In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.
GRÜNSTEIN. […] [B]edenken [Sie], daß Sie morgen und noch viele Jahre, hoffe ich, essen müssen und wohnen.
FR. BALDER. Das wäre schön.
BALDER. Wäre entsetzlich!
Diese drei – ohne Kontext wohl zunächst verwirrenden – Sätze stammen aus August Wilhelm Ifflands Posse Der Komet von 1798. Sie spitzen die sich darin abspielende Dramenhandlung zu auf die Frage nach Zukunftsbejahung (für die hier Frau Balder steht) und Lebensüberdruss, wie er sich in Balders Äußerung ausdrückt. Hintergrund dieses Gespräches ist, dass ein unseriöser Wissenschaftler, der Chirurgus Krappe, den Buchbinder Balder davon überzeugt hat, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorstehe. Ein Komet, so Krappes Theorie, werde am Tag, an dem die Posse spielt (am Achtzehnten nämlich, der Monat bleibt unerwähnt) um genau 10 Uhr abends auf der Erde einschlagen und diese so vernichten. Letzte Aufträge stellt der Buchbinder mit dem Kommentar „Mag er doch mit den Büchern hinab fahren!“ noch fertig, um sich dann – durchaus mit einer gewissen Vorfreude – ganz dem Weltuntergang zu widmen:
Niemand hier? – Hm! Freylich, man sieht überall nicht, daß die Leute zusammen treten! das pflegt so zu seyn in den letzten Tagen. Er geht, die Arme auf den Rücken gelegt, umher. Wir treten nun dem gewaltigen Augenblick sehr nahe. Er zieht die Uhr heraus, und sagt sehr bedenklich: Fünf Uhr! Von fünf bis zehn Uhr – fünf Stunden – transit gloria mundi! – Er nimmt seine Schürze ab, legt sie sorgfältig zusammen, und auf den Tisch. Ade, Du lose Welt! Er geht wieder umher. Wir sind mit einander fertig.
Die Aussicht auf den „gewaltigen Augenblick“ des Weltendes erscheint dem von den Mühen der Alltagsebenen erschöpften Balder ganz offenbar nicht unattraktiv – auch als Lizenz, die Arbeitsschürze abzulegen und an ihn herangetragene Rechnungen mit der Äußerung „Ey was! das ist ja alles weltlich Wesen“ zu verwerfen. Sein knappes Geld gibt er lieber anders aus: „Das habe ich ausgerechnet, daß eben heute das letzte Geld für eine Flasche Wein ausgegeben ist.“
Balder, in dessen Name die gleichsam trivial-messianische chronische Erwartung schon eingeschrieben ist, verhält sich, wie es ihm angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges rational und moralisch geboten erscheint: Er trinkt Wein, stellt die Arbeit und das Lesen („Ich lese nichts mehr“) ein und bereitet seine Familie auf den Kometen vor. Denn wie schon das Zusammenlegen der Schürze anzeigt, so ist Balder daran gelegen, dass die Welt geordnet zugrunde geht. In rührender Weise sorgt er sich auch jetzt noch um die Gemeinschaft und trägt dem Gerichtsdiener auf, dem Bürgermeister zu raten, „mit dem ganzen Stadtrath diese Nacht vor zehn Uhr hinaus zu gehen auf das Blachfeld“, denn:
Erstens wird er dort in Compagnie verschlungen, welches allemal anständiger ist, auch die Angst mindert. […] Zweytens fallen ihnen keine Häuser auf die Köpfe; und da nicht alle Köpfe vieles vertragen können, so erstickt der gesammte Stadtrath auf diese Manier ganz piano im Sande, welches die gelindere Todesart ist. Hiermit will ich, als ein redlicher Bürger gemeiner Stadt, mein Stimmenrecht zum letzten Male geübt haben.
Vielleicht klingt in den auf die Köpfe fallenden Häusern noch die das 18. Jahrhundert prägende Katastrophe des Erdbebens von Lissabon 1755 an. Dieses schwere Unglück, aber auch die zum Zeitpunkt der Entstehung des Kometen sich ereignende gesellschaftliche Umwälzung durch die Französische Revolution gehören sicher in den Zusammenhang einer Krisenerfahrung der Zeit, die vollkommen nachvollziehbar ist – die aber, auf die Spitze des vermeintlich unausweichlichen Weltuntergangs getrieben, ein komisches Potential entfaltet, das Iffland ausschöpft. Die Gelehrtensatire, die dabei anhand der Figur des Chirurgus Krappe auch entsteht, ist einerseits als skeptische Begleiterscheinung der Aufklärung zu verstehen, weist andererseits zurück auf die Commedia dell’arte mit ihren komischen dottores. Ifflands Weltuntergangsbeschwörer hat es auf Justine, die Tochter des Buchbinders abgesehen. Die ist hin- und hergerissen zwischen der Überzeugung ihres Vaters und der ihres Geliebten, dem Advokaten Grünstein, der eben nicht glaubt, dass die Welt untergeht, und Balder die Augen zu öffnen sucht. Als – in den Worten Balders – „Zweifler an den unläugbarsten Dingen“ nährt Grünstein auch in Justine eine Hoffnung, die sie an ihren Vater heranträgt: Was, so fragt sie ihn, „wenn die Welt noch auf der Welt bliebe“ und „[w]enn er [der Komet, I.H.] noch ausbliebe“? Daraus entspinnt sich das folgende Gespräch:
BALDER. Um zehn Uhr stößt er [der Komet, I.H.] an die Welt. Paff – das alte Machwerk poltert zusammen – Gute Nacht!
