Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die methodischen Prämissen der Weltliteraturforschung kaum ein Gegenstand der Diskussion. Mit Siraj Ahmed und Galin Tihanov haben jetzt zwei Autoren diese Prämissen hinterfragt.

von Zaal Andronikashvili

Siraj Ahmeds Archaeology of Babel. The Colonial Foundation of the Humanities (2018) und Galin Tihanovs The Birth and Death of Literary Theory. Regimes of Relevance in Russia and Beyond (2019) fragen aus der Perspektive der postkolonialen Theorie respektive der osteuropäischen Literaturtheorie nach dem Selbstverständnis der Literaturwissenschaft im größeren Horizont der Kultur- und Geisteswissenschaften. Beide aus der Perspektive der zweiten bzw. dritten Welt geschriebenen Bücher treffen sich in der Kritik der Erste-Welt-Philologie und ihrer Prämissen; beide verdienen eigentlich eigenständige Rezensionen. Im Folgenden geht es mir jedoch nicht um ihre Kritik, sondern darum, über die Schnittpunkte beider Werke zur Gegenüberstellung eines philologischen und eines nichtphilologischen bzw. kulturtheoretischen Verständnisses von Weltliteratur zu gelangen.

Das „philologische“ Verständnis von Weltliteratur, das Ahmed in seinem Buch wegen seiner kolonialen Implikationen kritisiert, bindet Literatur fest an die Nationalsprachen. Gegen eine solche Bindung an die Nationalsprachen hat sich ein Protagonist des Buches von Tihanov, Nikolai Marr, in seiner vielkritisierten kulturwissenschaftlichen Linguistik ausgesprochen. Für Tihanov gehörte Marr (und sein Kreis) neben den Formalisten Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov, Boris Eichenbaum und Roman Jakobson sowie dem Literatur- und Kulturtheoretiker Michail Bachtin (und seinem Kreis) zu den Gründerfiguren der osteuropäischen anti- bzw. nichtphilologischen Literaturtheorie.

Mit Tihanov teile ich die These, dass die osteuropäische Literatur- und Kulturtheorie eine spezifische Auffassung von Weltliteratur hatte, sehe diese aber, anders als Tihanov, in einem distinkten Verständnis der Form begründet. Im sprachgebundenen vs. formgebundenen Verständnis der Weltliteratur sehe ich die entscheidende Differenz zwischen philologischen und kulturtheoretischen Auffassungen der Weltliteratur (wobei ‚kulturtheoretisch‘ hier ganz allgemein eine Perspektive meint, die Literatur und Kultur gemeinsam betrachtet).

1. Koloniale Ursprünge der Philologie

Archaeology of Babel von Siraj Ahmed führt sowohl die Entstehung der modernen Philologien (einschließlich der vergleichenden Literaturwissenschaft) und des modernen Literaturbegriffs auf den kolonialen Ursprung im Indien des 18. Jahrhunderts zurück. Ahmed glaubt den Ursprung der modernen Philologie in den Studien der britischen Kolonialbeamten über die kolonisierten Völker und ihre Sprachen zu finden. Das Anliegen des Autors ist es, die auch heute noch geltenden epistemologischen Prämissen der Philologie zu hinterfragen: Alle Wahrheit sei – so könnte man diese zuspitzen – historisch; historisches Wissen ergebe sich aus dem Studium von Texten; und dieses Studium erfordere ein historisch genaues Verständnis der untersuchten Sprache.

Siraj Ahmed: Archaeology of Babel (2018)

Sowohl die moderne Philologie als auch der moderne Literaturbegriff gehen von einer engen und spezifischen Verbindung der Literatur mit der Sprache aus. Nach diesem Verständnis ist Literatur einerseits an eine (National-)Sprache gebunden, andererseits an die Schrift. Zur Prämisse der nationalsprachlichen Bindung der Literatur trat die indoeuropäische Sprachtheorie hinzu, die nach Ahmed denselben kolonialen Ursprung hat wie die Philologie. Die indoeuropäische Sprachtheorie geht nicht mehr von dem gemeinsamen Ursprung aller Sprachen aus, sondern teilt die Sprachen der Welt in scharf voneinander getrennte Gruppen ein, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Aus der philologischen Sicht des 18. und des 19. Jahrhunderts seien Literaturen, so Ahmed, ein spezifischer kultureller Ausdruck dieser Sprachen bzw. Sprachgruppen; darin bestehe letztlich ihr kultureller Wert.

