An der Humboldt-Universität zu Berlin fand vom 15.-17. Mai die Tagung „Literatur & Psychiatrie revisited, 1920–1970. Momente gegenseitiger Beobachtung“ statt. Sie eröffnete neue Einsichten in das politische Verhältnis von Literatur und Psychiatrie
Bericht von Maddalena Casarini
Wir leben in einer Zeit, die Emanzipationsgeschichten liebt. Dieser Befund wurde unlängst von der Atmosphäre leidenschaftlichen Interesses bestätigt, die bei einer Berliner Tagung über Literatur und Psychiatrie herrschte. Befreiende Ironie, Strategien der Selbstermächtigung, politische Kämpfe und Widerstand durch Kunst – bei der Tagung Literatur & Psychiatrie revisited, 1920–1970. Momente gegenseitiger Beobachtung, die vom 15. bis 17. Mai 2024 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattgefunden hat, wurden eindrucksvolle emanzipatorische Perspektiven auch jenseits des akademischen Interesses eröffnet. »Soyez scyzophène on vous aimera« [»Seid schizophren man wird euch lieben«] ist auf dem Banner zu lesen, das von einer weiblichen Figur in einer Zeichnung der belgischen Künstlerin und Dichterin Sophie Podolski (1953–1974) getragen wird. Das Bild der in der Klinik La Borde bei Paris behandelten und mit nur 21 Jahren gestorbenen Künstlerin wurde von den beiden Organisatorinnen Marie Guthmüller und Chiara Sartor, die bei der Durchführung der Veranstaltung von den Studentinnen Julia Erin Dunn und Miriam Hörsch unterstützt wurden, programmatisch auf das Plakat gesetzt. Denn es veranschaulicht eines der Hauptanliegen der Tagung: Nicht nur die psychiatrische und die literaturwissenschaftliche Perspektive standen im Mittelpunkt, sondern auch die Institutionenkritik und die (Selbst-)Ironie der psychiatrisierten Menschen selbst. Die zeitliche Eingrenzung von den Avantgarden der 1920er Jahre bis zur 1968er Bewegung ist an sich schon aussagekräftig: Die Organisatorinnen stellten damit die Ausgangsthese einer im Laufe des 20. Jahrhundert stattgefundenen Politisierung des Verhältnisses von Literatur und Psychiatrie auf.
Eine transnationale Perspektive
Auf die Probe gestellt wurde diese These durch die starke transnationale Perspektive dieser interdisziplinären und mehrsprachigen Tagung. Denn in verschiedenen Beiträgen wurden länderspezifische Ungleichzeitigkeiten sichtbar. Beispielhaft in diesem Sinne war der Beitrag von Hubert Thüring (Universität Basel) über das Verhältnis von Administrativjustiz und Psychiatrie in der Schweiz: Zwischen den institutionskritischen Texten von Carl Albert Loosli (1877–1959) aus den 1920er Jahren und der poetischen Verarbeitung der eigenen Psychiatrieerfahrung in den Romanen von Mariella Mehr (1947–2022) um die Jahrtausendwende seien Kontinuitäten zu beobachten, die zeigten, dass die schweizerische Institutionengeschichte nicht denselben historischen Umbrüchen unterlag wie die deutsche. Armin Schäfer (Ruhr-Universität Bochum) wiederum machte deutlich, wie produktiv die Forschung des deutschen Psychiaters Karl Jaspers für die Lektüre eines französischen Klassikers wie der Recherche von Marcel Proust (1871–1922) sein kann. Mit Jaspers phänomenologischem Modell der pathologischen Eifersucht kontrastierte Schäfer eine literarische Schreibweise, die ebenfalls auf entfesselten Assoziationsketten basiert: »Mit der Eifersucht auf Albertine betritt Swann das psychopathologische Universum«. Mit dem entscheidenden Unterschied – so Schäfers These –, dass Prousts Schreibweise »nicht den schon gebahnten Assoziationen« folgt, die Idee dem Roman also nicht vorausgeht, sondern sich permanent neu erschafft.
Psychiater als Grenzgänger
Eine transnationale Perspektivierung ergab sich zudem aus den Lebensgeschichten von Psychiatern, die als Grenzgänger zu passeurs medizinischen und philosophischen Wissens wurden. Elena Vogman und Marlon Miguel (Bauhaus-Universität Weimar) zeigten, wie zwei frühe Theaterstücke von Frantz Fanon (1925–1961) sowie spätere Schriften, die in Algerien entstanden, von der Gestalttheorie von Kurt Goldstein und der phänomenologischen Wahrnehmungspsychologie Maurice Merleau-Pontys beeinflusst wurden. Eindrucksvoll war in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Joana Masó (Universitat de Barcelona) über den Psychiater François Tosquelles (1912–1994), der von der Franco-Diktatur floh und in der südfranzösischen Klinik von Saint-Alban tätig wurde. Die dortige Begegnung mit Vertretern des Surrealismus wie Paul Éluard führte Tosquelles zur Auseinandersetzung mit dem Werk von Gérard de Nerval, die zugleich zu einer Gelegenheit wurde, um mit dem Surrealismus abzurechnen. Denn trotz des Versuches der Surrealisten, den Wahnsinn zu entpathologisieren, warf ihnen Tosquelles als Vertreter der psychothérapie institutionelle vor, zu wenig Interesse am Erlebnis (le vécu) des Wahnsinns und an der Wirklichkeit der Erkrankten zu haben.
