Wie können Utopien heute noch gedacht werden? Dieser Frage widmete sich im November die Jahrestagung der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Bericht von Viviana Macaluso, Pedro Mora-Madriñán, Charlotte Rauth und Katie Unwin

„Wenn die moderne Utopie einen Sinn hat, dann sicherlich nicht im Mythos einer Insel, die nirgends ist, sondern im Gegenteil in der Möglichkeit, mit dem Finger überall auf die Übereinstimmung von Text und Wirklichkeit zu zeigen.“

(Jacques Rancière, Kurze Reisen ins Land des Volkes, Wien 2014 [1990], S. 48)

Was Jacques Rancière für das revolutionäre Denken des 18. bis 20. Jahrhunderts feststellte, ist heute undenkbar: Utopische Imaginationen scheinen der Wirklichkeit nicht allein unvereinbar entgegengesetzt zu sein, sondern sich auch als Mythos eines Nicht-Ortes gänzlich aufgelöst zu haben. Im Angesicht von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen wird aktuell vielfach das Fehlen von gesellschaftspolitischen Alternativen und eine Wahrnehmung unserer Gegenwart als Endzeit diagnostiziert, gar das Ende von in sich geschlossenen Narrativen und des Erzählens selbst postuliert. Wie also, so lautete die zentrale Frage der Tagung „Imaginarien der Wirklichkeit. Ästhetiken und Politiken von Utopien“, die am 15. November 2024 an der FU Berlin stattfand, können Utopien heute überhaupt noch gedacht werden?

Den Einstieg in die Tagung bildete die Keynote von Natasha A. Kelly (Universität der Künste Berlin) mit der eingängigen Frage „Wird es in der Zukunft Schwarze Menschen geben?“. Mit Verweis auf die Exklusivität westlicher Utopien beleuchtete sie den Afrofuturismus als kritisches Konzept und stellte dessen Bedeutung für künstlerische und aktivistische Bewegungen im deutschen Kontext heraus. Anhand von Werken wie Martin R. Delanys Blake; or the Huts of America (1859–62), W. E. B. Du Boisʼ The Comet (1920) oder Audre Lordes und May Ayims Gedichten, Essays und aktivistischen Tätigkeiten zeichnete Kelly dabei die Genealogie Schwarzer spekulativer und afrofuturistischer Erzählungen nach und hob die zentrale Rolle einer non-linearen Verwebung vergangener und gegenwärtiger Schwarzer Erfahrungen und Erinnerungen für eine Zukunft hervor, die sich nicht als utopische Hoffnung, sondern als imaginative Wirklichkeit jenseits bestehender Machtstrukturen im Präsens artikuliert. Zugleich positionierte sie den Afrofuturismus als Methode des Widerstands, die mithilfe neuer Technologien und digitaler Medien dominante Narrative herausfordern, Solidarität fördern und Zukünfte kultureller Anerkennung schaffen könne.

Im Sinne des ersten Panels zu Utopien der Vergangenheit setzte sich der anschließende Vortrag von Robert Leucht (Université de Lausanne) mit Wirkungspotentialen westeuropäischer Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts auseinander. Mit Blick auf sprachliche Evokationen von Utopien einerseits und ihre politische Umsetzung andererseits untersuchte er ebenjenes Potential ihrer Verwirklichung exemplarisch anhand von Etienne Cabets Reise nach Ikarien (1842), Theodor Hertzkas Freiland (1889) sowie Josef Popper-Lynkeusʼ Allgemeine Nährpflicht (1912) unter folgender Fragestellung: „Was muss narrativ geleistet werden, um real gestaltbar zu sein?“ Im Zentrum seiner Analyse standen Erzähltechniken utopischer Welten und ihre Effekte, mittels derer sie aus der Fiktion in die Wirklichkeit hereinreichen. Eine Beschäftigung mit historischen Utopien könne, so seine These, helfen, das Verhältnis von utopischer Literatur und Realität auch hinsichtlich unserer Gegenwart genauer zu konzeptualisieren.

Plakat Imaginarien der Wirkliclhkeit Ästhetiken und Politiken von Utopien FSGS Jahrestagung

In die jüngere Vergangenheit blickte Sebastian Schweer (Leibniz Universität Hannover) mit seinem Vortrag zu utopischem Denken und engagiertem Schreiben nach 1989. Mit Bezug auf den von Enzo Traverso geprägten Begriff „metabolism of defeat“ illustrierte er den mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus einhergehenden Zerfall des bis dahin gültigen Bedeutungsrahmens und die Entstehung eines engagierten Erinnerungsromans. In der literarischen Darstellung historischer gesellschaftspolitischer Projekte (wie der „sozialistischen Kybernetik“ im sozialistischen Chile und in der DDR) konnte, so zeigte seine Analyse, ein den Status quo überschreitendes Denken wiederhergestellt werden – jedoch nicht in Form von geschlossenen Utopien, sondern im Modus des Optativs. Abschließend perspektivierte Schweer diese Verfahren in Hinblick auf gegenwärtige literarische und künstlerische Repräsentationen der ökologischen Krise und wies sie als idealen Ort aus, um strukturelle Fragen grundsätzlich neu zu stellen.