Indem aber die philologisch verstandene Literatur als idealer Ausdruck einer Sprache begriffen wurde, die sich in den Texten niederschlägt, habe man die Sprache notwendig auf einen kleinen, elitären Ausschnitt reduziert, aus dem die nicht-schriftlichen diskursiven Praktiken der subalternen Gruppen konsequent ausgeschlossen wurden. Allein der textuell festgehaltenen Literatur wurde der Status historischer Quellen zuerkannt; nur sie erlaubte es, methodisch richtig gelesen und ausgelegt, zur historischen Wahrheit zu gelangen. So habe die historisch-kritische Philologie eine gewaltige Ausschluss- und Hierarchisierungsarbeit geleistet. Die pluralen und heterogenen Geschichten von kolonisierten Völkern und ihren Literaturen (aber auch die eigenen) wurden gemäß dem neuen philologischen Paradigma, das Volk und Sprache gleichsetzt und die Sprache als Ausdruck eines Volkes sieht, homogenisiert und „nationalisiert“, so dass auch die postkolonialen Nationalismen in der Logik der kolonialen Philologie gefangen blieben.

Wie das Literaturverständnis, das mit der neuen Philologie einherging, nicht-schriftliche Praktiken aus der Literatur ausgeschlossen, marginalisiert bzw. umgedeutet habe – so argumentiert Ahmed weiter -, marginalisierte das koloniale Recht „die soziale Autorität aller vorkolonialen diskursiven Praktiken“. „Die Weltliteratur“ leiste also nach Ahmed „die gleiche Arbeit wie das Kolonialrecht“. Erstere stelle „die einheimischen literarischen Traditionen genauso falsch dar, wie letztere die einheimischen Rechtstraditionen, indem sie vorkoloniale diskursive Praktiken durch gedruckte Texte“ ersetze.

Ahmed behauptet nun, dass die kolonialen Grundlagen der Philologie, die die Sprachen bzw. Sprachgruppen voneinander trennen und ihnen Werte zuschreiben, weder von humanistischen Philologen wie Erich Auerbach und Edward Said noch von Theoretikern der postcolonial und decolonial studies wie Dipesh Chakrabarti oder Walter Mingnolo reflektiert und hinterfragt wurden. Letztere seien von einer authentischen vorkolonialen Literatur ausgegangen und übernahmen damit die Implikationen des kolonialen Literaturbegriffs. Gerade weil die Grundlagen der Philologie nie hinterfragt wurden, blieben alle Philologen gegen ihren Willen in der Logik ihrer kolonialen Gründung gefangen. Gegen das Verfahren der postcolonial bzw. decolonial theory, authentische nichtkoloniale Literaturformen ausfindig zu machen, schlägt Ahmed die archäologische Methode vor, die Texte als Palimpseste zu lesen, die keine historische Wahrheit verbergen.

„To read antiphilologically, we would need no longer to presuppose the adequacy of language or literature to history but instead to investigate what linguistic and literary histories constitutively exclude.“

Siraj Ahmed: Archaeology of Babel

Unter den Vorläufern seiner Methode (deren Ziel politisch gesehen letzten Endes gramscianisch ist) nennt Ahmed unter anderem Walter Benjamin und den russischen Linguisten Valentin Vološinov (1895–1936). Vološinov gehörte zum Bachtin-Kreis und ist im Westen durch sein Buch Marxismus und die Sprachphilosophie (1936) sowie durch die Vermittlung Roman Jakobsons bekannt geworden. Er gehörte zum weiteren Kreis der osteuropäischen Literaturtheorie, mit dem sich die zweite uns hier interessierende Studie, Galin Tihanovs Buch The Birth and Death of Literary Theory. Regimes of Relevance in Russia and Beyond, befasst.

2. Die Geburt der Literaturtheorie im Russischen Formalismus

Anders als Ahmed stellt Tihanov die antiphilologische bzw. nichtphilologische Methode der osteuropäischen Literaturtheorie nicht ins Zentrum seines Buches. Die Geschichte, die er erzählt, ist eher die einer Emanzipation der Literaturtheorie von Ästhetik und Philosophie. Doch auch die Emanzipation von der Philologie ist für die Literaturtheorie wichtig. Zu ihrer Spezifik gehöre laut Tihanov das Bestreben, die Literatur von der (National-)Sprache zu entkoppeln.