Ambivalenzen der Avantgarden
Hiermit wurde die Dringlichkeit deutlich, die Beziehung der Avantgarden zu den Wissenschaften von der Psyche nunmehr kritischer zu betrachten, als in der Vergangenheit geschehen. Diese kritische Reflexion zog sich wie ein roter Faden durch die Tagung. Insbesondere die Rolle des Surrealismus, der aus der Beschäftigung mit der psychiatrischen Macht eine Strategie der Selbstlegitimierung, ja der Selbstvermarktung machte, muss aus heutiger Sicht auf den Prüfstein gestellt werden – so ein Ergebnis der Diskussion. So beleuchtete der Beitrag von Alexandra Bacopoulos-Viau (Weill Cornell Medicine) über Pierre Naville (1904–1993), wie der ehemalige Surrealist Naville nach seinem Austritt aus der Bewegung die Rolle des Unbewussten in der écriture automatique in Frage stellte, die er als reine Schreibpraxis – man könnte vielleicht sagen: als Schreibstil – und nicht als Aufzeichnung eines unspezifischen Unbewussten entlarvte. Weitere kritische Einsichten lieferte Anouck Cape (Paris). Die Psychoanalytikerin rekonstruierte das Leben zweier Psychiatriepatientinnen, die unter den Namen bekannt sind, die ihnen zwei berühmte Männer gaben: Léona Delcourt (1902–1941) ging als die »Nadja« aus André Bretons gleichnamigem Roman in die Geschichte ein; Marguerite Anzieu (1892–1981) ist der Öffentlichkeit als Jacques Lacans Fall »Aimée« bekannt. Der Ruhm der beiden Frauen brachte ihnen selbst keinen materiellen Nutzen, sondern diente vielmehr dem Erfolg ihrer männlichen Beobachter. Dass Marguerite Anzieu erst nach einem zwölfjährigen Kampf mit der Justiz aus der Psychiatrie entlassen wurde, zeigt zudem Kompetenzstreitigkeiten auf: Forensische Gutachten konnten der Meinung der behandelnden Anstaltsärzte widersprechen. Verborgene Seiten der Literaturgeschichte zu beleuchten und dabei vergessene Akteure wieder ins Zentrum zu rücken, war auch das Anliegen des Vortrags von Aude Fauvel (Université de Lausanne) und Jon Monnard (Berlin). In ihrem Beitrag untersuchten sie den Roman Tender is the Night (1934) des amerikanischen Schriftstellers Francis Scott Fitzgerald (1896–1940) vor dem historischen Hintergrund des fünfzehnmonatigen Aufenthaltes seiner Frau Zelda (1900–1948) in der Schweizer Klinik von Prangins, wo sie von dem Psychiater Oscar Forel behandelt wurde. Fauvel und Monnard interpretierten Scott Fitzgeralds Roman als Versuch, sich die Zeit der psychiatrischen Behandlung seiner Frau und ihrer Gespräche mit Forel, von denen er ausgeschlossen war, wiederanzueignen. Auch Zelda Fitzgerald schien also als Patientin der Gefahr ausgesetzt zu sein, dass die eigene Krankheitserfahrung auf ein literarisches Element im Werk eines Erfolgsautors reduziert wird.
Wiederaneignungen und Blickumkehrungen
Angesichts dieser Akte der Aneignung war es für die Tagung besonders wichtig, dem Eindruck eines Schweigens der Patient:innen entgegenzuwirken. Dafür war eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Entstehung und Verbreitung der von Psychiatriepatient:innen selbst verfassten Schriften notwendig. Maximilian Gilleßen (Berlin) stellte in seinem Beitrag Raymond Roussels Selbstzitate als Formen der Wiederaneignung vor. Sein Beitrag zeigte, wie Roussel (1877–1933) in seinem posthum veröffentlichten Buch Comment j’ai écrit certains de mes livres (1935) auf die Untersuchung seines Falls durch den Psychiater Pierre Janet zurückgriff und damit einen »Versuch der Korrektur« der Rezeption des eigenen Werks unternahm. Die Selbstreflexivität stand auch im Zentrum des Beitrags von Chiara Sartor (HU Berlin), die sich mit »psychiatrischen Schreibszenen« auseinandersetzte. Ihr Interesse richtete sich auf verschiedene Textsorten wie Briefe, Essays oder mediumistische Berichte, die Henri Bessaud (1904–1951), Sylvain Lecocq (1900–1950) und Jeanne Tripier (1869–1944) während ihrer Internierung in psychiatrischen Kliniken verfassten und die später in die Art brut-Sammlung von Jean Dubuffet aufgenommen wurden. Wie der Vortrag zeigen konnte, zeugen diese Aufzeichnungen von originellen Umgangsweisen mit den kommunikativen Herausforderungen und der Kontrollmacht des Personals, denen die Schreiber:innen in den Kliniken ausgesetzt waren.
