Ist es tatsächlich Aufgabe der heutigen Kunst, Chaos in die Ordnung zu bringen, wie Theodor Adorno schreibt? Die Frage zur Beziehung von Literatur und Un-Ordnung in der Moderne wurde im Oktober im Rahmen der Nachwuchstagung Schreiben als Un-Ordnen in der Literatur ab dem 20. Jahrhundert an der HU Berlin verhandelt.

Von Raphaela Deffner

Ordnung, welche zuvor als natur- oder gottgegeben galt, entwickelt sich mit dem Beginn der Moderne zu einem zentralen Problem. Statt als unhinterfragte Tatsache wird Ordnung nun als ein Konstrukt identifiziert, als eine (vom Menschen) kreierte Struktur. Dass dieser Paradigmenwechsel ebenso in der Literatur verhandelt wird, hat etwa der Literaturwissenschaftler Lukas Gloor herausgearbeitet. Für die Tagung Schreiben als Un-Ordnen in der Literatur ab dem 20. Jahrhundert bildete dieser Zusammenhang zwischen Un-Ordnen und der Moderne dementsprechend eine zentrale Grundvoraussetzung.

Zwei weitere Annahmen informierten Beiträge und Diskussionen der Tagung. Erstens: die Prozessualität von Ordnung und Unordnung, weswegen den soeben verwendeten Begriffen die Verben ordnen und unordnen vorgezogen werden. Erstere Wörter suggerieren Stabilität und ein fixiertes Endprodukt, wohingegen die Tagung mit letzteren Begriffen stattdessen den aktiven und fluiden Charakter des Un-Ordnens betonte. Dies wurde etwa im Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke (Frankfurt) deutlich, der sein aktuelles Forschungsprojekt zum Rhythmus als „Ordnung in Bewegung“ vorstellte. Unter Einbezug von Michel Foucault, Émile Benveniste und Henri Meschonnic erläuterte Geisenhanslüke, wie der Rhythmus sich (ähnlich der Dekonstruktion) einem transzendentalen Signifikat widersetzt und dadurch etablierte Theorien wie etwa jene der Linguistik oder Psychoanalyse zurückweist. Die Beschäftigung mit Praktiken des Un-Ordnens bedeutet im Folgeschluss also ein kritisches Hinterfragen von etablierten Ordnungen – in der Theorie sowie im realpolitischen Leben. Zweitens: die doppelte Rolle von Literatur, welche einerseits als un-ordnender Text und zweites als zu ordnendes Objekt auftritt. Auf der einen Seite bedient sich Literatur textimmanenter Faktoren, die un-ordnen; auf der anderen Seite handelt es sich bei literarischen Werken selbst um Objekte, die von außertextuellen Kräften geordnet werden – wie etwa Pierre Bourdieus Modell des literarischen Felds veranschaulicht hat.

Keynote-Vortrag (Achim Geisenhanslüke) über die Poetik des Rhythmus © R. Deffner

Im Rahmen von 14 Vorträgen setzten sich dreizehn Promovierende und Master-Studierende sowie Keynote-Sprecher Achim Geisenhanslüke daher während der Nachwuchs-Tagung an der Humboldt-Universität in Berlin vom 8. bis 10. Oktober mit literarischen und literatursoziologischen Dynamiken des Un-Ordnens auseinander. Organisiert wurde die Tagung von Leonie Bartel und Margarethe von Campe, Master-Studentinnen an der HU und Studentische Mitarbeiterinnen am Institut für deutsche Literatur bei Prof. Dr. Stefan Willer. 