JUSTINE. Wenn sich nun der Komet verspäten könnte –
BALDER. Das ist nicht möglich. Wäre es aber – so ist es eine Galgenfrist – denn er kommt doch.
JUSTINE. Nun, ich meine so – wenn Ihr mich denn – bis er kommt – den Advokaten Grünstein heirathen lassen wolltet?
BALDER. Wenn auf dieser gebrechlichen Welt noch von Heirathen die Rede seyn könnte, so heirathetest Du den Herrn Gevatter Krappe.
JUSTINE. Vater, das kann ich nicht.
BALDER. Was?
JUSTINE. Lieber soll uns der Komet umstoßen!
BALDER. Der Herr Gevatter ist ein Mann, der noch etwas glaubt.
JUSTINE. Ja – Unheil.
BALDER. Mit dem man von etwas sprechen kann –
JUSTINE. Vom Versinken.
Zwei Dinge sind hier bemerkenswert. Justine lehnt eine Gemeinschaftsbildung auf Grundlage gemeinsamer Unheilserwartungen ab. Diese erscheint ihr gar schlimmer als der Komet selbst. Zweitens interessiert mich an diesem Zitat die Rede von der gebrechlichen Welt. Sie lässt Heinrich von Kleists etwas spätere berühmte Formulierung von der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ anklingen. In ihr, aber eben auch schon bei Iffland, artikuliert sich die Unzulänglichkeit und Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz und die Angewiesenheit der Menschen aufeinander – gerade angesichts dieser Gebrechlichkeit. Es braucht eigentlich gar nicht erst einen Kometen, um dergleichen zu verstehen. Und auch für Ifflands Balder stellt sich die Welt nicht nur mit Blick auf den vermeintlich herannahenden Himmelskörper als gebrechlich dar. Sein Weltuntergangsgefühl hat auch mit einem Verlust an wahrheits- und sinnstiftenden Instanzen zugunsten einer für die Moderneschwelle um 1800 neuen Vielstimmigkeit zu tun. Auf Grünsteins Forderung danach, die Sache mit dem Kometen doch erst einmal auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen, denn „jede Sache will Untersuchung“, reagiert er mit Wut und Verzweiflung:
BALDER. Nein, Sapperment! Wenn ich nur erwähnen will, wie sich die Bücher widersprechen, die ich alljährlich eingebunden habe, wie darin die armen Menschenkinder bald alle rechts, bald alle links getrieben, umgeworfen, wieder aufgerichtet, heute auf den Kopf, und morgen auf die Füße gestellt werden – so muß ja das allein schon ohne Komet beweisen, daß daraus […] unmittelbar das letzte Ende gedeihen muß.
Der orientierungslose und überforderte Balder läuft dem Weltuntergangspropheten Krappe nur zu gern in die Arme. Im ganzen Stück findet sich keine Passage, in der Balder den Weltuntergang eigentlich fürchtet. Sorge hat er – wie ja aus den vorangestellten drei Sätzen schon erhellt – einzig, dass dieser doch nicht eintreffen könnte. Doch je näher die Uhr der 10 rückt, umso vager werden zu Balders Entsetzen die Aussagen Krappes:
KRAPPE. Es ist freylich möglich, daß wir allenfalls jetzt nicht untergehen –
BALDER. Was? was sagt Er da?
KRAPPE. O ja! So ein Komet ist – wie will ich sagen? feurig – und alles Feurige hat Kapricen – Nicht wahr […]?