Galin Tihanov: The Birth and Death of Literary Theory (2019)

Tihanovs Anliegen ist es, die Literaturtheorie historisch als ein von Philosophie und Ästhetik unabhängiges Theoriefeld zu bestimmen. Er unterscheidet zwischen den methodischen Reflexionen über die Literatur in der abendländischen Tradition „seit Plato“ und der ‚eigentlichen‘ Literaturtheorie. Diese sei ein Teil des „Relevanzregimes“ der Literaturautonomie (die vorherrschende Art der Aneignung von Literatur in der Gesellschaft in einer bestimmten Zeit, so benannt in Anlehnung an das ‚Wahrheitsregime‘ Foucaults). Anders jedoch als die romantische Literaturautonomie (die ebenfalls zum Relevanzregime der Literaturautonomie gehört), konzipierte die ‚eigentliche‘ Literaturtheorie die Autonomie der Literatur nicht über die Autonomie des Künstlers, sondern über die des literarischen Diskurses selbst.

Eine so definierte Literaturtheorie beginne mit dem russischen Formalismus und ende mit der Abwendung Barthes’ und Todorovs von der Literaturtheorie und dem Tod Lotmans, also in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Ihr Ende sei durch die Veränderung des „Relevanzregimes“ bedingt: Nach dem Verlust ihrer Autonomie habe sich die Literatur der Markt- und Unterhaltungslogik untergeordnet.

Der Emanzipationsprozess der Literaturtheorie – das heißt ihre Abgrenzung gegen Ästhetik und Philologie – wird durch ihre Öffnung zur Kulturtheorie begleitet. Das zeigt Tihanov sowohl an der inneren Evolution des Formalismus als auch am Beispiel anderer sowjetischer bzw. osteuropäischer literaturwissenschaftlicher Theorieschulen (Bachtin- und Marr-Kreise). Innerhalb des Formalismus gaben Tomaschewski, Eichenbaum und Jakobson die Idee der vollständigen Autonomie literarischer Formen zugunsten eines differenzierteren Teilautonomiemodells auf. Sie verstanden Literatur als eine teilautonome „Reihe“ (Tihanov übersetzt sie als Serien), also als ein System, das mit anderen Reihen bzw. Systemen (Politik, Wirtschaft, Kunst etc.) im wechselseitigen Austausch steht. Diese innerformalistische Entwicklung betrachtet Tihanov als Konzession gegenüber der marxistischen Literaturwissenschaft, weist aber zurecht darauf hin, dass der Widerspruch zwischen der Vorstellung einer vollständig autonomen Literatur und einer Öffnung hin zur Kulturtheorie im Formalismus von Anfang an präsent gewesen ist. Literaturtheorie ist – und zwar bereits bei Šklovskij, dem radikalsten Verfechter der formalistischen Literaturautonomie – schon immer eine Literatur- und Kulturtheorie bzw. Literatur- und Kulturwissenschaft gewesen, die sich als eine Alternative zu Ästhetik und Philologie versteht.

Die eigentliche Wende von der Literaturtheorie zur Kulturtheorie geschieht laut Tihanov nicht in den Debatten im und um den Formalismus, sondern in den 1930er Jahren bei Michail Bachtin (1895–1975) und Nikolai Marr (1865–1934) und im Umfeld beider Denker. In beiden Fällen wird am philologischen Verständnis der Sprache als homogener Nationalsprache implizit (Bachtin) und explizit (Marr) Kritik geäußert.

Am Beispiel Bachtins sieht Tihanov die Öffnung zur Kulturtheorie – erstens – im Übergang vom früheren Konzept der Polyphonie (in der ersten Fassung des Dostojewski-Buches) zum späteren der Heteroglossie. Während für ersteres der moralische Horizont und die Subjektivität des Künstlers immer noch zentral waren, versteht die Heteroglossie die Sprache (der Literatur) nicht mehr subjektiv oder holistisch, sondern intersubjektiv bzw. kollektiv, zusammengestellt aus unterschiedlichen Soziolekten, Diskursen usw. Zweitens löse sich Bachtin von einem rein sprachlichen bzw. philologischen Verständnis des Dialogs und erweitere den Begriff auf das Wechselspiel unterschiedlicher kultureller Formen. So öffne Bachtin einerseits die Literaturtheorie zur Kulturtheorie, andererseits erweitere er das Verständnis der Sprache von einem rein linguistischen bzw. philologischen zu einem kulturtheoretischen. Die Sprache, zu der sich Bachtin hinwendet, ist nicht die homogene Sprache der zeitgenössischen Linguistik, sondern wird bei ihm als ein offenes Verhandlungsfeld heterogener Kräfte verstanden. Dieses kulturtheoretische Verständnis der Sprache teile Bachtin mit Nikolai Marrs Methode der semantischen Paläontologie, die Tihanov in einem weiteren Kapitel behandelt.

