Unlesbare Schrift löst Wut und Wissensdrang aus. Barbara Bausch von der FU Berlin im Gespräch über Maschinen, die lesen, wonach Kunst und Wissenschaft gemeinsam streben und über den neuen Band Illegibilities Reflecting Reading.

Interview von Ansgar Riedißer

Das Lesen ist gleichzeitig Kerngeschäft der Literaturwissenschaft und führt als Alltagspraxis, Metapher und Debattengegenstand ein unüberschaubares Eigenleben. Barbara Bausch erforscht das Lesen als ästhetische Praxis in ihrem Post-Doc-Projekt Reading Reading am Exzellenzcluster Temporal Communities. Nun hat sie den Band Illegibilities Reflecting Reading herausgegeben, in dem Künstler*innen und Wissenschaftler*innen verschiedener Sparten sich mit Unlesbarkeit beschäftigen: Mit Rätseln, die nur mit dem richtigen Schlüssel lesbar werden; mit asemischem Schreiben, bei dem Zeichen grafisch an Schrift erinnern, aber keine Bedeutung preisgeben; mit eigenen Manuskripten, deren schwere Entzifferbarkeit Kreativität freisetzt.

Fangen wir groß an: Was ist denn das, „Lesen“?

Barbara Bausch: (lacht) Ich finde schön, dass wir mit einer Frage einsteigen, die nicht abschließend zu beantworten ist. Ganz basal ist Lesen eine mentale Technik, die wir meistens in der Grundschule oder vielleicht auch schon davor erlernen. Sie ermöglicht uns, Schriftzeichen visuell zu dekodieren, das Lautbild der gelesenen Worte zu artikulieren – sei es laut oder nur mental – und die Bedeutung der gelesenen Zeichen zu verstehen. Wenn man es so technisch herunterbricht, ist erstmal gar nicht sichtbar, wie grundlegend das Lesen für unsere modernen Schriftkulturen ist – eine absolute Basiskompetenz der kulturellen, sozialen und politischen Teilhabe.

Gleichzeitig befinden wir uns gerade in einer fundamentalen Transformation der Lesekultur, die auch massiv durch digitale Technologien vorangetrieben wird. Seit Jahren sind schwindende Lesefähigkeiten zu verzeichnen. Wir lesen als Gesellschaften nicht weniger, aber anders: Das Leseverstehen von langen und komplexen Texten nimmt massiv ab. Dazu kommt ganz akut in den letzten Jahren die Omnipräsenz von Large Language Models (LLMs), die uns sowohl das Lesen als auch das Schreiben immer mehr abnehmen. Es ist, offen formuliert, interessant zu beobachten, ob wir uns eher wieder hin zu einer oralen Kultur entwickeln.

Wenn wir lesen und schreiben, nehmen wir auch an einer Kultur teil, die jetzt mit LLMs noch einmal neu auslesbar wird …

BB: … und nicht nur unsere digital publizierten Texte, auch wir selbst werden auslesbar – zum Beispiel, wenn wir mit digitalen Geräten lesen. Da sind wir am Rand der Metapher, die das Lesen auch oft ist, als eine Form des Verstehens, Analysierens oder Interpretierens von Welt. Sei es das ‚Lesen‘ im ‚Buch der Natur‘, die Lesbarkeit der Welt in einem Blumenberg’schen Sinne oder eben, andersherum, das Ausgelesenwerden, die Auslesbarkeit der Menschen durch KI-gestützte Systeme. Was mich aktuell vor allem interessiert, ist die Frage nach Unterschieden zwischen menschlichen und maschinellen Formen des Lesens. Sprachmodelle stoßen zumindest aktuell noch an gewisse Grenzen, weil LLMs zwar ihre eigene Materialität haben, aber eben keine körperliche und emotionale Erfahrung des Seins in der Welt. Ich glaube, dass das schon ein ganz zentraler Punkt ist, der unser Lesen von maschinellem Lesen unterscheidet: LLMs haben, wie Katherine Hayles betont, ein unsicheres Verständnis referentieller Bedeutung, da sie ihr Sprachwissen aus zwar unfassbaren Datenmengen, aber eben rein digitalen Daten beziehungsweise Texten ableiten. Für uns Menschen ist Sprachverwendung nicht nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit, und Sprache nicht nur ein Container für Information. Ins menschliche Lesen spielen intellektuelle, soziale, emotionale und damit auch moralische Aspekte hinein, die von unserer Prägung und der Situation, in der wir lesen, abhängen.