Letztlich wird der Buchbinder Balder doch erkennen, dass er einem Scharlatan aufgesessen ist: „Was? diese Welt mit Kirchen und Schulen stände morgen noch frisch da, und ich – nüchtern und arm in der Welt – und Ihr hättet mich zum Narren gehabt?“ Der Weltuntergang fällt aus, der Komet kommt nicht. Und der Buchbinder, dessen Kapitulation sich als vorzeitige erweist, wendet sich wieder – nun geradezu frenetisch – seiner Arbeit zu: „Meine Schürze – Frau – meine Schürze her – Wenn wir den morgenden Tag erleben, muß Essen da seyn. Ich arbeite. […] Ich will die Nacht noch ein paar Bücher binden.“
Der enttarnte Scharlatan Krappe sucht sich indessen zu verteidigen. Seine Intervention habe ja keinen Schaden angerichtet, behauptet er. Es sei immer besser, vom Schlimmsten auszugehen. So könne man nicht enttäuscht werden, schütze sich also vor Schaden. Entwickelten sich die Dinge dann doch gut, könne man sich ja immer noch freuen. Iffland zeigt, dass diese Rechnung, so plausibel sie auch klingen mag, grundfalsch ist. Die unzutreffende Weltuntergangsprognose hat der Familie großen Schaden zugefügt. Nicht nur, dass Vater Balder alles Geld ausgegeben hat und nun gar vor dem Verlust seines Hauses steht. Sondern auch, dass seine Frau ihm unter dem Eindruck der Geschehnisse ihre nicht unerheblichen, aber eben auch schon lang zurückliegenden Sünden gebeichtet hat. Dass sie zu Beginn der Ehe eigentlich in den im Haus eine Treppe über den Frischvermählten wohnenden „geistliche[n] Herr[n]“ verliebt war und sogar gedacht habe, „wenn es doch Gott so hätte fügen wollen, daß er mein Mann wäre, oder würde, und wenn er Dich deßhalb in sein Freudenreich aufnehmen wollte!“, das ahndet der Hausvater Balder nur wegen der „hohe[n] Ankunft“ des Kometen nicht mit den sonst angedrohten schweren Prügeln. Das bringt ihn mit seinem eigentlich doch gutmütigen Wesen am Ende des Stückes in eine Verlegenheit, aus der er sich mit Verweis auf einen möglicherweise irgendwann ja doch noch kommenden Kometen zu retten sucht. Dabei wissen inzwischen wohl beide Ehepartner, dass diese Drohkulisse substanzlos ist.
Ifflands Posse weist also mit Nachdruck darauf hin, dass die Argumentation des Scharlatans Krappe genau umzukehren ist. Davon auszugehen, dass die Welt weiter besteht, mit all ihren Freuden, aber eben auch in ihrer Gebrechlichkeit, das wäre die einzige unschädliche Option gewesen. In dieser inhaltlichen Stoßrichtung mutet Ifflands Der Komet durchaus aktuell an. Die bedrohlichen Zukunftsszenarien unserer Zeit sind allerdings keineswegs von Scharlatanen nur herbeigeredet. Kriege und die Klimakatastrophe, die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit weiterer Pandemien, ökonomische Krisen, die in Deutschland wie vielen anderen Ländern beobachtbare Erosion der politischen Mitte – all das sorgt für das Grundgefühl, dass uns nichts Gutes erwartet.
An der Berliner Volksbühne hatte 2022 das Stück Geht es Dir gut? von René Pollesch und Fabian Hinrichs Premiere, das diese Stimmung aufgreift. „Was soll eigentlich noch kommen? – es kann doch nur noch ein Meteorit kommen“, fragt darin der krisengebeutelte Protagonist. Bei Iffland wie bei Pollesch fungiert die Möglichkeit eines auf der Erde einschlagenden Himmelskörpers als Chiffre fatalistischer Zukunftsangst. Und wie für Ifflands Balder scheint auch für die Figur Polleschs die offene Zukunft nur schwer denkbar: „So wie es jetzt ist, ist die Zukunft vorhersehbar“, heißt es im Stück. In einem an Brecht erinnernden Gedicht An die Nachgeborenen sprechen Pollesch und Hinrichs von „Grundpflichten des Ganzen gegenüber der Zukunft“ und darüber, dass es „besser“ sei, „von der schlechtesten Prognose auszugehen“. Was die Grundpflichten gegenüber der Zukunft angeht, hätte Iffland wohl zugestimmt. Grünsteins Bitte, zu bedenken, dass Nahrung und Wohnung auch in Zukunft gesichert sein sollten, ist ja nichts anderes als eine Aufforderung zur Nachhaltigkeit in nuce, die auch auf Gemeinschaftlichkeit (als Perspektive im Stück angelegt durch Balders Überlegungen zum gemeinsamen Sterben auf dem Blachfeld) hin skalierbar ist. Polleschs und Hinrichs’ take, dass immer von der schlechtesten Prognose auszugehen sei, wäre mit Iffland hingegen wohl zu widersprechen. Verantwortungslos ist in Der Komet nämlich gerade das. Wer sich wie der Buchbinder Balder vorbehaltlos der Weltuntergangsstimmung ausliefert, untergräbt dadurch am Ende die Voraussetzungen des Weiterlebens eigenhändig – bis zu dem Punkt, dass schließlich nicht die Katastrophe, sondern ihr Ausbleiben „entsetzlich“ erscheint. Ifflands Posse, deren Kern die drei hier ins Zentrum gestellten Sätze pointiert formulieren, erweist sich als heiteres und kluges Plädoyer, die Möglichkeit der Weiterexistenz aktiv offen zu halten: „Das wäre schön.“
Irmtraud Hnilica ist im Sommersemester 2024 FONTE-Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. An der FernUniversität in Hagen, wo sie als akademische Rätin auf Zeit tätig ist, habilitierte sie 2023 mit einer Arbeit über Entführungen im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel. Ihr neues Forschungsprojekt widmet sich dem Sittengemälde als Genre literarischer Gegenwartsreflexion.
Titelbild: Brief August Wilhelm Ifflands © Antiquariat Inlibris