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In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.

Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser Herr der Negativität seiner Kampfposition. Wahrscheinlich kann man vom Nicht-Wollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müßte […].1

Nein-Sagen, so darf man diese Sätze auch jenseits ihres literatur- und zeitgeschichtlichen Kontextes verstehen, ist keine „Kampfposition“; im Nein-Sagen äußert sich weder starker Wille noch Widerstandfähigkeit; die reine „Negativität“ ist wirkungslos, mehr noch: Sie macht sich zur Komplizin des Verneinten, wo sie nicht mit tatsächlichem Handeln einhergeht. Vor allem „seelisch“ verfehlt die Position des Nicht-Wollens das tatsächliche Leben, zeugt von einem irrigen Selbstbewusstsein, beruht auf Selbsttäuschung und führt letztlich ins Einverständnis. Überdies, wo lediglich auf subjektiv freiem Willen beharrt wird, da wird mittel- oder langfristig die „Freiheitsidee“ selbst verabschiedet.

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Aus Thomas Manns 1930 erschienener Novelle „Mario und der Zauberer“, die im Untertitel „ein tragisches Reiseerlebnis“ ankündigt, stammen diese Sätze. Erzählerisch und argumentativ gehören sie nach meinem Verständnis zu den wichtigsten im dramatischen Geschehen um Auftritt, Triumph und Ermordung des zweifelhaften Zauberkünstlers und Hypnotiseurs Cipolla. Sie markieren einen Höhe- und Wendepunkt im Erzählgeschehen, und zugleich illustrieren sie einen Lern- und Erkenntnisprozess seines Erzählers. Während eines langen Abends verfolgt er als Vater mit seinen Kindern die zunächst harmlos anmutenden Karten- und Ratespiele eines Zauberers. Von Beginn an erscheint er („mit scharfem, zerrüttetem Gesicht, stechenden Augen, faltig verschlossenem Munde“) als narzisstisch-autoritäre Persönlichkeit; durch Aussehen, Auftreten, Reden und Tun fasziniert, provoziert und manipuliert er sein Publikum. Für den Erzähler und Vater ist offenkundig: „Irgendetwas war mit seiner Figur nicht in Ordnung, vorn nicht und hinten nicht“ (674). Der „bucklige Scharlatan“ und „marktschreierische Possenreißer“ (ebd.) mit seiner „asthmatisch-metallischen Stimme“ (678) entfaltet eine enorme Wirkung: Seine hypnotischen Fähigkeiten richten sich erfolgreich darauf, den Willen Einzelner in exemplarischen Situationen zu brechen; Menschen tun, wovon sie nur wenige Minuten zuvor erklärt hatten, dass sie es gewiss nicht tun werden; eine Frau wird in Anwesenheit ihres Mannes und vor begeistert applaudierendem Publikum zu privaten Geständnissen veranlasst; schließlich bringt der fragwürdige Künstler den einfachen Mann aus dem Volke, den Kellner Mario, in einen Trancezustand, aus dem heraus er seinen Verführer für seine Geliebte hält und küsst.

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Die manipulativ-hypnotischen Fähigkeiten Cipollas werden von verallgemeinernden, philosophischen Reden begleitet, durch die das Handeln des Zauberers und mit ihm die gesamte Novelle zur politischen Parabel wird. Von Gehorsam und Führertum spricht Cipolla begleitend zu seinem hypnotisierenden Tun; vom Glück der Unterwerfung, von der wirklichen Befreiung, die aus dem Verzicht auf Willensfreiheit resultiert. In welchem Maße die Novelle von Thomas Manns Vertrautheit mit dem europäischen Hypnosediskurs, mit Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ (1895) oder Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), zeugt, ist von der Forschung ebenso nachgezeichnet worden wie die biographischen Umstände, die ihn zur Abfassung der Erzählung veranlasst hatten. Tatsächlich hatten Thomas und Katia Mann mit ihren beiden jüngsten Kindern im Spätsommer 1926 einige Urlaubswochen in Forte dei Marmi verbracht. Dort, im Italien Mussolinis, erlebten sie Beispiele von Fremdenfeindlichkeit, Byzantinismus und nationalem Chauvinismus, wie sie im ersten Teil der Novelle beschrieben werden; ebenso die den zweiten Teil bestimmende Vorstellung eines Zauberkünstlers. Lediglich den „letalen Ausgang“, die Ermordung Cipollas durch den öffentlich erniedrigten Kellner, hat Thomas Mann auf Rat seiner Tochter Erika erfunden.

