• Beitrags-Kategorie:Drei Sätze

In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.

„Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. –“
(G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, aus der Vorrede)

Jetzt muss ich schon gleich zu Beginn an den Spielregeln drehen… die drei Sätze, die ich nicht mehr losgeworden bin, sind eigentlich sechs. Aber ich hatte sie als zwei oder drei in Erinnerung; hätte geschworen, dass es nur zwei oder drei sind. Gelesen habe ich sie zum ersten Mal mit siebzehn, an meinem Kinderschreibtisch in meinem Kinderzimmer, zuhause, bei meinen Eltern.
Ich bin damals nicht weit gekommen in der Phänomenologie, nur bis zur Herr-Knecht-Dialektik, aber auf die hatte ich es letztlich auch abgesehen. Ich wollte ein Philosoph, ein Intellektueller werden. Von dem Gedanken, dass die Philosophie einem helfen könnte, mit jenem Furchtbarsten fertig zu werden, das alle den Tod nennen und vor dem ich seit jeher, seit ich fünf oder sechs war, Angst hatte, von diesem Gedanken hatte ich mich mit 17 schon längst wieder verabschiedet. Nach noch jugendlicheren Sartre- und Camus-Lektüren also wollte ich nun über Hegel zu Marx kommen, um so ein ernsthafter Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft zu werden. Und in diese schon abgekühlte Lesehaltung brachen dann die zitierten zwei, drei Sätze ein. Nicht, dass die Sätze einem wirklich dabei helfen würden, mit der „absoluten Zerrissenheit“ fertig zu werden. Aber sie suggerieren doch genau das, oder besser: sie versprechen einem, dass es sich lohnt, vom Gedanken des Fertig-Werdens Abstand zu nehmen. Die ungeheure Suggestivkraft der Sätze, der ich mich noch heute kaum entziehen kann, rührt aber doch wesentlich nicht von dem, was sie sagen – es werden einem ja letztlich nur Abstraktionen geboten: „das Leben des Geistes“, was soll das schon sein, wenn man 17 ist oder 47? –, sondern wie sie es tun: die simulierte Mündlichkeit des hasenfüßigen Beiseiteschiebens, der Hass, die Verwüstung, die Zauberkraft.
Jahre später las ich bei Bataille, dass die dialektische Überwindung des Todes bei Hegel nichts als eine Komödie sei. Und bei Werner Hamacher konnte ich lernen, dass Hegel an dieser Stelle eine Prosopopöie verwende und zugleich deren Mechanismus offenlege. Über all das habe ich lange und (für mich) sehr ergiebig nachgedacht, dabei ist mir aber irgendwann der Hegel abhandengekommen. Und ich habe genau das getan, was Hegel an besagter Stelle verspottet: ich habe vom Tod weggesehen, damit fertig, davon weg, weiter zum nächsten…
Aber Hegel (und dem Tod) entkommt man nicht. Ich lese ihn seit ein paar Wochen wieder, jeden Morgen eine Stunde in der großen Logik, gewissermaßen eine Art Meditation, um mich einzuüben in jenes Verweilen beim Negativen, auf das alles ankommt. Beim Ausräumen meines Kinderzimmers im nunmehr verwaisten Elternhaus habe ich über dem Schreibtisch einen Zettel gefunden, auf den ich damals, mit 17, als Motto einen anderen Satz aus der Vorrede abgeschrieben habe: „Der Gedanke verkümmert die Gedankenlosigkeit, und seine Unruhe stört die Trägheit.“ Dieses transitive „verkümmert“ ist es wahrscheinlich, was mich bei Hegel immer fasziniert hat. Es geht darum, Dinge – und „-losigkeiten“ – aktiv zu verkümmern, sie abzubauen, zu dekomponieren und sie dann erst (und erst dann!) absterben zu lassen: die eigene Dummheit, die der anderen, den Kapitalismus, den Tod. – – Vielleicht sollte ich hier besser abbrechen und schnell mit einem Kalauer enden, indem ich einen Sticker-Spruch vervollständige, den ich neulich in einem Späti gelesen habe: „Bier ist mein Yoga.“ – Hegel ist mein Bier.

Nach seiner Promotion zu Hermann Broch lehrte Patrick Eiden-Offe in Konstanz und Duisburg-Essen, bevor er 2017 ans Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin kam. Im selben Jahr erschien seine Habilitation „Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats“ bei Matthes&Seitz.

 

Bild: Manuskript Dostoevskijs (Die Dämonen), © wikimedia commons