Besonders durch die Vielfalt der Analyse-Sujets und -Ansätze stellte sich die Tagung nach unserer gemeinsamen Einschätzung als sehr produktiv heraus. So rangierten die Publikationsjahre der behandelten Werke vom Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Hans Arps Gedicht(sammlung) die wolkenpumpe (Vortrag: Walter Schilling, Lausanne), bis zu 2020, etwa Nele Stuhlers aus Vorlesungen bzw. Essays bestehender Band Keine Ahnung (Vortrag: Leonie Bartel, Berlin). Einbezogene literaturwissenschaftliche Strömungen reichten von der Affekttheorie (Vortrag: Sophie Gesau, Berlin) bis hin zur Ökokritik (Vortrag: Tobias Orfgen, Siegen). Auch wechselten sich textimmanente Analysen, wie etwa von Carl Einsteins Bebuquin (Vortrag: Margarethe von Campe, Berlin), mit literatursoziologischen Untersuchungen ab. Alessa Hamel (Magdeburg) stellte beispielsweise die Buchreihe als Ordnungsprinzip des Buchmarktes vor. Anhand der stark vom Dadaismus geprägten Reihe Die Silbergäule, welche ihre Bände absichtlich arbiträr (also ‚falsch‘) nummerierte sowie dezidiert überhöhte Auflage-Zahlen auf dem Cover angab, führte Hamel hierbei das kreative Spiel mit der Buchreihe und deren selbstreferentielle Dekonstruktion vor.

Zentral war über die Tagung hinweg nicht nur die Frage nach der inhaltlichen Verhandlung des Un-Ordnens, sondern nach der konkreten Umsetzung dieser Verhandlung, sprich: nach der Form der (Un)Ordnung, was fundamental für die Literaturwissenschaft ist. So zeichneten sich die Vorträge während der drei Tage durch ihre besondere Aufmerksamkeit gegenüber den formalen Merkmalen der Texte aus: sei es der dokumentarisch-sachliche Erzählstil, in dem die gewaltvolle Destruktion des Krieges geschildert wird (Vortrag: Julian Fischer, Bochum), das Schreiben über ‚keine Ahnung‘ mittels wissenschaftlicher Textsorten (Vortrag: Leonie Bartel), oder die selbst-dekonstruktive Sprache bei Elfriede Jelinek (Vortrag: Eva Goldbach, Berlin). Un-Ordnen, so die Schlussfolgerung, wird in literarischen Texten nicht nur innerhalb der Handlung und Motivik produziert, sondern ebenso zentral über ihre Form – etwa Typographie, sprachlicher Stil oder Genre – ermöglicht, reflektiert oder verändert.

Schreiben als Un-Ordnen in der Literatur ab dem 20. Jahrhundert
© Margarethe von Campe

In diesem Zuge gewann auch die materielle Dimension von Texten stark an Bedeutung. Die Größe und Schriftart von Texten wurden ebenso ins Auge gefasst wie Cover, Farbschnitte und die visuelle Gestaltung von Kapitelübergängen. Tobias Orfgen, der im Rahmen von Roman Ehrlichs Roman Malé das Un-Ordnen als zentrale Schreibpraxis im Anthropozän untersuchte, verband die achronologische Struktur der Erzählung mit ihren Peritexten, welche ihrerseits alternative und konkurrierende zeitliche Ordnungen anbieten. So erscheinen die Trennblätter in Malé von außen betrachtet wie Sedimentschichten, doch zeigen sie in ihrer Karteneinsicht einen steigenden Meeresspiegel, wohingegen die Piktogramme der verschiedenen Textabschnitte den Mondzyklus abbilden. Inwiefern das Schreiben selbst zum Anwachsen einer materiellen Sammlung, eines Archivs, führen kann, stellten sowohl Johanna Fehrle (Berlin) als auch Felix Latendorf (Berlin) vor. Beide Vorträge hoben den Kipppunkt hervor, an dem akribisches, teils sogar zwanghaftes Ordnen in Unordnung übergeht: Die ausufernde Dokumentation des eigenen Lebens oder des eigenen Werks kreiert letztendlich eine Masse an Dokumenten, die nicht mehr überschaubar ist – einen Exzess an (Un)Ordnung. Passend dazu Thomas Bernhards Zitat aus dem Vortrag von Clemens Braun (Wien): „Ich ordnete, ordnete und schaffte mir dadurch die größte Unordnung“.