Hier schwingt ein weiterer Aspekt mit, der für uns als Menschen sehr interessant ist: Lesen ist auch immer eine Technik des Selbst, eine Subjektivierungspraxis, sei es als Meditation, als Etablierung eines intellektuellen Selbstverständnisses oder als Form der Selbsthilfe. Das ist ein zentraler Aspekt dessen, was das Lesen als kulturelle Praxis für uns bedeutet. Lesen ist daher eine fast schon magisch zu nennende Praxis: Das, was durch das Lesen entsteht, lässt sich schließlich nicht allein aus dem Gelesenen ableiten. Das letztere allerdings gilt auch für LLMs …

Unlesbare Schrift von Angélica Freitas: Asemisches Schreiben verspricht Lesbarkeit, die aber nicht eingelöst wird. © Angélica Freitas

Vor Kurzem haben Sie den Band Illegibilites Reflecting Reading herausgegeben, der sich dem Lesen von seinen Grenzen, von Unlesbarkeiten her annähert. Wie ist dieser Band entstanden?

BB: Das Projekt, eine Kooperation mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD, hat mit einer Einladung an Künstler*innen und Wissenschaftler*innen jeweils unterschiedlicher Sparten begonnen, sich über das Lesen Gedanken zu machen. Es waren Personen, die sich in ihren bisherigen Arbeiten schon in irgendeiner Weise mit dem Lesen beschäftigt haben, allerdings aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Dabei waren unter anderem eine kognitive Ethnologin, ein Anthropologe, Literaturwissenschaftler*innen, Schrifsteller*innen, eine bildende Künstlerin, ein Designer. Spezifischer ging es darum, über das Lesen von seiner absoluten Grenze her nachzudenken: einem für die Teilnehmer*innen nicht lesbaren Artefakt. Dieses Artefakt sollte aber trotzdem das Versprechen von Lesbarkeit aussenden und damit auch zum Lesen herausfordern. Meine Annahme war, dass sich so besonders gut diejenigen Facetten des Lesens in den Blick nehmen lassen, die jenseits der bloßen Dekodierung von Information liegen und beim Lesen als automatisiertem Prozess oft unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle bleiben. Alle Beteiligten haben individuell begonnen und nach drei Monaten sind wir zu einem Workshop zusammengekommen, um uns über die Arbeitsstände auszutauschen. Das ist bei einer so diversen Gruppe auch eine Herausforderung. Einen Tag lang haben wir sehr intensiv die Herangehensweisen diskutiert, um dann die Beiträge auszuarbeiten. Dabei sind die Texte im Band Illegibilites Reflecting Reading entstanden, aber nicht nur. Es sind zum Beispiel auch visuelle Arbeiten und Workshopkonzepte oder eine interaktive Website aus dem Projekt hervorgegangen.

Sie weisen also aus Ihrem literaturwissenschaftlichen Hintergrund heraus auf ein Phänomen hin – das Lesen, die Unlesbarkeit – und bieten begriffliche Unterscheidungen an, um dann verschiedenen Disziplinen eine Plattform zu geben. Bietet sich die Literaturwissenschaft besonders für solche Kollaborationen an?