3. Nikolai Marrs kulturwissenschaftliche Linguistik

Marr bildet insofern eine Schnittstelle von Archaeology of Babel und The Birth and Death of Literary Theory, als die explizite Philologiekritik bei Ahmed und die weniger explizite bei Tihanov zugleich eine Kritik des philologischen bzw. linguistischen Verständnisses der Sprache darstellen. Das Verhältnis von Literatur und Sprache spielt für beide Bücher eine zentrale Rolle, denn diese Frage ist für das methodische Selbstverständnis von Philologie und Literaturwissenschaft entscheidend. Während die philologische Literaturwissenschaft sowie die aus dieser Tradition kommende Komparatistik an Nationalsprachen (bzw. an Sprachen generell) gebunden bleibt, operiert die nichtphilologische Literaturwissenschaft mit einem Literaturbegriff, der nicht an Nationalsprachen, sondern an eine übergreifende Idee von Sprache, gegebenenfalls aber auch gar nicht mehr an Sprachen gebunden ist.

Bei Ahmed wird Marr nicht erwähnt, obwohl gerade Marr jene Prämissen der Philologie epistemologisch und politisch angegriffen hat, die Ahmed in seinem Buch kritisiert. Für Tihanov wiederum gehört Marr neben Bachtin zwar zur kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Literaturtheorie, doch seine Protagonist*innen sind eher Olga Freidenberg (1890-1955) und Izrail Frank-Kamenetski (1890-1937), die beide Marrs Sprachtheorie auf die Literaturwissenschaft angewendet haben.

Anders als die Formalisten oder der Bachtin-Kreis wurde Marr in Westeuropa kaum rezipiert. Daher muss ich wenigstens kursorisch auf seine kulturwissenschaftliche Sprachtheorie eingehen, bevor ich zum philologischen vs. literatur- und kulturtheoretischen Weltliteraturbegriff komme.

Nikolai Marr im Jahr 1905
© wikimedia commons

Marr haftet der Ruf des antiwissenschaftlichen Nomenklatur-Akademikers an. Seine Sprachtheorie, die seit den 1930er Jahren offizielle Sprachtheorie in der Sowjetunion war, wurde 1950 von Stalin persönlich im Pravda-Artikel „Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft“ als unwissenschaftlich und unmarxistisch denunziert. Auch seine spätere Rezeption ist zurückhaltend, um nicht zu sagen ablehnend. Autoren wie Alpatov (1991), Slezkin (1996) oder Dobrenko (2020) sehen in den Forschungen Marrs nicht viel mehr als eine wissenschaftliche Hochstapelei. Vjačeslav Ivanov (1976) betrachtete Marr deutlich differenzierter und erkannte ihn als einen der Vorläufer der Semiotik an. Darüber hinaus rekonstruierte er Marrs Verbindung zur künstlerischen Avantgarde, etwa seine Rezeption in der Filmtheorie Eisensteins (Ivanov 1976, Strätling 2017, Vogman 2021) oder bei Bachtin und seinem Kreis (Tihanov 2019). Trotz des gegenwärtig verstärkten Interesses an Marrs Theorie und seiner Rezeption in unterschiedlichen Bereichen ist seine Rolle in der Geschichte der Kulturwissenschaften noch kaum gewürdigt worden.

Die historisch-vergleichende Methode der zeitgenössischen Sprachwissenschaft reichte Marr nicht aus. Er kritisierte sie dafür, dass sie die lebendigen, nichtverschrifteten Sprachen zugunsten der toten Schriftsprachen außen vor lasse. Zudem ging die historisch-vergleichende (mit Ahmed: philologische) Methode von der historischen Stabilität der Sprachen und Sprachfamilien aus, die jeweils aus einer nicht entdeckten, gemeinsamen Ursprache stammen sollten. So wurden die Sprachen zwar nicht mehr als göttlichen Ursprungs, immerhin aber als natürlichen Ursprungs gedacht – damit war die Frage nach der Entstehung der Sprache (als einer Kulturtechnik) gleichsam verdeckt und aus der Forschung ausgeklammert. 