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Damit zurück zu den zitierten Sätzen und zu Komposition und Intention der Novelle. Ihr zeitdiagnostisches Potential ist offenkundig: Im deviant-machtbesessenen Hypnotiseur, der für seine „Vorführungen“ auf Stimulation durch Likör und Zigaretten angewiesen ist und für Vollzug und Vollendung seiner „Künste“ „eine Reitpeitsche mit klauenartiger silberner Krücke“ (675) bzw. eine „pfeifende Ledergerte mit Klauengriff“ – bekanntlich das Symbol faschistischer Herrschaft – einsetzt, illustriert und reflektiert Thomas Mann einen Konnex aus Herrschafts- und Unterwerfungslust, der im Medium des Spektakels und der scheinbar harmlosen Massenunterhaltung seine eigentliche Brisanz entfaltet. Sie wird in doppelter Hinsicht erweitert. Zum einen durch die proto-philosophischen Selbstkommentare des Hypnotiseurs. Der stets beleidigte und also auf Beleidigung zielende Cipolla begleitet seine Experimente mit Reflexionen über die seinem Tun zugrunde liegende Prinzipien. Als einer seiner Probanden aus dem Publikum zunächst beteuert, er werde sich von Cipolla keinesfalls in der Wahl der zu ziehenden Karten beeinflussen lassen, sondern nach eigenem Willen entscheiden, belehrt ihn der Zauberer: Zwar existiere die Freiheit und auch der Wille; die Willensfreiheit hingegen nicht: „Denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigenständiger Sie zu handeln versuchen“ (689). Eben dies geschieht und eben darin erweist sich das Prinzip aller Experimente und „Spiele“, die der Zauberkünstler mit seinem Publikum vollzieht. Die Beteuerung der „Opfer“, sie würden nach eigenem und keineswegs nach dem Willen des Magnetiseurs handeln; und insbesondere die Erklärung eines nicht zufällig als „Freiheitskämpfer“ bezeichneten Gastes, er wolle und werde keinesfalls Cipollas peitschenknallender Aufforderung zum Step-Tanz folgen, all diese Willensbekundungen gehen ins Leere und vergrößern den Triumph des Verführers. Der krönt sein Handeln mit der Erklärung, er allein nehme all diese Anstrengungen auf sich, um die Gemeinschaft der Tanzenden zu begründen. Wille und Gehorsam, Befehlen und Gehorchen gehörten zusammen wie Volk und Führer; die Aufgabe des letzteren sei freilich die schwerste, in ihm werde der „Wille Gehorsam, der Gehorsam Wille“; er sei die „Geburtsstätte beider“ und habe damit die schwerste Aufgabe im abendlichen Geschehen. Man merkt: Schopenhauers Willenslehre und die reaktionär-faschistischen Vorstellungen von Führerkult und Volksgemeinschaft liefern das ideen- und zeitgeschichtliche Substrat der Novelle. Doch das ist nicht alles.

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Denn im Zentrum der als Rechenschaftsbericht und als Dialog mit einem imaginären Lesepublikum angelegten Novelle steht noch ein zweites, nicht minder brisantes Anliegen. Der in den zitierten Sätzen sprechende Erzähler formuliert eine Erkenntnis, die sich schon bei Beginn der zunächst harmlos anmutenden Abendunterhaltung angekündigt hatte und die sich leitmotivisch in die Frage kleidet „Hätten wir nicht abreisen sollen?“. Warum – so fragt der retrospektiv erzählende Vater – hat man den ohnehin unangenehmen Bade-Aufenthalt nicht abgebrochen, warum die für Kinder unbedingt ungeeignete Veranstaltung des fatalen Unterhaltungskünstlers nicht einfach verlassen? Dass dies nicht geschah, dass Faszination und Ekel den Willen des Vaters derart lähmten, dass eine Entscheidung zum Gehen unterblieb, all dies durchzieht reflexiv und narrativ auf ebenso skrupulöse wie erhellende Weise das Geschehen. Die Antwort kulminiert in einem zwischen Schuldeingeständnis und Rechtfertigung changierenden Bekenntnis, dass „Merkwürdigkeit ja in sich selbst einen Wert bedeutet, unabhängig von Behagen oder Unbehagen […]. Soll man ‚abreisen‘, wenn das Leben sich ein bisschen unheimlich, nicht ganz geheuer oder etwas peinlich und kränkend anläßt? Nein doch, man soll bleiben, soll sich das ansehen und sich dem aussetzen, gerade dabei gibt es vielleicht etwas zu lernen“ (669).