BB: Ermöglicht wird diese Zusammenarbeit über das Thema des Lesens, an das man aus ganz verschiedenen Perspektiven andocken kann. Für dieses Thema fühlen wir uns als Literaturwissenschaftler*innen in hohem Maße zuständig. Gleichzeitig würde ich nicht sagen, dass die Literaturwissenschaft sich per se besser für interdisziplinäre Ansätze eignet als andere Disziplinen. Was eine zentrale Rolle spielt, ist meine institutionelle Anbindung, sowas findet ja nicht im luftleeren Raum statt. Ermöglicht wurde das Projekt durch das Exzellenzcluster Temporal Communities und insbesondere den auf transdisziplinäre und kollaborative Projekte hin ausgerichteten Forschungsbereich CONSTELLATIONS, die eine Infrastruktur und vor allem eine große Offenheit für explorative Projekte bieten. Grundlegend für mein Projekt ist, Kunst und Forschung nicht als streng getrennte Felder zu begreifen, sondern als unterschiedliche Dimensionen eines ähnlichen Strebens nach Wissen, das sich auch im Modus künstlerischer Erfahrung und Reflexion vollziehen kann.

Ein verbindendes Element der Beiträge im Band ist, dass die Erfahrung von Unlesbarkeit zum Bedürfnis führt, mehr und eigenen Text zu schreiben. Dieser Text scheint auch in einem Essay gar nicht abschließbar: Die Performancekünstlerin Karolin Meunier beginnt im Band eine Reihe von Briefen, die digital fortgesetzt wird. Im Beitrag der Dichterin Angélica Freitas werden die Lesenden zu einer Autohypnose aufgefordert – und dazu, ihr später davon zu berichten. Da scheint Unlesbarkeit ein großes Bedürfnis nach Kommunikation und Verständigung ausgelöst zu haben.

BB: Ja, absolut. Wenn Lesen gelingt, dann gelingt es meist automatisch und lenkt die Aufmerksamkeit zunächst aufs Gelesene. Das Lesen öffnet die Tür zu einer anderen Welt, wie Hélène Cixous sagt, Virginia Woolf spricht vom Fenster, durch das man blickt, wenn man liest. Konfrontiert mit etwas Unlesbarem, ist da plötzlich eine Barriere, wo ich Durchlässigkeit erwartet habe. Ich dachte, ich sehe durch Schriftzeichen hindurch auf ihre Bedeutung und stattdessen sehe ich die Tinte auf dem Papier oder was auch immer es sein mag. Da entsteht, zeitlich betrachtet, eine Pause, eine Unterbrechung. Da ist eine Empfindung einer Störung, einer Blockade: Das Kommunikationsversprechen der Schrift wird nicht eingelöst. Was in den Blick rückt, ist außerdem das lesende Subjekt selbst – weswegen übrigens in vielen Essays im Band die persönlichen Erfahrungen der Lektüre mitreflektiert werden. Wenn das Verstehen blockiert ist, treten emotionale Aspekte, Erinnerungen oder die konkrete körperliche Beteiligung am Leseakt in den Vordergrund. Oft auch negative Reaktionen wie Frust, Unverständnis, Wut. Wenn die Auseinandersetzung an diesem Punkt nicht endet, dann folgt der Wissensdrang: Der Wunsch nach der Überwindung des Nicht-Verstehens oder zumindest nach einem Umgang damit, teils auch in einem spielerischen Modus. Das ist sicher ein Grund, weswegen dann so viel geschrieben und so viel anderes, Lesbares, gelesen wird, um das Unlesbare vielleicht doch noch auf die ein oder andere Weise zu verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Der von Barbara Bausch herausgegebene Band Illegibilities Reflecting Reading [Open Access] ist 2025 als Teil der Reihe con·stel·la·tions beim Textem Verlag in Hamburg erschienen. Die Publikation ist Teil von Bauschs Projekt „Reading Reading. On an Aesthetic Practice“ am Exzellenzcluster Temporal Communities.


Bildnachweis: Angélica Freitas, 2024. Replication printed in Illegiblities Reflecting Reading (2025).