Dagegen ging Marr davon aus, dass die Sprache weder einen göttlichen noch einen natürlichen Ursprung habe, sondern eine Kulturtechnik sei, die Menschen auf einer bestimmten Stufe der Evolution (in der frühen Steinzeit) genauso wie andere Werkzeuge entwickelt haben. Die erste Sprache der Menschen war demnach eine Gebärden- bzw. eine Handsprache. Die Semantik der ersten Gebärdensprache übertrug sich auf die Lautsprache, die zunächst für den magischen Gebrauch bestimmt war, später jedoch auch zu kommunikativen Zwecken genutzt wurde. (Das Interesse für die Gebärdensprache als einer archaischen Sprache verband Marr mit dem Kunst- und Kulturwissenschaftler Abi Warburg und dem Ethnologen Ernesto De Martino, aber auch mit dem Filmregisseur Sergei Eisenstein). Aus diesen undifferenzierten Clustern differenzierten sich morphologische und später syntaktische Strukturen, die es anfangs noch nicht gab: zunächst Nomen, dann Pronomen und Numeralien und am Ende die Verben. Die nationalen Sprachen bzw. Sprachfamilien seien demnach als eine wesentlich spätere Evolutionsstufe der Sprachentwicklung zu betrachten.

Linguistische Nachweise seiner Theorie konnte Marr nicht anführen. Seine Lehre von vier inhaltlich-formellen Clustern (A,B,C,D), aus deren Kreuzung und späteren Differenzierung alle Sprachen der Welt zurückgeführt werden könnten und deren Spuren er in allen Wörtern wiederzufinden glaubte, wurde bereits zu seinen Lebzeiten kritisiert. Dennoch hatte sie Auswirkungen auf das Verständnis der Sprache. Indem er die Sprache als kulturelles Konstrukt betrachtete, wurde sie für Marr zugleich auch zu einem Gegenstand der Kulturwissenschaft, der nicht getrennt von anderen Disziplinen (Ethnologie, Archäologie, Literaturwissenschaft etc.) untersucht werden könne. Er legte die historischen Schichten der Sprache offen (ähnlich wie Ferdinand de Saussure) und machte zudem auf ihre sozialen Dimensionen aufmerksam. Die historische Semantik (die er semantische Paläontologie nannte) wurde sowohl von Bachtin wie auch später von der semiotischen kulturwissenschaftlichen Schule in der Sowjetunion aufgegriffen. Anders als in der Philologie erschien Sprache hier nicht als homogen, sondern als ein Feld der historischen und sozialen Auseinandersetzungen, von denen sie, auch wenn sie nicht verschriftlicht ist, Zeugnis ablegt.

Wenn die Sprache – so Marrs Überlegung – eine Kulturtechnik ist, dann ist sie, unabhängig von den Unterschieden zwischen den Nationalsprachen, schon immer eine Weltsprache und somit eine offene Form, die sich zwar lokal manifestiert, aber Gegenstand einer kulturellen Arbeit auf der ganzen Welt ist. Konsequenterweise ging Marr davon aus, dass die Sprachevolution perspektivisch zur Erarbeitung einer gemeinsamen Weltsprache führe, die jedoch keine der imperialen Sprachen sein durfte, sondern eine Sprache, die auf Grundlage einer alle Sprachen der Welt berücksichtigenden wissenschaftlichen Methode zu schaffen war.

4. Weltliteratur, kulturtheoretisch

Im Epilog seines Buchs, der „A Fast-Forward to ,World Literature‘“ überschrieben ist, unternimmt Galin Tihanov einen überzeugenden Versuch, das aus der osteuropäischen Literatur- und Kulturtheorie resultierende Weltliteraturverständnis zu rekonstruieren. Diese Weltliteratur sei nicht philologisch und nicht eurozentrisch (selbst wenn die Autoren, mit denen sich etwa Bachtin oder die Formalisten beschäftigen, zum Kern des Kanons der europäischen Hochliteratur gehörten). Bachtin interessiere sich primär für die „minoritären Diskurse“, für „anonyme verbale Massen“, Reste der „präeuropäischen Kultur“. Auch Marr (und sein Kreis) nehme vorgeschichtliche Schichten der Sprache und vorliterarische Diskurse in den Blick. Šklovskijs bisher übersehene Rolle in den Praktiken der Weltliteratur sieht Tihanov zurecht weniger in seiner Beteiligung am humanistischen und emanzipatorischen Weltliteraturprojekt Gorkis als in der theoretischen Frage des Verhältnisses von Sprache und Literarizität, die auch heute die Debatten um die Weltliteratur prägt.

Obwohl die Formalisten darin übereinstimmten, dass die Literatur erst über Literarizität zur Literatur werde, stritten sie darüber, was diese Literarizität ausmacht. Während Jakobson die Literarizität im spezifischen Diskurs (poetische Sprache vs. Alltagssprache) suchte, wollten Šklovskij, Eichenbaum und Tynjanov, sie „in den Ebenen oberhalb bzw. unterhalb der Sprache“ finden.

Die These Tihanovs, dass die osteuropäische Literatur- und Kulturtheorie sich von der Philologie unterschied und eine spezifische Auffassung von Weltliteratur hatte, ist meines Erachtens einleuchtend und korrekt, doch er zieht daraus weniger radikale Schlüsse, als es naheliegend wäre. Tihanov leitet die Diskussion über die formalistische Weltliteratur hin zur Debatte über Originalsprache und Übersetzung, die aus meiner Sicht für die Frage des Verhältnisses zwischen Sprache und Literarizität eher sekundär ist. Denn damit würde der Verdienst der Formalisten darauf reduziert, das Lesen von Literatur in Übersetzung legitimiert zu haben und Vorläufer der Weltliteratur in Übersetzung gewesen zu sein. Zentral für die Neuausrichtung des Weltliteraturbegriffs im Umkreis der Formalisten scheint mir vielmehr ein neues Verständnis der Form zu sein.

Trotz des Streits um die Form distanzierten sich sowohl Formalisten als auch Bachtin und Marr (und deren Umfeld) vom „fertigen, fixierten und versteinerten Formbegriff“ (Tihanov).  Sie nahmen eine historische Evolution kultureller Formen an, auch wenn sie diese Evolution unterschiedlich erklärten: Formalisten gingen ursprünglich von den immanenten Gesetzen der Formveränderung aus, während etwa Marr und sein Kreis die Veränderung der Form von den Veränderungen der materialen Basis und der dadurch bedingten funktionalen Notwendigkeit neuer Formen abhängig machten. Dem „fertigen und fixierten“, geschlossenen Formbegriff stellten sowohl die Formalisten als auch Bachtin und Marr ein offenes Formverständnis entgegen. (In Ermangelung eines besseren Begriffs spreche ich von der offenen Form nicht etwa im Sinne Wölfflins und seiner Nachfolge, sondern meine damit eine durch keinen Inhalt determinierte Form, die Form ersten Grades, die für alle form-inhaltlichen Verwirklichungen des gegebenen Systems offen ist). Eine offen verstandene Form konnte beliebige Inhalte annehmen, weil sie sich selbst zum Inhalt hatte. Das war keine ursprüngliche Form, die etwa die Linguistik des 19. Jahrhunderts gesucht hatte, sondern eine Form der Formen, ein Formprinzip, eine Form, die zur Bedingung aller Verkörperungen wurde.

Bei Marr ist die Sprache, die er nicht als natürlich, sondern als Kulturform begriff, eine solche offene Form, die sich unterschiedlich materialisieren konnte: als Gebärde- oder Lautsprache, als amorphe, agglutinierende oder flektierende Sprache etc. Für Bachtin war der Roman eine solche offene Form, die sich nicht durch konkrete Verkörperungen des Bildungsromans oder Ritterromans definieren oder normieren ließ, sondern alle diese konkreten Verkörperungen beherbergen konnte, ohne seine Materialität auf einer höheren, allgemeineren Ebene einzubüßen. Für Formalisten wiederum wurde das Sujet (die Form der sinnvollen Wiedergabe einer Erfahrung, durch Handlung der Figuren in Raum und Zeit in unterschiedlichen Medien) zu einer solchen offenen Form: Sie definierten das Sujet nicht durch konkrete Werk- oder Gattungsinhalte, sondern als eine Bedingung für alle möglichen Konkretisierungen des Sujets, vom Volksmärchen bis zu Proust. Diese offenen Formen sind gerade wegen ihrer inhaltlichen Neutralität Weltformen: Sie können zwar von allen verwendet, aber von niemandem appropriiert werden.

