wertpapiere sind im Kurs gefallen usw. Das ist etwa in Kellers späten Roman Martin Salander in fast groteskem Ausmaß der Fall, in anderer Weise bei Zola und Gaskell. Es geht also darum, ob die Repräsentationsformen, in denen sich die Wirklichkeit selbst darstellt – noch vor ihrer zweiten, erzählerischen Darstellung – überhaupt konsistent ist. Der Realismus hat hier verschiedene Techniken ausgebildet, um diese ins Wirkliche bereits eingelagerten Repräsentationsformen zu prüfen, zu kritisieren, oder auch ihre Unzuverlässigkeit noch weiter zu treiben und sie darüber sozusagen abzunutzen. Eine Mischung daraus kennzeichnet zum Beispiel Fontanes letzten Roman Der Stechlin. Ich denke, der Roman dreht sich vor allem um die Frage, wie sich gesellschaftliche Krisenprozesse erzählen lassen, die sich nicht von selbst zeigen, die sich also nicht zu einem repräsentierbaren Ereignis verdichten. In einem Brief teilte Fontane seinem Verleger zufrieden mit, dass auf den 500 Seiten des Stechlin praktisch nichts passiere. Gerade auf dieser ereignisfreien Textfläche sollte sich die Brüchigkeit seiner Zeit abzeichnen. Dabei wird auch die Form des Romans selbst infrage gestellt. Um die Realität der Krise aufzuzeichnen, braucht es einen Roman, der nicht mehr realistisch ist – das war vielleicht Fontanes poetologische Vermutung.
Unzuverlässige Zeichen und verdeckte Krisen… Kann man behaupten, dass sich daraus eine spezifisch moderne Hermeneutik speist?
Ich denke, dass sich am ökonomischen Wissen im 19. Jahrhundert viele Konstellationen ablesen lassen, die weit ins 20. Jahrhundert hinein gültige oder einflussreiche Interpretamente geblieben sind. Theoriegeschichtlich lässt sich das etwa bei einem Philosophen wie Jean Baudrillard beobachten, dessen Krisenbegriff ja zentral mit der Vorstellung einer Entleerung und freien Fluktuation von Zeichen und einem Ende der materiellen Produktion verbunden ist. Viele Bauteile seiner Argumentation lassen sich in den nationalökonomischen Abhandlungen und der politischen Publizistik, ja sogar in den parlamentarischen Reichstagsverhandlungen des späten 19. Jahrhunderts wiederfinden, in denen etwa beklagt wurde, dass bestimmte Geldzeichen keinen wirklichen, sondern nur noch einen fiktiven, imaginären Wert hätten, der sich von der wirklichen Arbeit entkoppelt habe. Aber die Richtung einer solchen „Archäologie“ heutiger Konstellationen funktioniert für mich auch umgekehrt: In mancher Hinsicht sind die Intuitionen und Verfahren der realistischen Literatur, etwa von Raabe oder Fontane, und natürlich von Theoretikern wie Marx, äußerst instruktiv, sie haben uns noch viel zu sagen. Nicht unbedingt auf der Ebene von positiven Aussagen oder postulierten Gesetzmäßigkeiten, sondern auf der Ebene ihrer grundsätzlichen Fragerichtung und ihres Bewusstseins dafür, dass es bei der politischen Ökonomie auch um den Kampf um bestimmte Wirklichkeitsauffassungen geht. Ein gutes Beispiel ist der Krisenbegriff, der im 19. Jahrhundert überhaupt erst zu einem ökonomischen Terminus wurde und eine faszinierende Strahlkraft und semantische und theoretische Komplexität entfaltete. Sobald der ökonomische Krisenbegriff nicht mehr nur ausnahmsweise Ereignisse bezeichnete, sondern vielmehr auf eine grundlegende Tendenz der modernen Gesellschaft verwies, die durch Konzepte von „Gleichgewicht“ und „Wachstum“ nicht abgebildet wird, wurde es möglich und notwendig, gesellschaftliche Prozesse neu zu entziffern. Diese Hermeneutik, die der historische Materialismus ebenso vorangetrieben hat wie bestimmte realistische Erzählweisen, ist in der Wirtschaftswissenschaft des 20. Jahrhunderts, so mein Eindruck, tendenziell durch einen technokratischen Ausnahme-Krisenbegriff sowie durch das eher naturalisierende Modell der Konjunktur verdrängt worden. Die wirtschaftstheoretischen Lektüreprämissen haben sich also verschoben, aber die Problematik der Krise ist heute ebenso ungebrochen wie die Schwierigkeit, sie lesbar zu machen und ihre Schauplätze im Blick zu halten.
Till Breyer arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum.