Mareike Schildmann hat kürzlich ihre Doktorarbeit bei Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl an der HU Berlin abgeschlossen. Darin erforscht sie die Diskursgeschichte der Kindheit um 1900.
Interview von Till Breyer
Worum geht es in Deiner Dissertation?
Ich habe mich in meiner Dissertation mit der Ästhetik des Kindlichen im Werk des Schweizer Schriftstellers Robert Walser beschäftigt und gefragt, inwiefern das, was ich Walsers ‚Poetik der Kindheit‘ nennen würde, zugleich mit einer Wissensgeschichte der Kindheit um 1900 verknüpft ist. Nicht nur dem Autor selbst, sondern auch Walsers literarischen Figuren wurde ja immer wieder von der Literaturkritik – beginnend mit Autoren wie Walter Benjamin oder Robert Musil – eine gewisse spielerische ‚Unreife‘ oder ‚Infantilität‘ attestiert; Walsers Sprache ist als ‚naiv‘ beschrieben worden und hinsichtlich seiner Romane hat sich schon früh die populäre Meinung durchgesetzt, dass es sich um Kontrafakturen des klassischen Entwicklungsromans, also eigentlich um ‚Anti-Entwicklungsromane’ handele. Zugleich ist es tatsächlich so, dass das ‚Kind‘, das ja bis dahin – mit Ausnahme von der sog. Kinderliteratur – eine eher periphere Rolle in der Dichtung gespielt hat, bei Walser plötzlich zum Protagonisten und ‚Helden‘ wird; dezidiert kindliche Textgattungen wie der Schulaufsatz oder Schüler-Tagebücher erscheinen bei ihm als literaturfähig und in vielen seiner Texte – um 1900 ein wirkliches Novum – wird die Erzählperspektive und Sprecherposition des Kindes eingenommen.
Wie würdest Du das Wissen von der Kindheit um 1900 beschreiben?
Glaubt man der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key, so war das 20. Jahrhundert ja angetreten, um das Jahrhundert des Kindes zu werden (so der Titel ihres bahnbrechenden Buchs aus dem Jahr 1900). Angesichts der immensen wissenschaftlichen, institutionellen und politischen Aufmerksamkeit, die das Kind seitdem erfahren hat, kann man dieser Diagnose wohl durchaus zustimmen. Ich habe mir näher angeschaut, welche Konzepte von Kindheit den zeitgenössischen Diskursen und den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich um das Kind drehen – der Reform- und Experimentalpädagogik, der Entwicklungs- und beginnenden Kinderpsychologie, der Psychiatrie und der Psychoanalyse – eigentlich zu Grunde liegen. Dabei ist mir aufgefallen, dass das Kind, ganz ähnlich wie bei Walser, eine merkwürdige diskursive Doppelfunktion einnimmt.
Einerseits gibt es eine geradezu religiöse Verehrung des Kindes: Insbesondere in kulturkritischen Bewegungen wie der Reformpädagogik und der Lebensreform wird unter Rückgriff auf romantische Kindheitsbilder das Kind mit Attributen der Unschuld, Reinheit und einer verloren geglaubten Natürlichkeit assoziiert, die es als Vorbild einer Erneuerung der Gesellschaft, der Kunst und des Lebens erscheinen ließ; in diesem Sinne sind nun auch die Erwachsenen aufgerufen, selbst wieder ‚Kind‘ zu werden. Auf der anderen Seite ist das Interesse für das Kind insbesondere in den Humanwissenschaften und der Psychoanalyse durch die entwicklungspsychologische Prämisse angetrieben, dass Reste der Kindheit dem Individuum eingeschrieben bleiben und als Ursache und Symptom möglicher Anomalien und Pathologien in seinem weiteren Leben nachwirken. Das Kind, insbesondere in der anachronistischen Gestalt des kindlich gebliebenen Erwachsenen, ist also um 1900 immer beides: Ideal und Bedrohung, Symbol der Erneuerung und der Regression, der Verjüngung und der Zurückgebliebenheit.