Eine der zentralen Einsichten Tihanovs ist, dass für die Weltliteraturforschung die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Literarizität entscheidend ist. Diese Frage wird in der Philologie und in der Literatur- und Kulturwissenschaft implizit oder explizit unterschiedlich beantwortet – eine Divergenz, die, so lassen sich die angestellten Überlegungen resümieren, folgendermaßen gefasst werden kann:

Für die philologische Weltliteratur bleibt Literatur an Nationalsprachen gebunden. Daher kann die Weltliteratur seit Goethe nur als ein Kompositum aus Nationalliteraturen, als ihr Vergleich, Austausch, Kontakt, ihre Bestätigung, Überwindung, Rückkehr usw. gedacht werden. Die Welt der philologischen Weltliteratur sind die vereinten Nationen der Weltliteraturen, die Weltliteratur ist damit zwar eine, aber eine ungleiche (wie etwa Franco Moretti hervorgehoben hat). Eine autonome literarische Welt mit Hauptstadt in Paris kann gegen eine politische Welt (mit Hauptstadt in London) ausgespielt werden, wie in der World Republic of Letters von Pascal Casanova, aber trotzdem bleibt die Einheit der respublica literaria an dem unterschiedlichen Wert der Nationalsprachen und Nationalliteraturen gebunden. Eine radikale Version dieser Viel-National-Sprachigkeit ist die globalisierte Literatur, und damit auch: die Dominanz einer Weltsprache in der Literatur, die aber immer eine globalisierte Nationalsprache bleibt.

Die kulturtheoretisch geöffnete Literaturtheorie hat dieses ‚philologische‘ Verständnis der Weltliteratur in doppelter Hinsicht verändert: Einerseits stellte sie die Homogenität der Nationalsprachen in Frage, andererseits entkoppelte sie die Literatur von den Nationalsprachen. Aus dieser Perspektive wurde und wird Literatur zwar in unterschiedlichen Sprachen verfasst, die Sprache der Literatur birgt aber zahlreiche Sprachen in sich. Sie ist ein Ort der Heteroglossie und der Auseinandersetzung zwischen heterogenen und antagonistischen Gruppen. Außerdem ist die Sprache nur eine Ebene der Literatur neben vielen anderen. Die sprachliche Wiedergabe (mit ihrer sekundären Manifestation im Text) ist weder die einzige noch die privilegierte Verkörperung des Sujets. Durch das Prisma des Sujets gesehen, ist Literatur vielmehr schon immer Weltliteratur, allerdings eine solche, für die die Nationalsprachen nur sekundäre und für die Form unwesentliche Träger sind.


Ahmed, Siraj: Archeology of Babel. The Colonial Foundation of the Humanities, Stanford University Press 2018

Alpatov, Vladimir: Istorija odnogo mifa. Marr i Marrizm. [Geschichte eines Mythos. Marr und Marrismus], Moskau 1991

Dobrenko, Evgeny: Late Stalinizm: Aesthetics of Politics, Yale University Press 2020

Ivanov, Vyacheslav: Istoria Semiotiki v SSSR [Die Geschichte der Semiotik in der UdSSR], Moskau 1976

Slezkin, Yuri: ‘N. Ia. Marr and the National Origins of Soviet Ethnogenesis’, in: Slavic Review, Vol 55 (No. 4) Winter 1996, 826-862

Strätling, Susanne: Hand am Werk. Poetik und Poesis in der russischen Avantgarde, München 2017

Tihanov, Galin: The Birth and Death of Literary Theory. Regimes of Relevance in Russia and Beyond, Stanford University Press 2019

Vogman, Elena:  ‘Language Follows Labour: Nikolai Marr’s Materialist Palaeontology of Speech’, in: Materialism and Politics, hg. v. Bernardo Bianchi, Emilie Filion-Donato, Marlon Miguel u. Ayşe Yuva (= Cultural Inquiry 20), Berlin: ICI Berlin Press 2021, pp. 113–32

Zaal Andronikashvili ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Zur Zeit Arbeitet er am Projekt “Literatur in Georgien. Zwischen kleiner Literatur und Weltliteratur”.

Titlbild: Skulptur am Guggenheim-Museum Bilbao, © wikimedia commons