Durchlässiger wurden die Klinikmauern in der literarischen und künstlerischen Produktion von Unica Zürn (1916–1970). Diese untersuchte Ulrike Vedder (HU Berlin) als eine Art Gegenprogramm zur psychiatrischen Kontrollmacht. Zürn, die sich seit den 1960er Jahren wiederholt in verschiedenen Kliniken aufhielt, widmete sich nur in den Intervallen zwischen ihren Psychiatrieaufenthalten dem Schreiben. Während der Aufenthalte schrieb sie nicht, sondern zeichnete nur. Die Linien ihrer Zeichnungen bilden sich überlappende Profile, Augen, die die Betrachter:innen anstarren oder sich, je nach Perspektive, dem Blick entziehen. Zürn fügte in die Zeichnungen Inschriften ein: Namen von Psychiatern, Anfangsbuchstaben, Orte, Fragmente der Internierungserfahrung. Vedder hob die Zentralität des Blickwechsels und des Erblicktwerdens in den Zeichnungen und Texten Zürns hervor: Jenes Blickregime, das zur Mikrotechnik der psychiatrischen Macht gehört, wurde bei Zürn zum poetischen Prinzip.
Die Umkehrung des psychiatrischen Blickregimes begriff Marie Guthmüller (HU Berlin) als einen zentralen Aspekt auch des Romans Gentil Chapon touche du bois (1951) von Léon Schwarz-Abrys (1905–1990). Den Text, der eine »Irrfahrt« durch verschiedene Anstaltstypen (Krankenhäuser, Gefängnisse, psychiatrische Asyle) darstellt, betrachtete Guthmüller vor dem Hintergrund der Biografie seines Autors – mit besonderer Aufmerksamkeit auf deren Leerstellen, vor allem auf eine mögliche Internierung Schwarz-Abrys‘ in einem Konzentrationslager. Das Konzept der total institutions, der nur wenige Jahre später (1957) von Erving Goffman geprägt wurde, scheint in diesen Roman – so eine der Thesen Guthmüllers – vorgeprägt. Das (auto)fiktionale Medium des Romans macht die vom Protagonisten durchlaufenen totalen Institutionen zu seinem »Beobachtungsobjekt« und antizipiert somit die Herausbildung der soziologischen Theorie. In gewisser Weise war der letzte Vortrag der Tagung – jener von Sandra Janßen (IFK Wien / Universität Erfurt) – komplementär zu dieser Analyse. Er vertiefte die Bedeutung von Goffmans Begriff der total institutions als Aufhebung der Grenzen zwischen öffentlich und privat: Wie totalitäre Staaten beziehen auch totale Institutionen alle Lebensbereiche ein und greifen damit tief in die Subjektivität der Individuen ein. Goffmans Begriff sowie Bruno Bettelheims Schriften aus den 1940er Jahren, die Konzentrationslager als Orte der Persönlichkeitsspaltung (von Insassen sowie von Aufsehern) betrachteten und »das totalitäre Selbst als psychotisches Selbst« beschrieben, dienten Janßen als Theoriegrundlage für ihre Lektüre des Romans Le Très-Haut (1948) von Maurice Blanchot (1907–2003). Indem offenbleibt, ob die bedrohliche Erfahrungswelt des Protagonisten dessen Wahn entspringt oder ob die Paranoia ihn gerade zum idealen Bürger eines totalitären Staates macht – so Janßens These –, wird das psychotische Selbst hier konsequent mit dem totalitären Selbst überblendet.
Dass Gäste aus verschiedenen Disziplinen und Arbeitsfeldern an der Tagung teilnahmen, war für alle ein spürbarer Gewinn. Nicht nur Akademiker:innen, sondern auch eine Psychoanalytikerin und ein Schriftsteller waren anwesend und brachten ihre Standpunkte ein. Die größte Herausforderung war das Bestreben der Veranstaltung, die deutschsprachige und die französischsprachige Forschung in einen mehrsprachigen Dialog zu bringen. Wenn dies nicht immer gelungen ist, sollte das keineswegs als Scheitern verstanden werden, sondern eher als ein Beweis dafür, dass in einer globalisierten Welt und für eine Forschung, die dank fortschreitender Digitalisierung und Open Access zunehmend internationale Relevanz beansprucht, der tatsächliche Austausch zwischen länderspezifischen disziplinären Traditionen doch nicht selbstverständlich ist. Hier scheint noch Einiges zu tun zu sein – die Tagung aber war ein sehr produktiver Schritt in diese Richtung, auch weil die durchdachte Organisation und die Bereitschaft zum Dolmetschen viele Schwierigkeiten beheben konnten.
Maddalena Casarini ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Romanistik) und hat in ihrer komparatistischen Dissertation zur Semantik und Poetik der Dummheit in den Prozessberichten von Gabriele Tergit, Else Feldmann und Colette geforscht.
Titelbild: Zeichnung aus einem Lehrbuch des Kriminalpsychologen E. Régis (1914) (c) wikimedia commons