Das zweite Panel des Tages widmete sich dem utopischen Denken der Gegenwart. Troels Thorborg Andersen (Humboldt-Universität zu Berlin) stellte in seinem Vortrag die Frage nach dem Entstehen des Utopischen. Ausgehend von Ernst Blochs Prinzip der Hoffnung (1954) sowie dessen Lesetheorie Spuren (1930) betrachtete Andersen Utopien als Folge eines Mangels, der sich in der Literatur niederschlagen kann. Entgegen der weitläufigen These, die Gegenwart sei utopielos, zeigen die Texte Leif Randts und Joshua Groß’ laut Andersen, dass das utopische Denken, einerseits als unerfüllte Sehnsucht nach Liebe und Bindung und andererseits als Suche nach Authentizität, in der Fiktion zu finden ist. Diese „radikale Subjektivität“ werde so im Sinne Blochs zur Verbindung von Imagination und Realität, aus der heraus Utopien entstehen könnten.

Im Anschluss daran befasste sich Friedrike Beier (Freie Universität Berlin) mit einer queerfeministisch-materialistischen Utopie, die von Monique Wittigs 1980 entwickeltem Begriff der „geschlechtslosen Gesellschaft“ ausgeht. Ungleichheiten, die in einer nach Geschlecht differenzierenden und hierarchisierenden Gesellschaft herrschen und sowohl in der Zweigeschlechterordnung, der Geschlechterungleichheit und in der Abhängigkeit der Geschlechter von den Produktionsverhältnissen liegen, müssten laut Beier überwunden werden, um eine sorgezentrierte, egalitäre Gesellschaft zu erschaffen. Bereits das Nachdenken über Utopien stelle im materialistischen Queerfeminismus eine Negation des Bestehenden und damit einhergehend eine kritische Emanzipation von der patriarchalen kapitalistischen Gesellschaft dar. In diesem Sinne formulierte das Publikum abschließend selbst Eigenschaften und Merkmale, die eine Utopie aufweisen sollte.

Die Tagung endete mit einer umfassenden Diskussion mit den Promovierenden der Graduiertenschule Elisa Haf, Gabriel Kombasséré, Omid Mashhadi und Haoying Zhang, die unter der leitenden Moderation von Liliana Ruth Feierstein (Humboldt-Universität zu Berlin) ihre interdisziplinären und epochenübergreifenden Forschungen auf Ästhetiken und Politiken von Utopien hin befragten. So zeigte Haf, wie Reproduktion in den Romanen Everything You Ever Wanted (Luiza Sauma, 2019) und Beautiful World, Where Are You? (Sally Rooney, 2022) als Weg nach Utopia dargestellt wird. Vor dem Hintergrund der häufigen Verknüpfung von weiblichem Glück mit Reproduktion im Rahmen traditioneller heterosexueller Normen hinterfragte sie die Persistenz letzterer und diskutierte das politische und utopische Potential beider Erzählungen. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive beleuchtete Mashhadi das Vermögen der darstellenden Künste, „utopische Momente“ zu schaffen und damit bestehende soziopolitische Strukturen infrage zu stellen. In seinem Impuls skizzierte er die historische Entwicklung utopischer Gesten und reflektierte die Bedeutung von Live-Performances und der „Amateurwende“ in den Künsten als Räume für Kritik und Transformation. Kombasséré widmete sich der Rolle des Dokumentartheaters in kritischer Auseinandersetzung mit dem Erbe des deutschen Kolonialismus, insbesondere im Kontext der Geschichte von Togo. Dabei analysierte er, wie zeitgenössisches Theater durch die Kombination von Puppenspiel, Comics und Live-Performance Themen wie Korruption und die Restitution kolonialer Artefakte behandelt. Kombasséré hob die Bedeutung des Dokumentartheaters als kritisches politisches Forum hervor, das historische Realitäten und die langfristigen Auswirkungen des Kolonialismus thematisiert. Zhang setzte das im Rahmen von Schweers Vortrag angeklungene ökologische Thema fort und exemplifizierte anhand der utopischen Romane Insel Felsenburg (1731-43) von Johann Gottfried Schnabel und Ökotopia (1975) von Ernest Callenbach, wie sich die Vorstellungen des Verhältnisses von Mensch und Natur über die Jahrhunderte hinweg gewandelt haben: von einer auf Zivilisation und Fortschritt fokussierten Vision hin zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Technokratie und einer verstärkten Betonung von Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit.

Viviana Macaluso, Pedro Mora-Madriñán, Charlotte Rauth und Katie Unwin sind Doktorand*innen an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien beziehungsweise an ihrer Partneruniversität University of Cambridge und gehören zum Organisationsteam der Jahrestagung „Imaginarien des Wirklichen. Ästhetiken und Politiken von Utopien“.