Solche Sätze scheinen intellektuelle Neugier und ästhetischen Voyeurismus jenseits von Ethik und Moral zu rechtfertigen; und doch relativieren sie die zitierten Erkenntnisse des Erzählers über die seelische (und damit politische) Dysfunktionalität der Willensfreiheit gerade nicht. Denn das Plädoyer für den pädagogischen Nutzen der Schaulust schließt Kritik am intellektuellentypischen Voyeurismus durchaus ein. Im Gegenteil: Wie die Novelle anschaulich belegt und der Erzähler immer erneut beschämt eingesteht, endet solche Schaulust in der Unfähigkeit zum Entschluss, in Passivität und Akzeptanz des vollmundig Nicht-Gewollten. Von beidem ist das erzählerische Geschehen der Novelle bestimmt: Im Bericht von der faschismusaffinen Massenhypnose und in der reflektierenden Betrachtung des eigenen (Nicht)Handelns, also im Raum der Literatur, versucht der Erzähler sich aus der von Cipolla ausgelösten Lähmung, der auch er als Familienvater mit Verantwortung für zwei unmündige Kinder unterlag, zu lösen.

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„Mario und der Zauberer“ enthält zweifellos kein literarisches Plädoyer für politischen Aktivismus oder wohl gar für den Tyrannenmord. Vielmehr präsentiert die Novelle in der Person eines selbstkritischen Erzählers und das eigene Nicht-Handeln skrupulös reflektierenden Familienvaters eine minutiöse Analyse von Ursachen, Umständen und Wirkungen eines kollektiven nationalistischen Rauschzustandes.

Wenige Monate nach der Erstpublikation der Novelle kam es am 14. September 1930 zum Erdrutschsieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen. Mit 107 Abgeordneten zog sie in den Reichstag ein, bei seiner Eröffnung am 13. Oktober erschien die gesamte Fraktion in brauner Uniform. Vier Tage später, am 17. Oktober 1930, sprach Thomas Mann in seiner berühmten „Deutsche[n] Ansprache“2 von „Stunden, Augenblicke[n] des Gemeinschaftslebens“, wo es zur „seelischen Unmöglichkeit wird“ (DA, 260), im „heiter-eigensinnigen poetischen Unternehmen“(DA, 259) einfach fortzufahren. Unter den „heutigen Umstände[n]“ – eigentlich war eine literarische Lesung verabredet worden – sei es weder „anständig“ noch „irgendwie vertretbar“, im Elfenbeinturm der Kunst ungläubig-neugierig oder angeekelt zuschauend zu verharren. Thomas Manns flammender „Appell an die Vernunft“ (so der Untertitel) im Beethovensaal der Berliner Philharmonie ist zurecht als „heimlicher Kommentar“ zu „Mario und der Zauberer“ gelesen worden. Ich würde sogar noch weiter gehen und in der Novelle passagenweise ein narratives Analogon zu den Beschreibungen aus der „Deutschen Ansprache“ sehen. So wenn Thomas Mann in der Rede vom Oktober 1930 von der „die Glieder werfende[n] Unbesonnenheit“ und der „orgiastisch[n] Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung“ (DA, 269) der nationalsozialistischen Bewegung spricht und präzise diagnostiziert, „Fanatismus wird Heilsprinzip, Begeisterung epileptische Ekstase“ (DA, 268). Für das höchst „fatale“, aber doch zutiefst „befreiende“ (711) Ende der Novelle konnte es in der Rede vom Oktober 1930 naturgemäß kein Äquivalent geben; wohl aber die Hoffnung darauf, dass mit einem Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie, also mit einer gemeinsamen Front gegen die NSDAP, die der Weimarer Demokratie drohende Gefahr abgewendet und dauerhaft überwunden werden könnte.


Irmela von der Lühe, Professorin (a.D.) für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin und (seit Oktober 2013) Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Forschungsschwerpunkte im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur-und Kulturgeschichte, der Literatur des Exils und der Shoah, der Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft sowie der Thomas Mann-Familie.


  1. Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1960, S. 658–711; hier S. 702. Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. ↩︎
  2. Thomas Mann: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft. In: Ders.: Essays Bd. 3, hg. von Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Frankfurt/M. 1994, S. 259–279. Zitate im Text mit dem Kürzel DA + Seitenzahl. ↩︎

Titelbild: Brief Thomas Manns © Thomas-Mann-Archiv Online