Die literarischen Werke rangierten zwischen diversen Textformen, von Essays über Lyrik bis hin zum ‚klassischen‘ Roman. Gibt es aber dennoch Gattungen oder Genres, die sich als ‚prädestiniert‘ für das Un-Ordnen erweisen? Zumindest im Rahmen dieser Tagung geriet die Form der Liste bzw. des Katalogs aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen mehrerer Vorträge in den Vordergrund. Zentral war sie in Max Kaplans (Berlin) Beitrag zu Sinan Antoons The Book of Collateral Damage sowie in meinem eigenen Beitrag (Augsburg) zu Jenny Erpenbecks Dinge, die verschwinden. Auch in Tobias Orfgens Untersuchung von Malé spielte die Liste eine (wenn auch untergeordnete) Rolle. Gemeinsam war unseren Ansätzen, dass die Liste oder der Katalog als eine Form verstanden wird, die vor allem in der Gegenwart omnipräsent ist und zentral zur Kompensation der Fragmentation und Orientierungslosigkeit des (post-)modernen Subjekts dient. Wie in den Beiträgen allerdings herausgearbeitet wurde, wird ebendieses ordnungsstiftende Medium im literarischen Kontext als Praxis des Un-Ordnens eingesetzt und widersetzt sich einer Systematisierung ­– etwa durch die Unterbrechung der Aufzählung oder durch die radikale Verschiedenheit der aufgelisteten Dinge.

Gruppenbild Unordnen Raphaela Deffner
Die Teilnehmenden der Tagung, v. l. n. r.: Felix Latendorf, Sophie Gesau, Leonie Bartel, Alessa Hamel, Eva Goldbach, Julian Fischer, Raphaela Deffner, Max Kaplan, Johanna Fehrle, Margarethe von Campe, Achim Geisenhanslüke, Clemens Braun, Walter Schilling, Tobias Orfgen © R.Deffner

Abgesehen von den gewonnenen Erkenntnissen hinsichtlich der Form, Materialität und Fluidität des Un-Ordnens eröffneten sich zwischen Vorträgen und Diskussionen weitere Überlegungen, die für zukünftige Untersuchungen produktiv sein könnten. So stellten wir uns im Rahmen der Abschlussdiskussion die folgenden Fragen: Wären Begriffe wie Entropie oder System, welche manche Vorträge implizit begleitet haben, aber nicht explizit thematisiert wurden, als explizite Kategorien für eine Analyse fruchtbar? Und zudem: Was würde passieren, wenn man die Untersuchung des Un-Ordnens auf eine Meta-Ebene bringt, also auf die Ordnung von Literaturwissenschaft selbst anwendet? Letzteres würde bedeuten, herauszuarbeiten, welche Ordnungsprinzipien etwa bei Theorien wie Bourdieus literarischem Feld vorausgesetzt werden, um diese kritisch zu beleuchten – und gegebenenfalls zu hinterfragen. Reflektion und Bewusstsein über die eigene literaturwissenschaftliche Methodik ist für die Forschung zentral, wird allerdings oft vernachlässigt und ließe sich mit dem Framework des Un-Ordnens produktiv fassen.

Aber wie verbleibt man nun mit Adornos Zitat? Literatur kann Chaos in die Ordnung bringen, wie Adorno behauptet, oder im Gegensatz dazu versuchen, das außertextuelle Chaos mit einer textuellen Ordnung zu kompensieren, praktiziert aber vor allem eines: das Spiel mit dem Spannungsraum zwischen den Polen des Ordnens und des Unordnens, das sicherlich auch in Zukunft für die Literaturwissenschaft interessant sein wird.


Raphaela Deffner studiert seit 2024 im Master Internationale Literatur an der Universität Augsburg. Zu ihren Schwerpunkten gehören feministische Literatur, Narrative und Affekttheorie.