Also eine Art double bind des Erwachsenwerdens…
Genau! Und im Prinzip ist damit ja eine paradoxe Situation beschrieben, die wir auch heute noch beobachten können: Einerseits gibt es diese gesellschaftliche Sehnsucht und sogar Verpflichtung der Verjüngung, bzw. des Jungbleibens, sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht. Denn Alter(n) wird mit geistiger und kultureller Erstarrung assoziiert. Andererseits wurden in der Moderne unter den Prämissen von Entwicklung, Fortschritt und Karriere institutionell immer engmaschigere Verfahren eingeführt, um den gradlinigen Werdegang des Individuums von der Kindheit bis zum Erwachsenensein zu überprüfen, zu organisieren und zu disziplinieren. Diese experimentelle Kultur der Beobachtung und Normierung kindlicher Entwicklung beginnt zwar schon im 18. und 19. Jahrhundert (siehe Abb. 1), nimmt aber ab 1900 noch viel umfassendere Züge an. Beide Seiten dieses double binds – Verjüngung vs. lineare Entwicklung – lassen sich mit biopolitischen Erwägungen begründen. Und in beiden Fällen sind es Mechanismen der Erziehung und der ‚Selbst’-Erziehung, die exzessiv eingesetzt werden, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, und die schlussendlich dazu führen, dass das Subjekt tatsächlich sein Leben lang das bleibt, was bisher nur dem Kind vorbehalten war: Schüler.

Mit den Schülern kommen wir auch wieder zu Walser zurück: Wie verhält sich Walsers Schreiben zu diesem Kindheitswissen, und zu den Ansprüchen und Normierungen, die damit verbunden sind?
Zunächst war es überhaupt erst mal mein Anliegen zu zeigen, dass Walsers sich zu diesem Kindheitswissen verhält, seine Texte also diskurshistorisch durchaus belastbar sind. Und zwar auch in Abgrenzung zu einer Forschung, die im Anschluss an Walter Benjamins berühmtem Diktum, Walser sei das „Was“ gegenüber dem „Wie“ des Textes völlig gleichgültig, den Autor in eine modernistisch-ästhetizistische Tradition verortet hatte und gerade die Figur des Kindes als Beleg einer solchen romantisch-subversiven Poetik und ihrer selbstreferenziellen Sprachspiele verstanden wissen wollte.
Im Hinblick auf seine Mitarbeit an Publikationsprojekten mit explizit reformpädagogischer und lebensreformerischer Agenda wie Die Welt des Kindes von Willy Storrer (siehe Abb. 2), seine fiktiven Kinder-und Schüler-Tagebücher und Entwürfe experimenteller pädagogischer Reformanstalten wie dem Institut Benjamenta in Jakob von Gunten lässt sich allerdings recht klar Walsers Nähe zu den kulturkritischen Programmen seiner Zeit und der von ihnen reklamierten Allianz von Kind und Künstler aufzeigen. Das gleiche gilt für die Aufnahme von humanwissenschaftlichen Kindheitsdiskursen: Die Figuren in Walsers Romanen sind ständig institutionell verankerten Entwicklungstests, Prüfungsverfahren, Erziehungs- und Normierungsbestrebungen ausgesetzt; ihre vermeintliche Unreife, Dummheit und Infantilität wird als deviant und sozial anstößig inszeniert. Das kulminiert im Räuber-Roman, der erst im Nachlass erschienen ist und oft als Antizipation von Walsers eigener psychiatrischer ‚Karriere‘ verstanden wurde: Der Protagonist wird wegen seiner ‚Kindlichkeit’ hier nicht nur aus der Sozietät ausgestoßen, verfolgt und entmündigt, sondern auch zum Arzt geschickt.

Obwohl Walsers Schreiben das zeitgenössische Kindheitswissen also reflektiert und scheinbar auch affirmiert, delegitimiert er es zugleich. Dies geschieht, indem er zwei Paradigmen in Frage stellt, die sowohl den kulturreformatorischen als auch den humanwissenschaftlichen Diskurs vom Kind wesentlich strukturiert haben. Zum einen wird bei Walser die Identität von Kindheit und Natur ausgestrichen, die seit der sog. „Entdeckung der Kindheit“ (Philippe Ariès) im 18. Jahrhundert ihre Faszination begründete: Walsers Kinder verweisen nicht auf den Ort eines natürlichen, reinen Ursprungs, wie Rousseau ihn geschildert hatte, sondern erscheinen immer schon denaturalisiert, frühreif, zutiefst künstlich. Zum anderen ist damit das Prinzip einer homogenen, kontinuierlichen Entwicklung ausgesetzt, das seit 1800 zum dominanten Modell für das Verständnis biologischer, psychischer und auch historischer Prozesse wurde: Kindheit ist nicht der ‚Anfang’ des Individuums, der überwunden werden muss oder im Zeichen pathologischer Regression wiederkehrt, sondern bezeichnet stattdessen eine merkwürdige Synchronizität und Hybridität, die Walsers Figuren und auch seine Texte widerständig macht gegenüber dem modernen Narrativ der Geschichte.
Statt dem gemeinsamen Projekt der Reformbewegungen und der Humanwissenschaften zu folgen, das ‚Wesen’ des Kindes (und damit auch das des Menschen überhaupt) aufzudecken, lenkt Walser die Aufmerksamkeit auf die Institutionen, die das Kind und seine Entwicklung um 1900 umfassen. Das ist vor allem – eine ganz wichtige Institution bei Walser – die Schule mit ihren Verfahren der Beobachtung, Befragung und Erziehung (Abb. 3). Aber insofern der pädagogische Auftrag, wie ich das gerade geschildert habe, um 1900 zu expandieren beginnt und auch den Erwachsenen miteinschließt, betrifft das auch Einrichtungen wie die Arbeitsstelle (etwa im Gehülfen), das „Amt für Stellenlose“ bzw. die „Schreibstube für Stellenlose“ und anderen Wohlfahrtsinstitutionen (wie in Geschwister Tanner), und nicht zuletzt die Psychiatrie (wie im Räuber). Zugespitzt könnte man also sagen: Walsers Figuren und seine Texte zeigen, dass Kindheit und Kindlichkeit in der Moderne ein Effekt moderner Institutionen und Institutionalisierungstechniken sind. Und das gilt nicht nur für den humanwissenschaftlichen, sondern auch den emanzipatorischen, romantischen Kindheitsdiskurs.

Hat diese Denaturalisierung der Kindheit eine gesellschaftskritische Dimension? Und würdest Du dann Walsers Literatur als Gegendiskurs zum herrschenden Wissen der Wissenschaften beschreiben?
Grundsätzlich finde ich den Begriff des „Gegendiskurs“, wie ihn ja Michel Foucault in seinen frühen Schriften geprägt hat, ein wenig problematisch, weil er suggeriert, es gäbe eine autonome, vom herrschenden Diskurs und seinen Wahrheitsspielen ausgenommenen Ort der Literatur. Walsers Poetik der Kindheit hingegen zeigt ja das genaue Gegenteil. Trotzdem, da hast Du natürlich Recht, gibt es sowohl in diskursiver als auch poetologischer Hinsicht eine kritische Dimension von Walsers Kindheitskonzept – obwohl oder vielleicht auch gerade weil das Kind bei Walser die Attribute der Authentizität und Eigentlichkeit verliert, die es seit Rousseau zum Medium moderner Kultur- und Gesellschaftskritik geradezu prädestiniert hatte.
Erst einmal scheint es bei Walser ganz auffällig, dass jeder offen kritische Gestus fehlt: Walser Figuren legen eine provozierende Affirmation der institutionellen Machtverhältnisse an den Tag, sie lieben es in scheinbar masochistischer Manier, als „Schulbuben“ behandelt, ermahnt, gerügt und bestraft zu werden. Entscheidend ist jedoch, dass sie die moderne Verkettung von Institution, Subjektwerdung und Erziehungsverfahren durch diese permanenten affirmative Gesten nicht nur als solche sichtbar machen, sondern zugleich unterlaufen: Statt sich zu entwickeln, zu bilden, statt einen adressierbaren, mit sich selbst identischen Charakter auszuformen, wie es ja bis in die Mitte des 20. Jahrhundert das Ziel institutioneller Bildungsprogramme war, nutzen sie Verfahren der (Selbst-)Erziehung – besonders wichtig ist in diesem Kontext die Übung –, um eine flexible, formlose, nicht bestimmbare Existenzform einzurichten: „[M]ich endgültig formen möchte ich so spät als nur möglich“ – so lautet ganz paradigmatisch das Motto von Jakob von Gunten.
Diese paradoxe Ausstreichung einer pädagogisch sanktionierten Individualität durch die Aneignung der institutionellen Verfahren ihrer Herstellung zeigt sich zuletzt auch in der Poetik Walsers: Walsers Schreiben ist durchsetzt von didaktischen Techniken des Schreibenlernens – der Nachahmung, der Wiederholung, des Kopierens und Zitierens. Diesen epigonalen Schreibpraktiken entspricht eine Verkleinerung der Form, die in Walsers Romanen erkennbar ist, aber sicherlich am prägnantesten im sogenannten mikrografischen Bleistiftsystem wird – ein komplexes materialästhetisches System des Auf- und Abschreibens, das laut Walser seit Mitte der 1920er dazu diente, nach einem Schreibkrampf wieder „knabenhaft schreiben“ zu lernen. Wenn also die unabschließbare Schreibübung, die letztlich aus der Schule kommt, bei Walser ästhetisch legitimiert und zum Prinzip der eigenen Dichtung gemacht wird, dann schafft er ein Stück weit die klassischen Institutionen der Autorschaft und des Werks ab, die seit 1800 auch die Literatur auf so etwas wie Entwicklung und Individualität verpflichtet hatten. Hier liegt sicherlich auch das Interesse postmoderner TheoretikerInnen an Walser begründet.
Danke für das Gespräch!
Mareike Schildmann arbeitete zuletzt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich und lebt in Berlin.